Claudia Weingärtner hat Angst. Nicht um sich, sondern vor allem um ihre Familie, ihre beiden Kinder. Auf ihrem Blog „Zwillimuddi“ hat sie aufgeschrieben, welche 55 Gedanken ihr als Mutter beim Pariser Terrorakt durch den Kopf gehen.
Was ich als Mutter über den Terror denke
Liebe Elli, lieber Theo,
ursprünglich wollte ich in diesem Brief vom vergangenen Wochenende erzählen, von unserem Kurztrip nach Usedom, mit eurem tollen Opa und eurer ebenso tollen Stief-Oma. Diese Woche aber kriege ich keinen Friedefreudeeierkuchen-Text hin. Denn während wir uns am Freitagabend in strahlendweißen Hotellaken ins Land der Träume kuschelten, geschah gut 1200 Kilometer entfernt von uns der absolute Albtraum: Terroristen töteten in Paris 129 unschuldige Menschen – ein Anschlag, der eines Tages vermutlich in euren Geschichtsbüchern als eines der schlimmsten Attentate neben dem 11. September 2001 genannt werden wird.
Am Samstag schielten euer Papa und ich noch öfter auf unsere Handys als sonst. Zwischen Strandspaziergang und Spa-Besuch sogen wir die Nachrichten auf, ebenso geschockt wie die anderen Urlauber um uns herum. In der Nacht zum Sonntag stillte ich dich, Theo, auf der Couch unseres Hotelzimmers, und las dabei auf dem iPad die Details in den Sonntagszeitungen nach. Während ich dir dein Köpfchen streichelte, kamen mir die Tränen.
Wisst Ihr: In der Zeit, bevor es euch gab, habe ich als Nachrichtenreporterin selbst über viele schlimme Dinge berichtet. Paris aber ging mir näher als alles andere zuvor – und das nicht nur wegen des unfassbar grauenvollen Ausmaßes oder der geographischen Nähe. Sondern weil ich einen Anschlag wie diesen erstmals aus dem Mama-Blickwinkel betrachtete.
Im Laufe der Woche, und einmal mehr nach dem Terroralarm in Hannover am Dienstag, haben Tausende Menschen Kommentare, Leitartikel, Blogeinträge zur aktuellen Lage verfasst. Trotzdem will ich euch heute einen Teil meiner Gedanken aufschreiben: damit euch später eben nicht nur die Fakten aus dem Geschichtsbuch bleiben.
Sorgen um ihre Zwillinge: In welcher Welt sollen sie bloß aufwachsen? Quelle: Zwillimuddi
Meine 55 Gedanken zum Terror – aus Muttersicht:
1. Alle sagen: Wir dürfen keine Angst haben, weil die Terroristen dann ihr Ziel erreichen. Aber wer erklärt uns, wie das geht?
2. Ich jedenfalls HABE Angst: um euch, um uns, um unsere Liebsten, um das Land, in dem wir leben, um die Welt.
3. Was ist das für eine Welt, in der ihr aufwachst?
4. Weltkrieg, dieses Wort verband ich bisher mit Erzählungen eurer Ur-Großeltern. Sie waren Kinder des zweiten Weltkriegs. Werdet ihr Kinder des dritten sein?
5. Glaube ich vielen Politikern oder auch Papst Franziskus, ist die Antwort: ja.
6. Fünf Punkte, und schon drei Mal „ich“: Ist es egoistisch, in solch einer Lage an das eigene Leben, an die eigenen Kinder zu denken?
7. Ich könnte heulen, wenn ich mich in die Lage der Mütter versetze, die gerade ihre Tochter oder ihren Sohn bei den Anschlägen verloren haben.
8. Ich will mir das nicht vorstellen, kann es nicht.
9. Wie überleben diese Frauen diese Tage?
10. Wie überleben sie den Rest ihres Lebens?
11. Auch die Selbstmord-Attentäter haben Mütter.
12. Auch diese Frauen haben ihre Kinder verloren.
13. Darf man, darf ich, will ich Mitleid für sie empfinden?
14. Sind sie Sklavinnen ihrer Männer, mussten sie hilflos dabei zusehen, wie ihre Kinder indoktriniert wurden?
15. Oder feiern sie ihre Söhne selbst als Märtyrer?
16. Haben sie eine Wahl?
17. Mir wird schlecht, wenn ich lese, wie IS-Terrorchef Abu Bakr al-Baghdadi mit Menschen (ja: auch Frauen und Kindern) umgeht, die sich ihm widersetzen: Er enthauptet sie, lässt sie lebendig verbrennen oder vergraben, von Panzern überrollen oder in Käfigen ertrinken.
18. Mir wird ebenfalls schlecht, wenn ich höre, wie nah all das auf einmal ist:
19. Diese 420 „Gefährder“, potenzielle Terroristen, die in Deutschland leben und NICHT pausenlos überwacht werden können: Wie viele von ihnen sind wohl in Berlin?
20. Vielleicht schlendern sie an den Spielplätzen vorbei, auf denen ich nachtmittags mit Euch im Sand buddele.
21. Ich mag mit euch gerade in keine U-Bahn steigen.
22. Ich weiß, dass das vermutlich Quatsch ist. Ich lasse es trotzdem sein.
23. Dabei will ich gar nicht darüber nachdenken, wo überall Gefahren lauern könnten.
24. Ich will auch nicht darüber nachdenken, was genau unser Bundesinnenminister mit seiner verunsichernden Ich-will-nicht-verunsichern-Erklärung gemeint haben könnte.
25. Die Kommentare und Aufforderungen, dass wir weiterleben müssen wie bisher, machen mir als Mama Mut.
26. Ich will keine Angst haben. Ich will stark sein. Für euch.
27. Und mir einmal mehr bewusst machen, wie gut es uns geht, wie gut es euch geht. So abgedroschen das klingt und so oft ich es schon erwähnte.
28. Dieses Wochenende an der Ostsee, einfach so. Luxus!
29. Und zwischendurch Gedanken wie diesen: Wo in Deutschland ist man eigentlich am sichersten? Auf einer Insel wie Usedom?
30. Vielleicht: nicht. Hannover, wo im Übrigen einige unserer Lieblingsverwandten wohnen, hatte schließlich bis vorgestern auch einen imaginären „Sicher“-Stempel in meinem Kopf.
Apropos Kopf:
31. Ich bin froh, dass sich die Welt in Euren schönen Köpfen gerade um Bauernhoftiere, Bauklötze und Bobbycars dreht. Wie gut, dass ihr all das da draußen noch nicht mitbekommt. Beneidenswert.
32. Wie würde ich Euch die Nachrichten erklären, wenn Ihr älter wärt? Diese Tipps, die man dazu gerade in jeder zweiten Zeitung findet, sind doch nichts als Theorie.
33. Denn wie erklärt man Kindern, dass man inzwischen die Meinungen derer teilt, die davon überzeugt sind, dass der Terror sich nur militärisch besiegen lässt – auch wenn unsere Bomben wieder Söhne von Müttern töten?
34. Und das, wo im unserem Kiez doch selbst Plastikwasserpistolen verpönt und Zeichen schlechter Erziehung sind.
35. Beim Tippen dieser Zeilen habe ich einen Kloß im Hals. Vermutlich ist er seit Freitag schon da und wird mir bloß von Tag zu Tag bewusster.
36. Dabei habe ich gerade die entspannteste Woche seit eurer Geburt, eigentlich (mehr dazu im nächsten Brief).
37. In der Nacht zum Sonntag, nach der Zeitungslektüre, habe ich übrigens das erste Mal seit Ewigkeiten gebetet.
38. Vielleicht macht es in Zeiten wie diesen Sinn, wieder in die Kirche einzutreten – und Euch eine Religion, die unseren Wertvorstellungen entspricht, mit auf den Weg zu geben.
39. Oder entscheidet ihr das doch lieber später selbst?
40. Mir wäre es am liebsten, wenn ihr das glaubt, was ich glaube.
41. Wie sehr darf ich euch als Mutter beeinflussen, lenken?
42. Wie verhindere ich, dass du eines Tages zum Militär gehst, Theo?
43. Wie verhindere ich, dass du eines Tages zum Militär gehst, Elli?
44. Wie erziehe ich euch zu guten Menschen?
45. Ich wünsche mir, dass ihr stark seid, selbstbewusst, reflektiert, empathisch.
46. Ich wünsche mir, dass ihr ohne Angst leben könnt.
47. Dass ihr euch sicher fühlt.
48. Und es seid!
49. Wie kann ich euch beschützen?
50. Wie kann ich euch in Momenten beschützen, in denen ich nicht bei euch bin?
51. Haben Frauen eigentlich immer mehr Angst als Männer?
52. Haben Mütter mehr Angst als Väter?
53. Kann sein: Euer Papa ist wie immer der Fels in meiner Brandung. Gestern Mittag beim gemeinsamen Lunch. „Angst ist kein guter Begleiter“, sagte er, strich mir liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und schaffte es mit ruhiger Stimme und plausiblen Argumenten, mir meine Bedenken (zumindest kurzfristig) zu nehmen.
54. Er hat Recht. Ich will unbeschwert weiter leben, dieses schönste Leben in unserem geliebten Berlin.
55. Ein kleines bisschen Angst bleibt trotzdem. Um euch, um uns, um unsere Liebsten, um das Land, in dem wir leben, um die Welt.
Was kommt als nächstes? Wie wird sich alles entwickeln? Was kann ich tun? Und nochmal: Was ist das für eine Welt, in der ihr aufwachst und aufwachsen werdet?
Wie auf so viele andere Fragen in diesem Brief habe ich darauf keine Antwort – heute jedenfalls nicht.
In Liebe,
Eure Zwillimuddi
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