In der 50. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“ spricht Psychologin und systemische Therapeutin Christina Gallinat über sogenannte repetitive körperbezogenen Verhaltensweisen (engl. “body-focused repetitive behaviors”) – kurz: BFRBs.
Dazu zählen unter anderem Skin Picking – das exzessive Bearbeiten der eigenen Haut durch Quetschen, Kratzen oder Zupfen –, das Ausreißen von Haaren (Trichotillomanie) sowie Nägel- oder Wangenkauen.
Ab wann werden solche Verhaltensweisen pathologisch und vielleicht sogar lebensgefährlich? Wie entwickeln sich solche Muster überhaupt, und welche Lösungsansätze gibt es, um sie zu überwinden? Christina liefert spannende Antworten auf diese und viele weitere Fragen. Reinhören lohnt sich!
Die ganze Podcastfolge hört ihr über einen Klick ins Titelbild oder eingebettet unten im Artikel und natürlich überall dort, wo es Podcasts gibt. Einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Christina Gallinat lest ihr hier.
Liebe Christina, du beschäftigst dich beruflich mit sogenannten BFRBs. Kannst du diesen Begriff für den Einstieg erklären?
„BFRB steht für Body Focused Repetitive Behaviors, also körperbezogene repetitive Verhaltensweisen. Dazu gehören beispielsweise Nägelkauen, Wangen- und Lippenbeißen oder Haareausreißen (Trichotillomanie). Aber auch das sogenannte Skin Picking, also das Bearbeiten der Haut durch Zupfen, Quetschen oder Kratzen, zählt dazu.
Das ist nur eine Auswahl, es gibt noch viele weitere BFRBs. Allerdings gibt es keine einheitliche Meinung darüber, was genau dazugehört und was nicht. Grundsätzlich könnte man sagen: Alles, was sich wiederholt auf den Körper bezieht, fällt tendenziell darunter.”
Handelt es sich bei BFRBs um ein neues Phänomen?
„BFRBs gibt es schon seit Ewigkeiten. Nur hat man dem Thema bisher kaum Beachtung geschenkt. In den USA gibt es deutlich mehr Studien dazu. In Deutschland ist das ein noch sehr unerforschtes Feld. Es ist hauptsächlich der US-amerikanischen Forschung zu verdanken, dass es für Skin Picking und Haareausreißen inzwischen eigene, offiziell anerkannte Diagnosen gibt.”
Ab wann gilt ein Verhalten als pathologisch?
„Das ist schwierig zu definieren, da es keine festen Grenzen gibt. Es gibt keine Regel wie: “Ab einer Stunde täglich ist es pathologisch.” Stattdessen orientiert man sich an drei wesentlichen Kriterien:
Erstens, es tritt wiederholt auf und führt zu körperlichen Schäden – etwa sichtbarer Haarverlust beim Haareausreißen oder Narben und Wunden beim Skin Picking.
Zweitens, es besteht ein Kontrollverlust. Die Person hat wiederholt versucht, das Verhalten zu stoppen, aber es gelingt nicht.
Und drittens, es entsteht emotionaler Stress oder eine Einschränkung im Alltag, Beruf oder sozialen Leben.
Wenn all diese Faktoren zusammenkommen, spricht man von einem pathologischen Verhalten. Dabei ist entscheidend: Leidet die Person selbst darunter? Wenn nur Angehörige das Verhalten stört, die betroffene Person jedoch keinen Leidensdruck empfindet, spricht man nicht unbedingt von einer Pathologie.”
Können Verhaltensweisen wie Skin Picking auch gefährlich werden? Welche körperlichen Folgen sind möglich?
„Stark ausgeprägtes Skin Picking kann zu Wunden und Narben führen, von oberflächlich bis tief. Wenn Betroffene etwa eingewachsene Haare mit Nadeln entfernen, kann das Infektionsrisiken bergen, besonders wenn nicht steril gearbeitet wird. Eine Blutvergiftung ist selten, aber möglich. Chronische Wunden können antibiotische Behandlungen erforderlich machen.
Bei Trichotillomanie gibt es neben entzündeten Haarfollikeln ein weiteres Risiko: Manche Betroffene schlucken Haare. Diese sogenannte Trichophagie kann zu einem Haarball im Magen führen, der schwerwiegende gastrointestinale Probleme verursacht und sogar lebensgefährlich werden kann. Das ist selten, aber wichtig zu wissen, besonders für Behandelnde.”
Wie häufig treten solche Verhaltensweisen auf?
„Leider gibt es dazu noch keine verlässlichen Zahlen. Schätzungen zufolge liegt die Prävalenz bei Trichotillomanie bei 1 – 2 Prozent und bei der Skin-Picking-Störung bei 1,4 – 3 Prozent.
In Deutschland fehlt noch eine repräsentative Studie. Viele Studien haben in der Vergangenheit unterschiedliche Kriterien verwendet, wodurch die Zahlen variieren. Entscheidend ist aber, dass diese Verhaltensweisen nicht selten sind.
Das zeigt sich auch im Vergleich: Schizophrenie betrifft etwa 1 Prozent der Bevölkerung und ist deutlich bekannter. Trichotillomanie existiert als Diagnose seit den 1980er-Jahren, erhält aber kaum Aufmerksamkeit – weder in der Forschung noch in der Öffentlichkeit. Die Skin-Picking-Störung ist erst seit 2013 offiziell anerkannt – erfährt in den letzten Jahren aber allmählich immer mehr Beachtung.”
Sind manche Menschen anfälliger dafür, solche Verhaltensweisen zu entwickeln?
„Man geht davon aus, dass es eine erbliche Komponente gibt. Erste, wenige Zwillingsstudien deuten darauf hin, dass genetische Faktoren sogar stärker ins Gewicht fallen als soziales Lernen. In Familien, in denen Nägelkauen oder ähnliche Verhaltensweisen verbreitet sind, sieht man häufiger auch BFRBs.”
Ähnliche Verhaltensweisen kommen auch in der Tierwelt vor. Ich finde, das zeigt auch deutlich, dass es sich bei BFRBs nicht unbedingt um menschengemachte Probleme handelt.
„Absolut. Es gibt eine biologische Grundlage, wie wir uns über die Haut regulieren können. Dinge wie Berührungen, Umarmungen oder Körperkontakt beeinflussen uns tiefgreifend. Manche Betroffene beschreiben Skin Picking als eine Art, sich selbst „festzuhalten“. Das finde ich einen schönen Ausdruck, der zeigt, dass es eine emotionale und körperliche Bedeutung hat.
Auch Tiere zeigen ähnliches Verhalten. Bei Stress verstärken Hunde, Katzen oder Primaten ihre Fellpflege, oft bis kahle Stellen oder Wunden entstehen. Es scheint ein biologischer Mechanismus zu sein, der kurzfristig hilft, sich zu beruhigen.”
Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
„Man nimmt an, dass mehr Frauen betroffen sind – bei Trichotillomanie und Skin Picking sind es 75 bis 90 Prozent. Aber Männer fallen oft aus dem Raster, weil sie seltener Hilfe suchen und weniger an Studien teilnehmen. Zudem wird Haarausfall bei Männern anders wahrgenommen als bei Frauen, was die Statistik beeinflussen könnte.”
Ist die Pubertät ein häufiger Beginn für Skin Picking?
„Ja, die Pubertät ist oft der Startpunkt – bedingt durch hormonelle Veränderungen und Hautunreinheiten. Hinzu kommt der gesellschaftliche Druck, perfekte Haut haben zu müssen. Es gibt aber auch einen zweiten Gipfel zwischen 30 und 40 Jahren.”
Wie erklärst du dir diesen zweiten Gipfel?
„Hier kann ich nur mutmaßen. Manchmal sind BFRBs bereits in der Kindheit aufgetreten, etwa durch Nägelkauen. Wenn dann Stressphasen kommen, kann das gleiche oder ähnliches Verhalten wieder aktiviert werden, weil der Körper sich daran erinnert, dass es früher funktioniert hat, damit beispielsweise innere Anspannung zu lösen.”
Da sprichst du einen wichtigen Punkt an. Viele stempeln BFRBs als schlechte Angewohnheit ab. Für viele Betroffene hat das Verhalten allerdings eine total wichtige Funktion, oder?
„Betroffene machen sich oft selbst Vorwürfe, dass sie willensschwach, komisch oder eklig seien. Dabei erfüllen BFRBs wichtige Funktionen – wie Spannungsregulation oder Stimulation. Diese Funktionen kann man nicht einfach weglassen, ohne alternative Strategien zu entwickeln. Wenn man in so einem Hochspannungszustand ist, dann braucht jeder Mensch irgendwas, um diese Spannung runterfahren zu können.
Einige Betroffene berichte auch, dass das Verhalten in gewisser Hinsicht ihren Alltag strukturiert. Für manche ist es eine Art Ritual beim Nachhause kommen. Es bietet Ablenkung. Viele lassen den Tag noch mal Revue passieren, währenddessen sie die Haut bearbeiten oder mit den Händen in den Haaren sind.”
Warum können sich denn manche Menschen besser regulieren als andere?
„Das ist eine große Frage, die ich nicht so einfach beantworten kann. Aber es hat sicherlich viel damit zu tun, wie man aufwächst.
Als Kind lernt man von seinen Eltern oder Bezugspersonen, wie man mit Anspannung und Emotionen umgeht. Wenn die Umgebung sicher ist und Eltern vorleben, wie Selbstregulation funktioniert, dann hat ein Kind die Chance, das zu lernen. Aber wenn es keine Unterstützung gibt oder das Kind auf sich allein gestellt ist, kann das die Entwicklung von Selbstregulationsfähigkeiten beeinträchtigen.”
Zählen BFRBs zu selbstverletzendem Verhalten?
„Nein, sie zählen nicht dazu, aber es gibt Überschneidungen, die oft zu Missverständnissen führen. Selbstverletzendes Verhalten hat meist das Ziel, eine starke Anspannung abzubauen, während Skin Picking und Hair Pulling oft auch unbewusst und automatisiert stattfinden. Das ist ein wesentlicher Unterschied.”
Welche Strategien können bei Skin Picking und anderen BFRBs helfen?
„Der wichtigste Punkt vorweg: Es gibt nicht die eine Lösung. Wenn jemand schnelle Heilsversprechen macht, sollte man skeptisch sein. Aber es gibt viele Ansätze, die helfen können.
Der erste Schritt ist Information: Verstehen, warum man das Verhalten zeigt, in welchen Situationen es auftritt und was es einem gibt. Das Wissen hilft, Alternativen zu finden. Es ist auch hilfreich, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.
Für den Alltag gibt es praktische Tipps, wie Stimuluskontrolle. Beobachte, in welchen Situationen das Verhalten auftritt, und verändere diese gezielt. Zum Beispiel: Auf der Couch kann man Hände mit einem Fidgettoy oder durch Häkeln beschäftigen. Am PC kann man dünne Handschuhe tragen, um unbewusstes Berühren zu verhindern. Im Bad kann man den Spiegel abdecken oder das Licht dimmen, um Trigger zu minimieren. Wenn der Drang sehr stark ist, können Techniken wie Hampelmann oder Eiswürfel zur Regulation der Anspannung helfen.
Langfristig ist es wichtig, die großen Themen anzugehen: Selbstfürsorge, Perfektionismus, Emotionsregulation und Trauma. Diese sind oft tief verwurzelt, aber durch Geduld und kontinuierliche Arbeit lassen sich Fortschritte erzielen.”
Du willst mehr über das Thema erfahren?
Mehr Informationen zu BFRBs bekommst du in der 50. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Christina Gallinat spricht unter anderem darüber, auf welche kleinen und große Erfolge betroffene Person achten können, um wertschätzender mit sich umzugehen (Minute 34:31) und wie man als außenstehende Person betroffene Menschen am besten unterstützen kann (Minute 37:42). Reinhören lohnt sich!
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Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!
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