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Warum man sich öfter alte Geschichten anhören sollte

Die Welt gehört den Jungen: In Zeiten von Hashtags, Instagram und Lifehacks werden die Erfahrungen von älteren Menschen immer weniger wertgeschätzt. Dabei lohnt es sich auch heute noch – und zwar umso mehr – nachzufragen, wie unsere Welt früher aussah. Ein Plädoyer für mehr Interesse an unseren älteren Mitmenschen.

 

Keine Angst vorm Alter

Will man über einen alten Menschen etwas Nettes sagen, spricht man meist von einem Junggebliebenen, einem Opa, der „noch richtig gut drauf“ ist oder von einer Oma, die ja so „süß“ ist. In einer Gesellschaft, die sich über jugendliche Leistungsfähigkeit definiert, kein Wunder. Wer nicht mehr zu den jungen Menschen gehört, hat oft nur eine einzige Chance, von ebendiesen wahrgenommen zu werden: durch das gefühlte Alter

Jugendliche Ausstrahlung und Lebenseinstellung trotz fortgeschrittenen Alters kommen in unserer Gesellschaft immer gut an. Die sozialen Medien sind voll von Videos, in denen Omas ihren Enkeln Streiche spielen und etwas steife alte Männer auf der Straße unvermittelt lostanzen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber was ist mit denen, die nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich nicht mehr jung sind? Die keine Lust mehr haben auf die Angelegenheiten der Jugend?

Diese Menschen werden leider viel zu oft
übersehen.

Die Digitalisierung verändert die Welt so schnell, dass viele nicht mehr mitkommen. Während die Menschen früher noch Rat bei den Ältesten der Gesellschaft suchten, fragen sie heute bei den Jungen an – denn nur die kennen sich mit den ständigen Neuerungen der Technik aus. Die traditionellen Erfahrungen, die früher überaus wertvoll waren, gelten heute nicht mehr viel.

Was viele dabei jedoch vergessen: Wir haben die Welt nicht neu erfunden, nur weil wir einen Laptop, so flach wie ein Schulheft, erschaffen haben. Unsere Welt existiert nur, weil andere sie aufgebaut und den Weg so gestaltet haben, dass wir ihn nun weitergehen können. Sich klarzumachen, dass das Heute untrennbar mit dem Gestern verbunden ist, bedeutet unter anderem, die Protagonisten dieses „Gesterns“ zu würdigen. Und diese sind: richtig, die Alten.

Wenn alte Menschen aus ihrem Leben erzählen, wird eine Brücke geschlagen in die Vergangenheit. Denn den Wohlstand, in dem wir heute leben, verdanken wir den Leistungen unserer Vorfahren. Klar, Berichte über die Zeit im oder nach dem Krieg können spannend sein. Was viele nur aus dem Geschichtsunterricht kennen, haben manche, die Tür an Tür mit uns leben, aber wirklich erlebt! Wie verrückt ist das denn?

Es lohnt sich, nachzufragen.

Wenn man den Großvater oder die alte Nachbarin außerdem fragt, was sie erlebt und was sie gefühlt haben, wird es noch spannender. Jeder nimmt andere gerne mit in seine Geschichten, erzählt, worauf er stolz ist und was ihn besonders glücklich macht. Keiner kommt alt auf die Welt, jeder Mensch hat lustige, rührende, spannende und traurige Geschichten zu erzählen – mit jedem Jahr mehr.

Und plötzlich ist da nicht mehr nur der grauhaarige Mann, der immer schon alt war, dessen Falten man gar nicht mehr zählen kann und der mit Rollator geht. Plötzlich ist da ein wütender Widerständler, ein langhaariger Schlaghosenträger, ein stolzer Papa, ein erfolgreicher Unternehmer, ein verletzter Soldat, ein freches Kind. Kurzum: Ein welterfahrener Mensch, der so viel erlebt hat, dass man darüber ein Buch schreiben könnte. Vielleicht ein Mensch, der das Leben unverfälscht wahrnimmt und dessen Wahrnehmung nicht mehr von äußeren Reizen getrübt wird. Was wir Jungen oft als fehlende Leidenschaft oder Egozentrik verstehen, ist sehr oft einfach nur die Erkenntnis, dass die Dinge eben am besten zu nehmen sind, wie sie sind.

Wie viel wir doch von einem solchen Menschen
lernen können!

Wenn man ihn doch nur erzählen ließe. Wenn man ihn doch nur öfter fragen würde. Da ältere Menschen häufig davon ausgehen, sie hätten nichts mehr zu sagen, was die Jungen interessieren könnte, halten sie sich viel zu oft zurück. Jeder kennt die Großtante, die sich am Telefon erst einmal dafür entschuldigt, dass sie stört, und das Gespräch nach zwei Minuten beendet, in dem Glauben, sie könnte nichts zu einem jüngeren Leben beitragen.

Wahrscheinlich weiß sie nicht, was das neue iPhone kann, was Instagram ist oder was „liken“ bedeutet. Vermutlich tut sich bei ihr auch nicht so viel wie im Leben von uns Jungen. Während wir zur Uni gehen, ins Arbeitsleben starten oder das erste Kind bekommen, ist bei ihr alles so, wie es auch schon die letzten Jahre war. Aber sie weiß, wie unsere Welt aussah, bevor wir sie für uns beansprucht haben.

Darum ist es so wichtig, mit ihnen zu reden. Den Menschen, die eine Zeit vor uns kennen, aufmerksam zuzuhören. Ihren riesigen Schatz an Lebenserfahrung teilen die meisten nur zu gerne. Sie sind Experten für jegliche Situationen des Lebens. Und obwohl sich die Zeiten ändern, bleiben die Menschen in ihrem Inneren gleich. Immer schon kämpfen sie mit den gleichen Problemen – sei es Liebeskummer, Stress im Job oder das Bedürfnis, dazuzugehören.

Die Vergangenheit verstehen, um die Zukunft
zu gestalten

Die Verbindung zwischen dem Jetzt und dem Früher ist gar nicht so groß, wie wir sie uns vorstellen. Die Vergangenheit ist das, was uns alle miteinander verbindet und hat großen Einfluss auf unsere Gegenwart. „Wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“ sagte der spanische Philosoph und Schriftsteller George Santayana. Und da hat er Recht: Nur wenn wir über Vergangenes Bescheid wissen, können wir verstehen, wie unsere Gesellschaft heute tickt. Und nur wenn wir das wissen, können wir das Beste aus der Zukunft machen.

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