Was macht einen überhaupt spießig und wenn man in diese Schublade rutschen sollte, ist das dann wirklich schlimm?
Hallo Spießbürger!
Wer sind eigentlich diese Spießbürger? Laut Wikipedia werden damit „in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.“
Aha. Doch im Alltag sind wir da schon wesentlich konkreter mit unserer Vorstellung von einem Spießer: Autos, Hobbys oder Reiseziele, sag mir was du machst und ich sag dir, wer du bist. Doch was ist eigentlich so schlimm daran, einen VW Golf Plus zu fahren, einen Schrebergarten zu beackern oder im Urlaub am liebsten an die Ostsee zu fahren – auch wenn man erst Anfang 30 ist? Während die hippen Freunde in Berlin-Prenzlauer Berg einen Parkplatz für ihr Saab 900-Cabriolet suchen, einen halbjährigen Backpacking-Trip durch den SüdostenThailands antreten oder aber die Natur nur vom National-Geographic-Abo kennen?
Die neue Spießigkeit ab 30
Welche Bedürfnisse sind es, die uns nach geregelten Bahnen streben lassen? Und warum lehnen das andere möglicherweise ab? Erst kürzlich war ich Teil einer Unterhaltung, in der eine Bekannte aufgrund von besagten drei Faktoren als spießig abgestempelt wurde: Auto, Hobby, Wohnbezirk. Oder um genauer zu sein: VW, Gärtnern, Berlin-Steglitz.
Einige wenige Fakten, die bereits ausreichten, um die Schublade mit der Aufschrift „spießig“ aufzumachen und sie kurzerhand dort hineinzustecken. Und dort mit Argumenten wieder herauskommen? Nein, dieser Drops war erst einmal gelutscht.
Welche Rolle spielt unser Wertesystem?
Sind wir empathisch genug, erkennen wir, dass jeder Mensch sein eigenes Wertesystem hat, nach dem er andere Menschen beurteilt, leider manchmal auch verurteilt. Dieses Wertesystem basiert sehr stark auf unserer Sozialisierung. Denn auch hier gilt: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.“
Doch das Be- oder Verurteilen anderer hat auch etwas mit unserem Alter zu tun. In der Pubertät ist Ablehnung eine Art Abgrenzung, zum Beispiel von den Eltern. So wollen wir uns austesten, um unsere eigene Linie zu finden. Und während wir in dieser Zeit über die Karottenhosen unserer Eltern gelacht haben, tragen wir sie heute selbst. Aber machen wir das, weil sie „hip” sind? Oder weil wir uns nicht mehr auf Teufel komm raus abgrenzen müssen?
Fest steht: Je älter wir sind, je mehr Erfahrungen wir gemacht haben, je weiter unser Horizont wird, desto offener gehen wir mit anderen um.
Schubladen geben Sicherheit
Aber das gelingt nicht immer und auch nicht allen. Schubladen-Denker können nicht raus aus ihrer Haut. Oder wollen es nicht. Sie werten, sobald sie merken, dass sie an die Grenze eines unbekannten Terrains stoßen. Denn dort beginnt die Unsicherheit.
Das Einordnen in Schubladen gibt Struktur und es entlastet. Ist etwas wegsortiert, müssen wir uns darüber keine Gedanken mehr machen. Wer nie über seinen Tellerrand hinausblickt, muss sich auch nicht mit dem auseinandersetzen, was dahinter liegt.
Verurteilst du noch oder lebst du schon?
Mit 16 Jahren denkt man in der Regel nur an morgen, mit 25 vielleicht daran, ob man lieber eine feste Partnerschaft oder eine kurzweilige Affäre hätte. Mit 30 Jahren denken wir so langsam an Kinder und damit an die nächsten 20 Jahre. Je älter wir werden, desto länger werden die zu planenden Lebensabschnitte. Wir sehnen uns nach Ruhe und nach einem gefestigten Leben. Und dann, dann kommt ganz schnell der „Spießer-Stempel“. Oder sind vielleicht diejenigen die größeren Spießbürger, die andere sofort beurteilen?
Ob wir „spießig“ sind oder es irgendwann werden, bleibt letztlich offen – weil „Spießigkeit“ nicht nur grundsätzlich eine Definitionssache ist, sondern auch mit dem eigenen Wertesystem zu tun hat, das durch den Umgang mit vielen verschiedenen Themen und Menschen im Laufe des Lebens immer wieder beeinflusst wird.
Doch ganz gleich, wo man am Ende steht: Es schadet nicht, den Mut aufzubringen, häufiger neue Erfahrungen zu machen, seinen Horizont zu erweitern und öfter mal „out of the box“ zu denken. Und das ganz gleich, ob man lieber Golf oder Saab fährt.
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