Wenn jemand stirbt, müssen wir loslassen. Nicht nur den Menschen als Person, sondern auch konkret eine menschliche Hülle. Die Suche nach Strategien, um mit dem Undenkbaren klarzukommen.
Manchmal begegnet man dem Tod mitten im Alltag. Der Singvogel, der mit gekrümmten Beinchen und starren Augen auf dem Balkon liegt. Der zufällige Blick am Sonntagmorgen auf die Traueranzeigen in der Zeitung. Kästchen mit Kreuzen, manchmal Bilder mit schönen, alten Namen dazu. Und manchmal auch keine alten Namen. Wie wenn Glas plötzlich zerspringt. Ein kleiner Moment, in dem sich innerhalb von Sekunden der Blick auf alles verändert.
Vor Kurzem hatte ich wieder so eine Begegnung. Ich wollte eine Pflanze auf dem Friedhof eingraben, als ich dumpf mit der Schaufel auf etwas stieß. Eben noch hatte ich mit klebenden Haarsträhnen im Gesicht und der aufsteigenden Hitze gekämpft. Jetzt hielt ich inne. Dieser erdige Klumpen da vor mir war bei näherer Betrachtung ein länglicher, menschlicher Knochen. Unwirklich und blass zwischen all den Blumen.
Am Tag darauf rufe ich die Friedhofsverwaltung an und bitte sie, den Knochen zu bestatten. Weil er irgendwie unter die Erde muss. Nicht mehr hier oben so verloren und für alle sichtbar liegen darf – so fühle ich das zumindest.
Die Hülle loslassen. Neue Wege des Erinnerns finden
All das, was man in die Tiefe wirft, wenn jemand beerdigt wird, verschwindet gemeinsam mit der menschlichen Hülle unter ganz viel Erde. Die, die zurückbleiben, pflanzen Blumen darauf, stellen Kerzen und Grabsteine mit eingravierten Namen dazu und nennen diesen Ort fortan einen Platz des Gedenkens an die, die nicht mehr da sind. Doch was ist mit dem, was unter dem Rasen ist? Mit dem, was unserem Blick entzogen ist? Zumindest bei einer Erdbestattung ist da noch sehr lange etwas, das nur langsam in den Zustand übergeht, den wir mit „Asche zu Asche, Staub zu Staub“ so schön umschreiben.
Seitdem mir nahestehende Menschen gestorben sind, habe ich mir dazu viele Gedanken gemacht. Weil es sicher vielen so geht, wie mir: Ich halte mich an der Hülle eines Menschen fest. Sie loszulassen fühlt sich unmöglich und absurd an. Auch jetzt noch, viele Jahre später. Und dennoch merke ich, dass ich begreifen und lernen muss, sie loszulassen. Und das ist ein langer Prozess. Denn die Erinnerung an einen Menschen ist meist eng verknüpft an das Sichtbare. An gemeinsam Erlebtes. An ein Gesicht mit Grübchen in den Wangen. Eine Art, sich umzudrehen und zu lachen.
Ich suche Wege, wie ich stattdessen etwas greifbar und begreifbarer machen kann, von diesem Menschen. Denn die schmerzhafte Idee der Lücke und eines „Nie-mehr“ will nicht in den Kopf. Der Verstand wehrt sich in solchen Fällen. Was bleibt, wenn jemand nicht mehr da ist. Wann ist da ein Übergang von der Hülle zum Gedanken? Wie lange ist ein Mensch noch Gestalt und Form und wann ist er weg? Hat er vielleicht noch etwas wahrgenommen, als wir schon glaubten, er sei gegangen? Vielleicht ist das mein Versuch, eine gestaltlose Art der Erinnerung aufzubauen, indem ich versuche, alles sachlicher zu verstehen, mehr Fakten einzusammeln.
Wie viel Gewicht hat eine Seele?
Es gibt diesen Film von Alejandro González Iñárritu. „21 Gramm“. Darüber heißt es: „21 Gramm, so sagt man, ist das Gewicht, das ein Mensch verliert, wenn er stirbt, nicht sehr viel mehr als ein Riegel Schokolade, ein paar Münzen und doch, wie es der Film einmal explizit benennt, das Gewicht der Seele.“ Dieses Weniger an Gewicht meinte der amerikanische Arzt Duncan MacDougall 1907 in einem Experiment entdeckt zu haben. (Bei Tieren hat er diesen Gewichtsverlust übrigens nicht nachweisen können, weshalb er zu der These kam, Tiere hätten keine Seele).
Man mag daran glauben oder nicht. Es gab ein sehr klares Davor und Danach. Die Gesichter waren auf eine ganz eigentümliche Art und Weise erloschen. So als wäre ihnen jede Farbnuance entzogen worden, wie nach dem Ende einer Vorstellung. Ist das Sehen dieses Übergangs, das Fehlen der 21 Gramm, der Weg, der es erträglich und überhaupt möglich macht, das Körperliche eines Menschen loszulassen? Ihn gehen zu lassen?
Es gibt Menschen, die den letzten Anblick vermeiden möchten, um eine Person lebendig in Erinnerung zu behalten. Es gibt Menschen, die ertragen die Vorstellung nicht, dass der Körper einer*s Verstorbenen eingeäschert oder beerdigt wird. Es gibt Menschen, die eine Totenwache halten. Menschen, die am offenen Sarg vorbeigehen, um der verstorbenen Person die letzte Ehre zu erweisen. Sie alle gehen sehr unterschiedlich mit dem verbliebenen Körper um. Was allen gemein sein dürfte, ist dieser stille Schock, der diesem Abschied innewohnt.
Sterben ist oft ein Prozess, kein Moment
Ich habe viele Fragen zu Sterben und Tod. Ein paar Antworten gibt es. Nicht zum Verbleib der 21 Gramm, aber die Wissenschaft kann heute durchaus sagen, was mit unserem Körper passiert, wenn das Herz aufhört zu schlagen, wenn wir aus dem Leben gehen. Auch das kann ein erster Schritt sein, sich mehr mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen und ihm zumindest ein wenig seinen Schrecken zu nehmen.
In Filmen sieht es immer so plötzlich aus. Jemand liegt im Sterben, sagt noch einen letzten Satz, seufzt und sackt in sich zusammen. Aber das Leben ist kein Western. Und in der Realität stirbt die Mehrzahl der Menschen nicht in den Armen von Old Shatterhand, sondern in der sterilen Umgebung eines Krankenhauses. Laut Statista starben 2021 in Deutschland 447.473 Menschen im Krankenhaus. Das sind 46 Prozent. Und auch wenn sich die Mehrheit der Deutschen wünscht, zu Hause zu sterben, so geht dieser Wunsch nur für 20 Prozent in Erfüllung (Deutsches Ärzteblatt).
Und noch etwas ist anders als im Film. Gehen wir von einem natürlichen Tod aus, durch Krankheit oder aufgrund des Alters, dann ist Sterben kein Moment, sondern ein Prozess. Der Palliativmediziner Gian-Domenico Borasio hat einmal gesagt: „Eins ist sicher, nämlich, dass wir Menschen nicht auf einmal sterben. Es ist vielmehr eine Phase, die auch Tage und Wochen dauern kann. Der Körper stirbt nach und nach.“ ‚Man liegt im Sterben‘ beschreibt das ganz gut. Und es gibt viele Anzeichen, dass jemand sich auf diesen Weg begeben hat. Aber nicht immer möchte man das als Angehöriger sehen.
Die Medizin nennt mehrere Schwellen
Den Moment zu erkennen, wann jemand wirklich „gegangen ist“, ist scheinbar nicht so einfach, vor allem für die ihm nahestehenden Menschen. Allein schon die unterschiedlichen medizinischen Begriffe, die es gibt. Sie alle benennen unterschiedliche Schwellen: klinisch tot beschreibt den Kreislaufstillstand des Körpers, wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen, der Körper nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird und die Sinne ausfallen. Daneben gibt es den Hirntod, der aus rein medizinischer Sicht heute das einzig legale Kriterium für den Tod eines Menschen ist. Ging man in früherer Zeit davon aus, dass ein Mensch tot ist, wenn das Herz aufhört zu schlagen und die Atmung stoppt, so ist das heute aufgrund der intensivmedizinischen Möglichkeiten anders.
Erst wenn zwei Ärzt*innen unabhängig voneinander bestätigen, dass die Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms zum Erliegen gekommen, und keine Hirnaktivität mehr messbar ist, wird ein Mensch für tot erklärt. Daneben gibt es noch den Begriff „biologisch tot“. Er bezeichnet den Zustand, wenn nach und nach auch die einzelnen Organe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Sind sämtliche Organ- und Zellfunktionen erloschen, ist man auch biologisch tot.
Bringen wir jetzt noch die 21 Gramm, die Seele, ins Spiel, dürfte sich dieser Kreis noch um einen weiteren Begriff erweitern. Letztlich bleiben all diese Begriffe und Schwellen wenig hilfreich auf der Suche nach einer Antwort auf das „Wann“ und „Wie“ und „Wohin“.
Es gibt viele Berichte über Nahtoderfahrungen im Moment des Todes. Und viele wissenschaftliche Erklärungen dazu, die zum Teil desillusionieren. Interessant ist hier eine neue Studie, die auf einem tragischen Zufall beruht. Ein 87-Jähriger kam in Estland nach einem Sturz in die Universitätsklinik Tartu. Da er an Epilepsie litt, schlossen die Ärztinnen ihn zur Kontrolle an ein EEG an. Der Patient verstarb kurz Zeit später an einem Herzinfarkt – seine Gehirnaktivitäten wurden jedoch noch kurze Zeit weiter aufgezeichnet. Daraus konnte man sehen, was im Gehirn im Moment des Sterbens passierte. Auf diesem Zufallsmoment basiert eine Studie, die im Fachmagazin „Frontiers in Aging Neuroscience“ veröffentlicht wurde. Laut der Studie gab es 30 Sekunden vor und nach dem Eintreten des Todes eine verstärkte Gehirnaktivität. Das könnte darauf hindeuten, dass das Gehirn auch während des Sterbens und kurz danach aktiv bleibt. Ob dieses Phänomen auf die Epilepsie des Patienten zurückzuführen ist, konnten die Ärztinnen nicht bestätigen.
Zusammen mit Studien über Nahtoderfahrungen, die von einem hellen Licht am Ende des Tunnels berichten, von einem Blick von außen auf sich selbst und die Menschen im Raum oder von einem Erinnerungsfilm durch das eigene Leben, macht das Hoffnung und kann helfen, die Trauer zu lindern. Weil jemand im Sterben genau das durchlebt haben könnte. Licht und Raum und Film. Und diese Vorstellung lässt mich innerlich lächeln. Für die, die nicht mehr da sind. Und natürlich auch für mich selbst. Als kleiner, mahnender Fingerzeig, ohne Angst vor dem Ende zu leben. Und somit dem Leben die Handbremsen zu nehmen.
Hilfe für Trauernde
Wer einen geliebten Menschen verloren hat, und das Gefühl hat, die Trauer nicht allein bewältigen zu können, sollte sich nicht scheuen, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Eine Anlaufstelle im Notfall ist die psychiatrische Ambulanz oder die psychiatrische Abteilung einer Klinik, derdie eigene Hausärztin, eine niedergelassener Psychiaterin oder Psychotherapeut*in, der ärztliche Bereitschaftsdienst (116117), die Polizei (110) oder der Rettungsdienst (112). Anonym und rund um die Uhr kann man auch die Telefonseelsorge erreichen (08001110111).