Generation Y? Neues Label für ein faulig müffelndes Marketing-Produkt. Wir sind kein Stück weiter als “Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.”
Ich hasse dieses Generation-Y-Gelaber. Ich kann es nicht mehr hören: Wir leben in der Zeit des großen Vielleicht. Ich bin Teil einer Generation, die sich nicht entscheiden kann. Wir haben so viele Möglichkeiten, können überall hingehen, können jeden Beruf ergreifen, können jederzeit Menschen kennen lernen. Die große Freiheit bringt die große Last der Entscheidung mit sich. Die Entscheidungsfreiheit macht uns nicht frei, sondern setzt uns unter Druck. Wie gesagt, ich hasse diese immer gleiche Jammerei und stecke doch irgendwie mittendrin.
Ausgangsbasis für die Bewusstwerdung meines Entscheidungsdilemmas war folgende Situation: Ich laufe früh morgens nach Hause, immer noch sediert vom vergärten Traubensaft der letzten Nacht, als vor mir auf dem Gehsteig plötzlich eine Mülltonne auftaucht. Ich schätze, sie stand bereits die ganze Zeit da, aber in meinem ethanolen Delirium fühlt es sich an, als wäre sie gerade eben dorthin gesprungen und hat sich genau mittig vor mir aufgebaut, sodass ich völlig überfordert damit bin, mir zu überlegen, ob ich links oder rechts vorbei gehen soll. Diese Kalamität hält mir einmal mehr eine globale Frage vor Augen: Hey Frollein, was willst du eigentlich? Es bleibt ja nicht bei einer Mülltonne. Denn dabei bleibt es nie. Die Entscheidungsunfreudigkeit geht schließlich mit Verabredungen weiter – ich verabrede mich, aber vielleicht sage ich kurz vorher doch noch ab, weil was besseres ansteht. Geht schnell und unkompliziert übers Handy. Ganz ohne schlechtes Gewissen, man muss sich ja schließlich nicht direkt mit jemandem auseinandersetzen. Das ist auch mit der Kleidung so – ich stehe morgens mindestens eine halbe Stunde vor dem Kleiderschrank, weil der gefüllt – ach was, vollgestopft – mit Stoff gewordenen Illusionen ist, die ich vielleicht irgendwann mal wieder anziehen werde. Und dann ziehe ich doch nur wieder das an, was von vor zwei Tagen noch herumliegt. Unsere Zukunftsperspektiven sind vielleicht ganz gut; aber nur, wenn wir den einen richtigen aus den etwa 16.000 in Deutschland existierenden Studiengängen auswählen.
Das große Vielleicht zieht sich bis zur Partnersuche durch.
Ich bin gerade in dem Alter, in dem Menschen, die seit einiger Zeit in Beziehungen leben, entweder heiraten oder sich trennen. Das ist tatsächlich so, ich habe zu diesem Thema einmal mehr eine meiner wissenschaftlich zweifelhaften Studien durchgeführt. Es geht um diese Zeit im Leben, in der man sich darüber klar wird, ob man mit dieser Person, mit der man nun mehrere Jahre verbracht hat, eine Familie gründen will, und zwar mit allen Konsequenzen – oder eben nicht. Bei denen, die sich trennen, kann man mehr über das große Vielleicht herausfinden, als bei denjenigen, die es irgendwie hinzukriegen scheinen. Warum ist das also so, dass Paare sich nach einer langen Beziehung trennen? Ich glaube, unser großes Vielleicht wird unter anderem durch geschlechterspezifische gesellschaftliche Strukturen genährt. Mann und Frau brauchen sich heute nicht mehr. Sie könnten gut und gerne nebeneinander her leben, ohne sich aneinander zu binden. Die Abhängigkeit ist Flöten gegangen, aber das Verliebtsein pfeift uns dennoch dümmlich ins Ohr.
So. Jetzt hast du dich also verliebt. Und dann?
Sagen wir es doch, wie es ist: Wir leben nun mal nicht in einem Hollywood-Film. Die Hoffnung auf bedingungslose Liebe wird bereits nach wenigen gemeinsamen Monaten von der Diskussion um Richtig und Falsch verdrängt. Von der vagen Ahnung, dass die Bedingungen sich proportional zum Einschleichen eines routinierten Alltags entwickeln. Dass das schmutzige Geschirr in einem halben Jahr vielleicht doch zum Gesprächsthema werden könnte. Dass Vertrauensvorschüsse ohne Vertragsabschluss gezahlt werden und Gegenleistungen später eingeklagt werden müssen. Wenn wir also von der rosaroten Wolke sieben herabgestiegen sind und uns auf der harten und grauen Asphalt-Decke des Bodens der Tatsachen wiederfinden, stehen wir da, schauen uns erstaunt um und überlegen uns, worauf es denn nun wirklich ankommt. Was das mit der Liebe für uns ganz persönlich zu bedeuten hat; was eigentlich der Inhalt unserer Beziehung ist. Und viel wichtiger: Ob die Schnittmenge eben jenes Inhalts bei beiden Vertragsparteien groß genug ist.
Bei den befreundeten Paaren, die sich nach langjähriger Beziehung getrennt haben, habe ich immer wieder gehört, wie einer von beiden sagte: Ich bin mir nicht sicher. Es scheint sich ein letzter Zweifel im Hinterkopf verankert zu haben, der leise klopfend fragt, ob es tatsächlich vernünftig ist, sich auf jemanden festzulegen. Und da ist es wieder, das große Vielleicht: Vielleicht wäre es besser, weiter zu warten; auf etwas, das perfekt ist. Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt einen Menschen, der noch besser passt, dessen Charakter und Körper einen noch besser ergänzen. Um das herauszufinden, haben wir on- und offline alle Möglichkeiten. Wir können hier und dort hingehen und Leute anquatschen, wir können uns hier und dort anmelden und durch einen großen, nennen wir es mal human Supermarket klicken und fleißig unseren Warenkorb befüllen. Hier finden Menschen durch ausgeklügelte Algorithmen oder nackte Oberkörper und falsche Wimpern die angeblich für sie perfekte menschliche Ergänzung für Körper und/oder Geist. Vorausgesetzt, man ist bei derselben Plattform angemeldet. Das Angebot an potenziellen (Sex-)Partnern ist also groß. Erschreckend groß, wenn man sich das so überlegt. Wer auf Partner- oder Kopulationssuche ist, sollte immer und überall die Augen quadratmeterweit geöffnet halten, damit ihm auch ja kein möglicher Kandidat unter dem Radar durchschlüpfen kann. Jetzt, da der erdähnliche Planet Kepler 452b entdeckt wurde und somit mit weiteren menschenähnlichen Kreaturen zu rechnen ist, erweitert das den abzufliegenden Satellitenradius enorm.
Dieser Gedanke scheint Beziehungen beliebiger zu machen und den Schritt zum Fremdgehen naheliegender. Wenn man heute den und morgen jenen kennen lernt und schnell und unkompliziert körperliche Nähe austauschen kann, gibt es doch keinen Grund mehr, sich auf jemanden ernsthaft einzulassen. Wer sollte schon eingleisig fahren, wenn er einen ganzen Bahnhof bewirtschaften kann? Denn an dieser Stelle kommt die Frage auf: Wenn wir unzählige Möglichkeiten haben, Menschen zu treffen, kennen zu lernen, uns zu verlieben, Sexualität auszuleben, was kann zwei Individuen zu einem Kollektiv verbinden? Gesellschaftliche Grenzen verschwimmen – Männer heiraten Männer, Frauen lieben Frauen, es wird nicht mehr überrascht geguckt, wenn eine 50-jährige Frau eine Beziehung mit einem 30-jährigen führt, niemand stellt erstaunte Fragen, wenn Beziehungen rein sexueller Natur sind.
Generation Y? Neues Label für ein faulig müffelndes Marketing-Produkt. Wir sind kein Stück weiter als “Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.”
In Zeiten der völligen Unabhängigkeit und Freiheit, was hält da noch zusammen? Ist es heutzutage schwieriger geworden, eine dauerhafte Beziehung zu führen, wenn wir all diese Gelegenheiten betrachten, in denen wir vielleicht auf jemand Passenderen treffen könnten? Es gibt so viele Möglichkeiten, es gibt so viele Alternativen, es gibt eine Scheidungsrate von über 30 Prozent. Es gibt tausend Mal Vielleicht.
Und bei all dem Vielleicht gibt es dennoch Paare, die heiraten wollen. Sind die Menschen denn heutzutage, unter diesen Bedingungen, von allen guten Geistern verlassen, wenn sie sich vor den Augen des Standesbeamten und der versammelten Familien- und Freundes-Bagage aneinander binden (mal ganz abgesehen von den steuerlichen Vorteilen)?
Sind die Menschen denn vollkommen verrückt und realitätsfremd geworden und ignorieren jegliche Seitensprung-Statistiken, Scheidungsraten und Liebeskummerquoten?
Ja, wir sind allesamt verrückt! Wir sind naiv und von allen guten Geistern verlassen. Und was ist das? Das ist wundervoll! Wir brauchen diese Verrücktheit und Naivität, denn sie bedeutet, dass wir immer noch die Fähigkeit besitzen, zu lieben. Wir sind immer noch in der Lage, so sehr zu lieben, dass wir die Realität außer Acht lassen und ganz fest daran glauben, dass es diesen einen Menschen gibt, mit dem wir gemeinsam alt werden können. Wir machen das Vielleicht zu unserer eigenen Gewissheit.
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