Über die Chance, Politik neu zu denken.
Die Welt heute ist nicht mehr die von gestern. Sie hat sich
verändert, seit das Unerwartete eingetroffen ist. Entgegen aller
Meinungsumfragen und Analysen ist der politische Underdog Trump der 45.
Präsident der USA.
Von Schockstarre, Wahlen gegen das politische Establishment und
einem gespaltenem Land ist die Rede. Und von der Angst der Menschen, in den USA und überall auf der Welt, was nun passieren wird.
Wird Trump die Reformen der Obama-Regierung zurückdrehen? Wie
wird umgegangen werden mit den Millionen illegalen Einwandern und ihren
Kindern, die gerade erst legitimiert wurden, eine amerikanische Schule zu
besuchen? Was geschieht mit dem Adoptions- und Eherecht der Homosexuellen? Der Krankenversicherung für alle? Und all den anderen Errungenschaften der letzten acht Jahre? Wird Trump seine Drohung, eine Mauer zwischen Mexico und den USA zu bauen, umsetzen? Welche Rolle wird Amerika in Zukunft hinsichtlich der vielen offenen außenpolitischen Fragen und globalen Herausforderungen einnehmen? Wie mit ausländischen Unternehmen und wirtschaftspolitischen Fragen verfahren? Und: wie gefährlich ist Trump für das fragile Gleichgewicht einer immer komplexer werdenden Welt? Welche Position wird er gegenüber den internationalen Partnern einnehmen, die er doch bis vor einigen Tagen noch beleidigt hat? Wird er verhandeln, wird er Macht demonstrieren, wird er diplomatisch genug sein oder rein protektionistisch agieren? Wird er in der Lage sein, sein gespaltenes Land zu vereinen?
Zwischen Schock, Hysterie und globalem Selbstmitleid.
Am heutigen Tag war die Welt ratlos.
Ein politisch nicht kalkulierbarer Gegner ist unangenehm, wirkt gefährlich, macht unsicher, ja ängstlich. Das Vertrauen ist bis auf die Grundmauern zerstört. Doch auch wenn diese Gefühle verständlich sind – ein guter Ratgeber sind sie nicht.
„Die schweigende Mehrheit“: sie hat sich Gehör verschafft.
Denn der Erfolg von Trump beruht sicherlich nicht nur auf der erfolgreichen Mobilisierung einer tendenziell ungebildeten, sozial und
wirtschaftlich benachteiligten gesellschaftlichen Gruppe des amerikanischen
Mittelwestens durch demagogische und manipulative Argumente. Es ist auch der Schrei nach Jobs, Anerkennung und Wahrnehmung der existierenden vielfachen Probleme „des kleinen Mannes“, die mit Themen wie Landflucht &
Urbanisierung, De-Industrialisierung & Digitalisierung, Migration, sozialen Brennpunkten, Armut und Perspektivlosigkeit zu tun haben.
Es ist die Frustration derjenigen, die sehen, wie einige wenige immer reicher und wohlhabender werden und andere nicht wissen, wie sie
ihre Familien durchbringen sollen. Und ja, es sind auch diejenigen, die sich
zurückträumen in eine Welt, die es nicht mehr gibt- und auch durch Trump nicht mehr geben wird, ganz gleich, was er versprochen hat.
Doch sind die genannten Probleme in unterschiedlicher
Ausprägung nicht auch Kern ähnlicher Konfliktherde anderer Länder hier in
Europa? Setzt dieses Wahlergebnis damit nicht eine weltweite Tendenz fort, die
sich in nationalkonservativen bis nationalistischen Erfolgen in Europa genauso
manifestiert hat, wie in der Fokussierung auf nationalwirtschaftliche
Interessen? Der Erfolg der AfD in Deutschland, von LePen in Frankreich, die
Abschottungsstrategien und Isolationskurse von Ländern wie Polen oder Ungarn, die faktenschaffenden menschenrechtlich höchstkritischen Staaten wie Russland oder die Türkei, die Bundespräsidentenwahl in Österreich, der Brexit…- und jetzt die USA…- alles Vorboten einer neuen Ära?
Wenn wir „dies alles nicht wollen“, wie kommt es, dass diese
sogenannten „schweigenden Mehrheiten“ immer stärker Gebrauch von ihrem
demokratischen Wahlrecht machen – während die etablierten demokratischen
Vertreter der Parteien ihre Wähler nur noch mühsam zur Wahl bewegen können?
Und nebenbei: Mit welchem Wunschbild oder gar verklärtem Blick analysieren
Meinungsinstitute die Stimmung von Bevölkerungsschichten, dass sie sich sowohl beim Brexit als auch in der amerikanischen Stimmungslage so geirrt haben?
Die Chance der Erneuerung des politischen Systems.
Auch wenn es nicht populär ist, dies zum aktuellen Zeitpunkt zu sagen: Wir- die sozial und wirtschaftlichen Gewinner, die in stabilen Verhältnissen lebenden gesellschaftlichen Gruppen der westlichen Industrienationen, das „Establishment“, das Bürgertum, wie immer es genannt wird – wir alle haben diese Form von Entwicklungen mit zu verantworten. Denn wir alle akzeptieren und unterstützen ein System, deren Nutzniesser wir weiterhin sind – und deren Schattenseite und Verlierer wir im allgemeinen sehr gut und gerne ausblenden können. Die meisten von uns schauen einfach zu – oder weg. Es findet kein Diskurs statt, kein kritisches Hinterfragen politischer Handlungen und Entscheidungen – und zu wenig aktives Engagement. Zu satt, bequem, träge? Oder bereits resigniert?
Gleichzeitig versagt das politische System in den Augen vieler Menschen immer stärker in vielfachen Thematiken, gibt ihnen das Gefühl, dass an ihnen vorbei entschieden wird, macht sie zu Statisten und Verlierern- und damit leicht zugänglich für populistische Parolen, „klare unverblümte Worte“ anderer „Außenseiter“ des politischen Systems- und seien sie selbst Teil einer – wenn auch wirtschaftlichen- Elite und des Establishments wie im Fall Trump.
An allen Ecken und Enden gibt es diese Fülle an Signalen, die darauf hinweisen, dass es um nicht weniger geht als einer Weiterentwicklung der politischen Systeme der westlichen Welt. In der Wirtschaft ist Innovation, Transformation und Change zum geflügelten Wort einer erfolgreichen Zukunft geworden. Die Politik sollte sich hier nicht ausklammern, sondern sich bewusst möglicher Optionen einer Erneuerung stellen. Der Wunsch der Öffentlichkeit nach frischem Wind in der Politik und in den Parteizentralen ist schon lange da – nicht nur in den USA, wie wir überall sehen.
Es gäbe sicherlich viele Ansatzpunkte, über die es sich lohnen würde, zu diskutieren. Denn es gibt vieles zu klären, zu hinterfragen und vor allem zu lernen. Natürlich: Erneuerung, Transformation braucht Zeit. Doch wann soll dieser Diskurs offen und ehrlich geführt werden, wenn nicht jetzt? Europa und seine Länder brauchen in diesen hitzigen Zeiten sicherlich besonnene, doch gleichzeitig mutige Nach-Vorne-Denker, die nicht immer nur die parteipolitischen Interessen und den nächsten Posten im Blick haben. Und auch wir als Öffentlichkeit sind dabei viel mehr als nur die “Wahlstimme”. Wir selbst können Dinge verändern, gestalten, vorwärts bewegen – jeder in seinem Bereich. Es würde mehr positive Dynamik in unsere Gesellschaft bringen- und nähme den rechtspopulistischen Parteien einigen Wind aus den Segeln.
Denn diese globalen Entwicklungen – ob sie uns nun gefallen oder nicht-sind Realität. Diese Wirklichkeiten anzuerkennen bedeutet, die Probleme der Menschen ernst zu nehmen, ihren Ängsten und Sorgen Rechnung zu tragen und den eigenen Kurs dabei ernsthaft zu überdenken.
Vielleicht wär dies eine der wichtigsten Reformen für die
Zukunft. Zumindest ist dies eine der Chancen, die aus diesem historischen Ereignis erwächst.