Die neue Siemens-Vorständin Lisa Davis muss das Energiegeschäft sanieren und Milliardenzukäufe integrieren. Ihr Start verlief unglücklich.
Wie die erste Frau auf dem Mond
Angela Maier von unserem Partner Manager Magazin Online hat die neue Frau im Siemens-Vorstand porträtiert.
Lisa Davis (51) muss sich bisweilen so fremd fühlen wie die erste Frau auf dem Mond. Die Amerikanerin, die ihre Karriere auf Ölplattformen in Alaska und den USA begann, kommt bei ihrem neuen Arbeitgeber Siemens aus dem Staunen nicht heraus.
Zum Beispiel Ende Januar, morgens kurz vor zehn Uhr bei der Hauptversammlung in der Münchener Olympiahalle. Siemens’ neue Vorstandsfrau sah zu, wie sich der riesige Saal mit Tausenden Aktionären füllte. Und befand verwundert: „It’s quite a production” (etwa: „was für ein Aufwand”). In Amerika gehen kaum Anteilseigner zu den Treffen, sie sind schnell wieder vorüber. Siemens-Versammlungen dagegen dauern bis in den Abend.
Den Rat eines Kollegen, aufs Podium ausreichend Lesestoff mitzunehmen, wischte Davis weg: „Ich werde aufmerksam den Fragen zuhören.” Und wollte dann Stunden später irritiert von ihren Managerkollegen wissen: Darf bei euch wirklich jeder reden? Deutsche Aktionärsdemokratie ist mit amerikanischem Pragmatismus eben nur schwer vereinbar.
Und dann diese Mitbestimmung! Klar, mit Betriebsräten und Gewerkschaftern muss man diskutieren. Aber sie als Verhandlungspartner auf Augenhöhe akzeptieren? Damit tue sich die neue Energievorständin schwer, berichtet ein Betriebsrat. „Für die sind wir nur Politik.”
Auch bei Siemens’ gestandenen Kraftwerksmanagern eckt die zierliche Blonde mit ihrem amerikanischen Managementstil gehörig an. Ein erstes Opfer ist zu beklagen: Ende Januar warf der hochgeschätzte Chef der Power-und-Gas-Sparte, Roland Fischer (52), hin. In einem Abschiedsbrief an seine 28000 Mitarbeiter sprach Fischer, ein schwäbischer Ingenieur mit Bärtchen, die Divergenzen mit seiner neuen Chefin unverhüllt an: „Vertrauen und eine andere Art des Denkens sind wichtig, um die kommenden Jahre zu gestalten.”
Die drei Herkules-Aufgaben für Davis
Die Frage ist, wie lange es dauert, bis sich Siemens an Davis gewöhnt hat – oder umgekehrt. Viel Zeit haben die neue Energievorständin und ihr Mentor, Siemens-Chef Joe Kaeser (57), nicht. „Wohin Lisa auch schaut – nichts als Probleme”, stöhnt ein Topmanager.
Zweifellos hat die Amerikanerin den derzeit härtesten Job bei Europas größtem Industriekonzern.
- Das Energiegeschäft, die jahrelang wichtigste Ertragssäule des Konzerns, schwächelt. Vor vier Wochen warnte Kaeser auf einer Investorenkonferenz, wegen der Schwäche der Sparten Energieerzeugung und Energieverteilung erwarte Siemens im zweiten Geschäftsquartal einen moderaten Rückgang des Umsatzes – die Siemens-Aktie verlor an jenem Tag mehr als vier Prozent ihres Werts. Davis muss eine der umfangreichsten Stellenkürzungen seit Jahren orchestrieren und zugleich das Geschäft wieder in Schwung bringen.
- Die 7,6 Milliarden Dollar teure Übernahme des US-Ausrüsters für die Öl- und Gasindustrie, Dresser-Rand, droht angesichts rapide gesunkener Ölpreise zum Fehlschlag zu werden.
- Davis muss Dresser-Rand und die kürzlich ebenfalls erworbene Gasturbinen-Sparte von Rolls-Royce – zwei Unternehmen, die sie nicht kennt – in den hochkomplexen Siemens-Konzern integrieren, den sie auch nicht kennt. Und das von Houston aus, weit weg von Erlangen, dem bisherigen Energiezentrum des Unternehmens.
Davon, dass dies alles gelingt, hängt vieles ab – womöglich sogar das große Ganze: Der Erfolg des Energiegeschäfts wird maßgeblich darüber mitentscheiden, ob Siemens langfristig als integrierter Konzern fortbestehen kann. Oder ob der deutschen Industrie-Ikone ein ähnliches Schicksal blüht wie dem niederländischen Philips-Konzern, der sich immer weiter selbst zerlegt.
Trotz dieser Tragweite verkündet Vorstandschef Kaeser unverdrossen, er setze bei all den Herausforderungen voll auf Lisa Davis. Subtext: Geht etwas schief, ist die Schuldige auch gleich identifiziert.
Davis’ Bestellung sei „der erste Schritt, die Margen und das Geschäft dahin zu bringen, wo sie hingehören”, sagte Kaeser im November auf der Jahrespressekonferenz in Siemens’ historischer Mosaikhalle in Berlin. Und: „Das war auch der wichtigste.” Davis, die neben ihm saß, blickte mit unbewegter Miene auf die Tischplatte vor sich.
Kann sie das alles schaffen? Bei den Verhandlungen über Dresser-Rand blieb Davis außen vor, obwohl sie durchaus hätte mitmischen können. Es war ihr vierter Arbeitstag – der 6. August -, an dem Kaeser die einst unter seinem Vorgänger Peter Löscher abgebrochenen Übernahmegespräche wieder aufnahm. Der Boss habe mit dem Alleingang sicherstellen wollen, dass nichts schiefgeht, heißt es bei Siemens. Zu Löschers Zeiten hatte dessen Energie-Chef Michael Süß jahrelang federführend mit Dresser-Rand verhandelt.
Derlei Begebenheiten bestärken Zweifler, die spotten, Lisa Davis sei womöglich nur Siemens’ nächste Schaufenstervorstandsfrau. Wie einst die glücklose Einkaufschefin Barbara Kux, die Löscher holte und die sich im Konzern nie durchsetzen konnte.
Klagen über Führungsstil – Flexibilität als Kulturschock
Bei Davis’ Ex-Arbeitgeber, dem britisch-niederländischen Ölmulti Shell, ist die Verwunderung über den Karrieresprung der Chemieingenieurin jedenfalls groß. 16 Jahre war Lisa Davis bei Shell und galt dort den wenigsten als Vorstandskandidatin. Ihr letzter Wechsel bei dem Ölriesen war ein Seitwärtsschritt: Zuvor Amerika-Chefin für das Tankstellen- und Schmierstoffgeschäft (Downstream), zog sie Ende 2012 als Chefstrategin für das Downstream-Geschäft nach London. Personalverantwortung trug sie in dieser Funktion so gut wie keine und hätte auf dem Weg zum Vorstand immer noch den Konzernstrategiechef über sich gehabt.
Dennoch sollte man Lisa Davis nicht unterschätzen. „Dazu neigt man leicht, weil sie so brav rüberkommt”, sagt ein Siemens-Manager.
Sie versteht auch deutlich mehr Deutsch, als viele glauben, sie lernte es auf der Highschool. Dass die Amerikanerin stets höflich und angenehm im Umgang ist, empfinden nicht wenige als Fortschritt gegenüber ihrem leicht aufbrausenden Vorgänger Süß. Von dem übernahm Davis, ganz uneitel, Assistenten und Büroleiterin.
Sie sei hochintelligent und stelle die richtigen Fragen, berichten Siemensianer, die mit ihr zusammenarbeiten. Vor Publikum präsentiert sie souverän, ist nie um Antworten verlegen. „Sie schafft es, mit einem Fünf-Punkte-Zettel eine halbe Stunde frei auf der Bühne zu referieren”, staunt ein Kollege.
Da macht sich Shells anerkannte Karriereschule bezahlt. Die meisten Führungskräfte des Ölkonzerns wechseln ihren Job alle zwei, drei Jahre, und das quer durch alle Bereiche. So legte auch Davis, die nach dem Studium erst bei den US-Konzernen Exxon Mobil und Texaco (heute: Chevron ) in Produktion und Entwicklung tätig war, bei Shell eine vielfältige Karriere hin: mit Stationen von der Produktion über Finanzen und Strategie bis zum Vertrieb, von der Förderung von Öl und Gas über dessen Weiterverarbeitung bis zum Verkauf, in den USA wie am Konzernsitz in London.
Sie selbst sagte einmal über ihr Erfolgsrezept: „Meine größten Defizite wurden zu meiner größten Stärke.”
Durchgängige Strategie für Energiegeschäfte noch vermisst
Im hochpolitischen, hierarchiegläubigen Siemens-Konzern kann so viel Flexibilität allerdings einen Kulturschock auslösen. Davis führe unstrukturiert, tönen die Klagen aus dem Unternehmen. Von regelmäßigen Treffen und Besprechungen, wie es ihre Geschäftsverantwortlichen bisher kannten, hält die Amerikanerin nicht allzu viel.
Wie auch, in ihrem ersten halben Jahr war Davis ständig unterwegs, bei Kunden und an Standorten in Dänemark, Mexiko und China, beim Weltwirtschaftsforum in Davos, zu Terminen in Berlin, zu Vorstandssitzungen in München und natürlich an ihrem neuen Schreibtisch im texanischen Houston.
Eigene Impulse, eine durchgängige Strategie für die Energiegeschäfte vermissen manche ihrer Leute noch. Es mangele Davis an Empathie und Tiefgang, moniert ein langjähriger Siemens-Manager. Stattdessen brüskiert sie ihr Topmanagement schon mal, indem sie ohne Rücksicht auf Hierarchien und ohne vorherige Absprache Geschäftsverantwortliche der unteren Ebenen herbeizitiert und befragt.
Bei Divisionschef Fischer muss sich der Frust darüber recht schnell aufgetürmt haben. Der passionierte Techniker, der 2008 im Gefolge von Süß vom Flugzeugtriebwerkhersteller MTU Aero Engines zu Siemens gestoßen war und, so ein Kollege, „jede Schraube an der Gasturbine kennt”, kündigte ohne neuen Job und ohne Abfindung.
Und das sogar schon vergangenen November. Dennoch präsentierte Fischer bei Siemens’ Investorentag in Berlin Anfang Dezember mit den anderen Divisionschefs das Kraftwerksgeschäft, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Der PR-bewusste Konzernherr Kaeser wollte die unerquickliche Kündigung unbedingt bis zur Hauptversammlung Ende Januar geheim halten.
Unglückliches Timing bei Übernahmen
Schließlich läuft derzeit auch in Kaesers Geschäft einiges schief. Der Siemens-Boss hätte für seinen Plan, mit Lisa Davis und Dresser-Rand die Öl- und Gasindustrie in Amerika und darüber hinaus zu erobern, kaum ein unglücklicheres Timing finden können.
Seit der Übernahmevereinbarung im September hat sich der Ölpreis in etwa halbiert, Ölkonzerne wie BP, Chevron oder Davis’ früherer Arbeitgeber Shell kürzen ihre Investitionen um Milliarden. Viele kleinere Öl- und Gasförderer kämpfen gar um ihre Existenz, denn zu Preisen unter 70 Dollar lohnt sich die aufwendige Ölförderung aus Schiefergestein kaum noch. Selbst wenn der Ölpreis 2015 im Schnitt wieder etwa 75 Dollar erreichen sollte, dürften die nordamerikanischen Förderer ihre Ausgaben für Ausrüstungen um 20 Prozent gegenüber 2014 verringern, schätzt die Ratingagentur Moody’s.
Das wäre die optimistische Variante. Denn zu Jahresbeginn stürzte der Ölpreis der Nordsee-Sorte Brent auf gut 45 Dollar je Fass und hat sich zuletzt bei Preisen von um die 60 Dollar stabilisiert. Damit ist der amerikanische Frackingboom erst mal gestoppt. Die Ölbohrungen in den USA gehen nun schon seit November kräftig zurück. Der Siemens-Chef hält dagegen, die Nachfrage nach Öl sei weiterhin hoch und der Preisrückgang daher nur temporär. Andere Experten glauben, die Flaute könne länger anhalten.
Deshalb wollten Analysten in Berlin Anfang Dezember wissen, ob es nicht besser sei, wenn Siemens den ganzen Dresser-Rand-Deal platzen lasse – was Kaeser weit von sich wies. Schon die Diskussionen beim Vorabenddinner waren offenkundig so kontrovers, dass Lisa Davis noch am Morgen danach dünnhäutig reagierte: Es sei ihr ein Vergnügen, die Investorenvertreter am Vorabend getroffen zu haben – „mit Ausnahme derer mit den sehr provokanten Fragen”.
Dresser Rand: Die Wachstumsprognosen sind Makulatur
Fest steht: Selbst wenn Davis Dresser-Rand perfekt integrieren sollte, sind die offensiven Wachstumsprognosen des Dresser-Rand-Managements vorerst Makulatur. Für 2014 musste Dresser-Rand einen Rückgang des Umsatzes um 7 Prozent auf 2,8 Milliarden Dollar vermelden. Beim operativen Gewinn (288 Millionen Dollar) verfehlte Dresser-Rand-Chef Vincent Volpe seine eigene Prognose sogar um fast 100 Millionen Dollar. Das Unternehmen streicht jetzt erstmal gut 600 seiner 7900 Stellen. Erinnerungen an Löschers ähnlich teuren US-Diagnostik-Zukauf Dade Behring werden wach, der drei Jahre später eine Milliardenabschreibung nach sich zog.
Kaeser hält dagegen und verweist auf Dresser-Rands starke installierte Basis an Kompressoren und Turbinen. Mit dem Service dafür erwirtschaften die Amerikaner die Hälfte ihres Umsatzes – auch in Zeiten, in denen die Investitionen schrumpfen. Und er beschwört Synergien, da über Dresser-Rands Vertrieb auch Siemens’ Mittel- und Niederspannungstechnik verkauft werden könne.
Erst schraubte er – während der Ölpreis sank und sank – im Dezember die Prognose für derartige Verbundvorteile um 30 Prozent auf 200 Millionen Euro jährlich ab 2009 nach oben. Dann erklärte er im Januar den Siemens-Aktionären, diese Anhebung sei sicher „nicht das letzte Wort gewesen”. Der Druck auf Davis könnte kaum größer sein.
Zumal Siemens auch im angestammten, lange hochprofitablen Energiegeschäft zusehends der Dampf ausgeht. Jahrelang rühmte sich der Konzern, die größten und effizientesten Gasturbinen der Welt herzustellen. Heute liefert der japanische Konkurrent Mitsubishi bessere Leistungswerte, und dies verspricht auch Erzrivale General Electric (GE) für seine neue Riesenturbine.
In Erlangen geht die Angst um
Der verschärfte Wettbewerb trifft auf eine schrumpfende Nachfrage, vor allem im krisengeplagten Europa. Die Folge sind Preisdruck, Marktanteilsverluste und sinkende Margen. 2014 holte Siemens nur noch 23 Prozent aller weltweiten Aufträge für Gasturbinen herein, zuvor schaffte man jahrelang ein Drittel. GE dagegen baute seinen Weltmarktanteil auf 51 Prozent aus und wird seine Position – so die Kartellbehörden zustimmen – durch den Erwerb der Energietechnik des französischen Alstom-Konzerns weiter stärken.
Alstoms Gasturbinen hätte Kaeser ebenfalls gern gekauft, doch die Franzosen gaben GE den Vorzug. Nun mäkelt er, die Sparte Power und Gas benötige „ein deutlich weitreichenderes Konzept, um zu den früheren Margen zurückzukehren”.
Noch ein Job also für Lisa Davis, obwohl sie nie mit Turbinentechnik zu tun hatte. Schon für dieses Jahr erhöhte Kaeser das Entwicklungsbudget für die Power-und-Gas-Division um 11 Prozent; so soll die Technik schneller verbessert und auf den Markt gebracht werden. Dafür hat Davis zudem Mitte März Willi Meixner (50) zum neuen Chef der Power-und-Gas-Sparte gemacht. Meixner ist Franke und Konzerneigengewächs und soll wohl auch das “Fremdeln” mit der Amerikanerin abmildern.
Denn die Angst in Erlangen, dem Herzen der Siemens-Energietechnik, ist groß. Ohne eine weitere Verlagerung von Ingenieursjobs nach Südkorea wird es kaum gehen. Dass Davis ihren Sitz in Houston hat, wird im Lichte der aktuellen Abbauprogramme noch skeptischer beäugt. Nach Fischers Abgang erwägen auch andere Topmanager den Absprung.
Der Kurs, den Joe Kaeser bei Siemens’ wichtigster Geschäftssäule Energietechnik fährt, ist riskant. Um GEs Öl-und-Gas-Sparte anzugreifen, zahlt er fast jeden Preis. Und heuerte eine Topmanagerin an, die fast Wunderdinge vollbringen müsste, um die Ziele zu erreichen. Auf der Hauptversammlung fand Kaeser einen schönen Vergleich für seine ambitionierte Neuausrichtung: die Mondmission des einstigen US-Präsidenten John F. Kennedy.
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