Warum digitale Fähigkeiten im Job beständig vermittelt werden müssen
Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Damit der technische Fortschritt keine negativen Folgen für die Gesellschaft hat – kaum jemand ist nicht mit Digitalisierung konfrontiert – müssen die notwendigen Fähigkeiten umfänglich vermittelt werden. Auch und gerade in der Arbeitswelt.
Mareike ist Sachbearbeiterin bei einem IT-Dienstleister. Fast ihre gesamten Aufgaben erledigt sie am Bildschirm. Hunderte Entscheidungen haben Mareike und ihre Kollegen dabei auf Grundlage binärer Informationen vor dem Bildschirm zu treffen.
“Ich fühle mich lediglich als Eingabemedium, nicht mehr als lebender und atmender Mensch”, so Mareike, deren Arbeitsalltag aus dem Abarbeiten von diversesten Kundenaufträgen mit dem sogenannte Ticketsystem, Anwendungen wie Jira und Mails besteht. An manchen Tagen liegen an die 1000 Vorgänge zur Abarbeitung vor. Grundsätzlich sollen diese zu Feierabend von ihrem Team bearbeitet sein, auch wenn ihren Führungskräften bewusst ist, dass dies eine nicht einzuhaltende Vorgabe ist. Eine Herausforderung für Körper und Seele. Der entstehende Stress entstehe jedoch nicht durch Vorgesetzte, sondern durch sie selbst.
Betriebliche Gesundheitsvorsorge und Raum für Weiterbildungen sind für Arbeitgeber oft Fremdwörter
Mareike hatte keine schöne Kindheit. Depressionen und eine Posttraumatische Belastungsstörung zwangen sie zu einem Aufenthalt in einer Tagesklinik und einer mehrmonatigen Auszeit. Nach der mehrmonatigen Auszeit hatte sich im Betrieb viel getan. Neben technischen Neuerungen, welche in der Zwischenzeit Einzug hielten, wurde auch Mareikes Team umstrukturiert.
Begleitung bei der Einarbeitung nach der Rückkehr? Fehlanzeige!
Dies hatte zur Folge, dass Mareike den Anforderungen immer weniger gewachsen war, die Stimmung im Team verschlechterte sich und die Teamleiter zeigten sich immer gleichgültiger.
Nicht nur psychische Erkrankungen nehmen in Mareikes Firma zu (diese ist kein Einzelfall), sondern auch scheinbar banale Probleme wie Beschwerden am Bewegungsapparat der Angestellten. Bildschirmarbeit muss besonderen ergonomischen Anforderungen genügen. Doch auch hier kümmert sich Mareikes Arbeitgeber nicht wirklich um die Belegschaft. Wer ausfällt, soll nach der Rückkehr eigenverantwortlich versäumtes Wissen nachholen. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement gibt es einfach nicht. Und wer lange krank ist, steht ohnehin vor der Kündigung. Denn – Mitarbeiter wie Mareike gibt es zuhauf. Fällt ein Altgedienter aus, steht ein jüngerer und damit kostengünstigerer Ersatz parat. Personaler reiben sich die Hände…
Wer nicht ins Raster passt, wird aussortiert.
Auf berufliche Erfahrungen, soziale Qualitäten und vieles mehr der langgedienten Angestellten wird kein Wert mehr gelegt. Die Devise “Hauptsache billig” gilt auch und vor allem für Arbeitnehmer und ist eine Schattenseite der “Geiz ist geil”-Mentalität.
Damit aus dem Segen kein Fluch wird
Die Halbwertszeit von IT-Produkten und Anwendungen ist kurz. Weiterbildungen und lebenslanges Lernen ist die Grundvoraussetzung, um nicht den Anschluss zu verlieren. Für Mareike stellt dies eine der Gefahrenquellen dar: “Viele sind bereits jetzt abgehängt, niemand kümmert sich um die Vermittlung von digitalen Fähigkeiten, gerade bei neuen Systemen.”
Mareike gehört zu den Digital Natives und hat an dieser Stelle Glück. Für sie ist der Umgang mit Rechner, Smartphones und Co. ein Kinderspiel.
Doch ältere Personen oder gerade Menschen mit psychischen Handicaps fallen schnell aus dem Raster. Ohne aktuelle digitale Fähigkeiten keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt. Der Stempel für diese unüberschaubare Zahl von Menschen seitens vieler Arbeitgeber:
Unvermittelbar! Hartz 4! Frühverrentung! Minderwertige Jobs!
Die Schere klafft damit nicht nur im Arbeitsleben auseinander. Wer beruflich abgehängt ist, hinkt finanziell und sozial hinterher – gesellschaftlicher Sprengstoff.
Wieder in die Balance finden – Für menschenwürdige Arbeitsbedingungen
Den Unternehmen und leitenden Angestellten muss klar werden, dass sie mit Menschen umgehen. Wer dies schon nicht aus humanistischer Motivation erkennt, sollte dies spätestens mit dem Hinweis auf die begrenzte Ressource Mensch einsehen. Dazu gehört nicht nur die Bereitstellung adäquater Arbeitsbedingungen, sondern auch die Wertschätzung von Mitarbeitern.
Der Unternehmer Robert Bosch (1861-1942) meinte: „Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld weil ich gute Löhne zahle.“ Übertragen auf die Situation psychisch erkrankter Mitarbeiter würde er heute vielleicht sagen “Ich gebe auch kranken bzw. bei anderen Unternehmen gescheiterten Mitarbeitern eine Chance. Weil diese, in einem wertschätzendem Umfeld, ein großes Potential für meine Firma mitbringen.” Mareike würde es gefallen.
Über uns
In diesen Artikeln berichten wir regelmäßig über die Probleme und Bedürfnisse von psychisch erkrankten Menschen in Bezug auf die Arbeitswelt. Ausgangspunkt dabei ist die Frage, wie Digitalisierung einen Beitrag vor allem bei der (Re)Integration in den Arbeitsmarkt leisten kann.
Diese Artikel sollen Mut machen und aufklären. Sie stehen am Beginn eines Netzwerks, aus dem heraus Angehörige, Kollegen und Vorgesetzte gemeinsam mit den Betroffenen Antworten auf Fragen der Integration erhalten. Damit psychisch Erkrankte ihr kreatives Potential und das Recht auf ein erfülltes Leben verwirklichen können.
Das Projekt soll darüber hinaus Diskussionen und Veränderungen im Gesundheits- sowie Arbeitssystem anstoßen.
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