Foto: Caroline Prange

Ursula Heinzelmann: „Essen ist Gemeinschaft“

Ursula Heinzelmann hat zweieinhalb Jahre zu deutscher Esskultur geforscht. Ein Gespräch über Kochen mit Verstand und Essen als Gemeinschaft.

 

Käse, Wein, Journalismus

Ursula Heinzelmann arbeitet mit all ihren Sinnen: Ihre Beobachtungen und Ideen rund ums Essen und Trinken hält sie nicht nur in verschiedenen Texten für Medien fest, sie schreibt auch Bücher, die weit über das klassische Kochbuch hinausgehen. In kleinen Runden lädt sie außerdem ein, über ihre Herzensthemen Käse und Wein zu sprechen. Beim „stadt land food“-Festival Anfang Oktober in Berlin, das sich mit „gutem Essen und guter Landwirtschaft“ beschäftigt, lädt Ursula ein in die Käsewerkstatt, wo Besucher in einer kleinen Kreuzberger Turnhalle Milch und Käse von allen Seiten kennenlernen und sogar selbst „käsen“ können. Wir haben mir ihr über ihren Berufsweg, Kochen ohne Rezept und die deutsche Esskultur gesprochen.

Du bist ausgebildete Köchin, aber mittlerweile noch vieles mehr …

„Ich bin Journalistin, ich schreibe Bücher, ich bin Food-Historikerin. Angefangen hat dieser Weg nach der Schule mit einer Ausbildung. Ich wusste nach der Schule nicht, was ich studieren wollte und bin dann auf Lebensmitteltechnologie gekommen, was damals ein ganz neues Fach war. Dafür hätte ich ein Praktikum machen müssen. Daraus ist dann aber eine Kochlehre geworden. Es war damals gar nicht so einfach als junge Frau mit 18 Jahren einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Ich habe mir unheimlich viele merkwürdige Sprüche anhören müssen, auf die ich heute viel anders reagieren würde. In der Zeit brach gerade die Gastro- und Küchenszene um, in meiner Klasse war aber nur noch eine weitere Frau. Für die meisten älteren Männer, bei denen ich zum Bewerbungsgespräch saß, Direktoren oder Küchenchefs, war das noch vollkommen unvorstellbar. Sie sagten Dinge wie „Es ist viel zu schwer“ oder „Das ist schwierig als Frau in der Küche, da geht es rau zu” bis hin zu „An manchen Tagen wird alles sauer“. Heute lachen wir darüber … aber, wow!“

Wie ging es dann weiter?

„Nach der Lehre im Steigenberger habe nicht mehr studiert, weil ich das Kochen so toll fand. Dann habe ich ein eigenes Hotel und Restaurant am Bodensee gemacht und bin darüber in den Wein gekommen, weil es mich genervt hat, dass meine Gäste mehr über Wein wussten als ich. Dann bin ich zur Sommelier-Schule in Heidelberg. Das war ein Jahr lang voll Schule und für mich wie ein Sabbatjahr. Das war toll und auch total verrückt: 17 übermotivierte Menschen aus allen Bereichen. Danach bin ich reumütig nach Berlin zurück, denn es war genug selbstauferlegtes Exil. Denn ich bin durch und durch Berlinerin, denn diese Stadt bietet so viel Freiraum – aber hätschelt nicht und gaukelt keine Harmonie vor. Ich habe dann im Weinhandel gearbeitet und bin darüber auch in den Käse gerutscht. Wir boten damals bei Maître Philippe als einer der ersten Läden hochwertigen französischen Käse abseits vom Kadewe an. Es war wie eine kleine Fromagerie, in der eben nicht der Käse in der Kühltheke liegt, sondern der gesamte Laden so klimatisiert ist, so dass der Käse offen liegen kann. Zum Schreiben kam ich zunächst durchs Übersetzen, erst dann habe ich angefangen selbst zu schreiben, und das mache ich seit 2001 ausschließlich.“

Kommt man als leidenschaftliche Köchin irgendwann nicht mehr daran vorbei, Rezepte und Wissen weiter geben zu wollen?

„Naja, Kochen ist ja grundsätzlich Essen. Und Essen ist etwas, das man meistens teilt. Es ist ja selten, dass man alles selbst produziert, also ist es ein Teilen. Ich bin aber zum Schreiben gekommen, weil ich das Geschriebene von meinem damaligen Mann übersetzt habe. Weil es sehr schwierig war, einen Übersetzer zu finden, der die Fachkenntnisse hatte, um Weinbücher zu übersetzen. Ich hatte die, und ich hatte seine Stimme im Ohr. Ich bin dann von der taz gefragt worden, ob ich nicht mal schreiben will, und ich wollte erst gar nicht. Mein erstes Stück war dann über Apfelsaft. Ich schreibe jetzt immer übers Essen als Ganzes – nicht nur über das Kochen. Wenn wir über Essen reden, dann reden wir über Landwirtschaft, Wirtschaft im Allgemeinen, Politik, soziale Kontakte. Wir reden über alles, über Leben.“

Du hast ein Buch geschrieben „Erlebnis Kochen: Manifest für eine Küche ohne Rezepte“. Ist Kochen mit Rezept etwas typisch Deutsches?

„Nein, die Amerikaner können das noch viel besser. Daran ist ja auch nichts falsch. Es ging mir bei dem Buch hauptsächlich darum zu sagen: Kochen funktioniert am besten, wenn man den Verstand nicht ausschaltet, sondern den eigenen Sinnen vertraut. Ich lasse mich auch von Kochbüchern inspirieren, aber jedes Grundprodukt ist anders. Ein Kilo Tomaten ist immer anders als das nächste. Auch etwas vermeintlich Genormtes wie Mehl ist nicht mal im Supermarkt immer gleich. Das Versprechen, das Rezepte geben, nämlich: „Wenn ich dem haargenau folge, dann kommt genau das raus, was aus diesem Bild ist“, das ist überhaupt nicht einzulösen. Ohne genaues Rezept wird man viel glücklicher, und der Stress, immer alle Zutaten ranzuschaffen und dann bleiben zwei Karotten übrig, fällt weg. Es ist viel einfacher, wenn man mit dem anfängt, was man eh hat, und sich fragt: Was könnte daraus jetzt werden? Man sollte sich ein Rezept mit allen fünf Sinnen anschauen und dann kommt man auf den nächsten Schritt von allein. Vertrau dir selbst! Du kannst viel mehr, als du denkst.“

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Was hältst du von Lifestyle-Kochblogs, auf denen jeder einzelne Kochschritt in blitzsauberen Küchen arrangiert wird? Ist das die Realität des Kochens?

„Auf die bin ich neidisch (lacht). So diszipliniert bin ich nicht. Das hat aber ein Publikum und mir gefällt es auch. Durch Blogs gibt es eine wahnsinnig Menge an Informationen im Netz, die frei verfügbar ist. Ich hatte mal ein Streitgespräch mit einer amerikanischen Lektorin, die das totale Chaos befürchtete, wenn Rezepte nicht mehr getestet werden … alles geht den Bach runter! Es reguliert sich aber einfach von selbst. Denn ich schaue mir in der Regel mehrere Blogs und Rezepte an und erkenne sehr schnell, worauf es wirklich ankommt. Ich denke, so machen es viele.“

Dein letztes Buch handelt von deutscher Esskultur. Was macht sie aus?

„An dem Buch habe ich zweieinhalb Jahre gearbeitet – eine richtige Forschungsarbeit. Es spannt den Bogen von der Steinzeit bis heute. Ich habe an dieser Frage wirklich hart geknabbert, ich wusste die Antwort am Anfang überhaupt nicht. Ich bin an vielen Punkten in der Zeit schier verzweifelt, denn es kam kein roter Faden zustande. Dann ist mir ziemlich spät aufgefallen, dass genau dieser nicht vorhandene rote Faden der rote Faden ist. Die Vielfalt und die Vielschichtigkeit und das Umgehen können mit Vielfalt ist eigentlich das, was deutsche Esskultur und Deutschland ausmacht. Eigentlich liegt es auf der Hand: Deutschland liegt mitten in einem Kontinent, zwischen Nord und Süd, auch klimatisch, zwischen romanischer und slawischer Kultur, zwischen Bergen und Marschen, und es war immer wieder Durchzugsgebiet. All diese Einflüsse, die sich im Laufe der Jahrtausende angesammelt haben, kann man fast archäologisch abtragen. Es sind lauter Schichten übereinander. Dann kommt dazu, dass Deutschland bis vor ziemlich kurzer Zeit ein politischer Flickenteppich war, die geografische Vielfalt lange auch eine politische. Dieses Dezentrale, was ganz anders ist als zum Beispiel in Frankreich, das macht uns aus. In Frankreich gibt es zwar Provinzküchen, die ganz unterschiedlich sind, aber es läuft alles zusammen an einem Punkt, und das ist Paris und die Haute cuisine. Das gibt es in Deutschland nicht. Doch die Esskultur ist dadurch solider aufgestellt, weil sie die Unterschiedlichkeit weitertragen kann.“

Wie spiegelt sich das in der Esskultur des Einzelnen wieder?

„Esskultur ist nur ein Einstieg, um sich mit nationaler Identität zu beschäftigen. Jeder von uns hat mehrere Food-Identities. Ein Nürnberger ist zunächst einmal Nürnberger, was sich zum Beispiel an den kleinen Bratwürstchen zeigt, dann ist er aber auch Franke und mag sein Kraut wesentlich weniger sauer als wir hier in Berlin. Dann ist er in nächster Instanz aber auch Bayer. Wenn er sich im Ausland bewegt, ist er Deutscher: Nach drei Tagen fehlt ihm sein dunkles Brot. Und er ist auch Europäer. Wenn er in Südostasien ist, ist Europa die große Kulturklammer. Das ist wie ein Rauszoomen. Und schließlich ist jeder von uns heute auch Weltenbürger. Was heißt, wir essen heute Sushi und morgen Döner und dann Spaghetti und finden daran nichts Ungewöhnliches. Damit können wir gut umgehen.“

Warum ist das Buch auf Englisch erschienen?

„Ganz einfach: Ein englischer Verlag hat mich gefragt, ob ich es machen wollte. Zweiter Grund: Es gibt ein großes Interesse an deutscher Kultur, auch an deutschem Essen, und die potentielle Leserschaft ist auf Englisch einfach zahlreicher. Ich suche aber gerade einen deutschen Verlag, weil ich unbedingt eine deutsche Ausgabe machen will. Ich weiß noch nicht, wie anstrengend es sein wird, mich selbst zu übersetzen, aber für ein deutsches Publikum muss ich manche Ansätze umformulieren.“

Gehört Essen und Wein für dich zusammen?

„Ja. Journalistisch habe ich dafür auch ein Format: das Geschmackslabor im Slow Food Magazin. Ich hatte kürzlich das Thema Linsen, die habe ich in zwei verschiedenen Varianten gekocht: traditionell saure Linsen mit Spätzle und dann würzig-pikante Bratlinge aus roten Linsen mit Chili, Koriander und Kreuzkümmel. Dazu vier Weine, und ich verkoste alles mit jedem und gucke: Wie verhält sich das? Nicht richtig und falsch, denn das gibt es überhaupt nicht. Jeder von uns kann gut schmecken, wir sind nur unterschiedlich darin trainiert, sinnliche Eindrücke in Worte zu fassen. Das kann aber jeder trainieren. Am Ende zählt nur: Das schmeckt mir, oder das schmeckt mir nicht. Und das kann jeder selbst entscheiden. Im Geschmackslabor habe ich sehr unterschiedliche Weine, die nicht zwangsläufig alle offensichtlich zum Essen passen. Dafür habe ich eine sehr eigene Sprache entwickelt. Ich möchte anregen, den eigenen Geschmack zu entdecken. Ich möchte neugierig machen. Ich sage also: So ist es etwas für mich. Wie könnte es für dich sein?“

Es gibt dich nicht nur zu lesen, du lädst auch zu den HeinzelCheeseTalks ein. Was ist das Konzept?

„Die Talks sind entstanden, nachdem ich das erste Mal in der Markthalle Neun war. Das ist für mich einfach ein unglaublich toller Ort, an dem ich mich wohlfühle. Er ist nicht als Konzept geschlossen sondern erfindet sich immer wieder neu und bringt unheimlich viele soziale Gruppen und Altersgruppen zusammen. Ich mache auf meiner Website immer einen Käse des Monats. Manchmal sind die Käse weithin erhältlich, manchmal bringe ich sie von Reisen mit. Es soll eine Horizonterweiterung im Kleinen und im Großen sein. Ich wurde dann gefragt: „Wo kann ich den jetzt probieren?“ Antwort: Nicht immer, aber häufig beim HeinzelCheeseTalk, für den es eine Mailingliste gibt. Es können maximal zwölf Leute teilnehmen. Es gibt spannende Käse, ein paar Weine, und wir verkosten zusammen und unterhalten uns. Ich erzähle auch darüber, aber erstens weiß ich nicht immer alles, und zweitens geht es mir auch darum Eindrücke zu sammeln und zu diskutieren und mehr über die Leute zu lernen, die lesen, was ich schreibe. Es ist für mich auch eine Kontrolle: Bin ich auf der Wellenlänge meiner Leser oder denke ich mir da etwas aus, was die Leute gar nicht interessiert? Es ist jedes Mal für mich eine tolle Erfahrung, weil es mir neue Sichtweisen eröffnet.“

Die Washington Post schrieb letztes Jahr einen großen Artikel unter der Überschrift „For millennials, food isn’t just food. It’s community“. Ist das tatsächlich eine neue Entwicklung? Beobachtest Du so etwas in Berlin, zum Beispiel entlang der Markthalle Neun?

„Natürlich ist Essen Gemeinschaft, aber das Sich-Öffnen wie in der Markthalle Neun, das ist ein relativ neues Phänomen, das man in vielen anderen Bereichen beobachten kann. Wo vorher ganz feste Grenzen waren und Abgrenzungen, fangen die, die ein bisschen wach sind an, sich zu vernetzen und auszutauschen. Das hat natürlich auch mit sozialen Medien zu tun: Es ist einfacher geworden.

Ich war kürzlich aber auch auf einer Konferenz im Südwesten von England von Hofkäsern, die also handwerklich Käse machen, und die sich mit Wissenschaftlern getroffen haben, die auch zum Thema Käse und Milch arbeiten. Die Begegnung zwischen diesen beiden Gruppen ist neu. So kann auch Wissen anders dokumentiert und vermittelt werden, können und Interessen vertreten werden. Denn die handwerklichen Käser etwa sind als Lobby schwach aufgestellt. Neue Gesetzgebungen und Hygienevorschriften orientieren sich an den großen Molkereien und der Industrie, die natürlich andere Vorstellungen und Bedürfnisse haben. Und das passt nicht zu den Hofkäsern, die wiederum aber keine guten Argumente haben, weil es so wenig Forschung gibt. Auf diesen Treffen lernen sie voneinander und erarbeiten eine gemeinsame Sprache. Genauso ist es in der Markthalle Neun: Da können alle hinkommen, sich kennenlernen und Dinge gemeinsam begreifen.“

In der Slow-Food-Bewegung spricht man vom Ko-Produzenten, nicht mehr von Konsument. Was versteckt sich hinter dem Begriff?

„Konsument ist ein Endpunkt: Ich nehme das, was ihr mir liefert. Aber es ist anders: In dieser Kiste sitzen wir alle zusammen. Konsumieren ist nur ein Schritt. Je mehr wir alle darüber wissen, was die anderen tun, desto mehr Verständnis können wir füreinander aufbringen und es uns gegenseitig einfacher machen. So können Käser zum Beispiel erzählen, dass die Milchqualität sich mit den Jahreszeiten ändert und die gleiche Käsesorte daher unterschiedlich ausfällt. Der Käse ist also nicht falsch oder richtig. Und dann muss ich mich als Käufer nicht beschweren, wenn der Käse vielleicht mal ein wenig anders schmeckt.

Ich glaube, dass die jüngeren Generationen jetzt dafür offener sind. Die Tendenz geht vom passiv Konsumieren zu aktiv Mitproduzieren. Kleine Brauereien, kleine Kaffeeröstereien, das sind Quervernetzer, die nicht nur eine Sache machen. Das wird in der Markthalle Neun sichtbar. Jeder starke Trend erzeugt einen Gegentrend – das ist wie ein physikalisches Gesetz, man sieht ihn nur nicht immer gleich. Die extreme Industrialisierung hat so etwas wie Slow Food hervorgebracht. Die Konsumenten von heute wollen nicht alle ins Handwerk, aber sie sind sehr interessiert daran auch mitzukriegen, wie es funktioniert. Das ist zwar auch Lifestyle, aber keinesfalls ausschließlich. Um entscheiden zu können, was für mich Qualität ist, muss ich ihre Geschichte kennen.“

 

Mehr von Ursula Heinzelmann könnt ihr auf ihrem Blog lesen oder ihr bei Twitter folgen. Ihr letztes Buch Beyond Bratwurst: A History of Food in Germany ist bei Reaktion Books erschienen. Das Festival „stadt land food“ findet vom 2. bis zum 5. Oktober in Berlin-Kreuzberg statt, hier geht’s zum Programm.

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