Persönlichkeit ist heute wichtiger als Perfektion. Zeit für mehr Vielfalt und weniger Selbstzweifel.
Schön ist das, was die Gesellschaft vorgibt
Beim Blick in den Spiegel betrachten wir oft nicht nur unser Äußeres. Wir beurteilen das, was wir sehen. Unterbewusst haben wir die Kriterien des gängigen Schönheitsideals in Wimpernschlaggeschwindigkeit am eigenen Körper überprüft. Genau an diesem Punkt fängt das Dilemma an. Die eigene Schönheit ist referenziell, sprich, sie braucht offensichtlich einen Bezugsrahmen: das Schönheitsideal.
Schönheitsnormen gab es schon immer, und ganz starr waren sie nie. In den letzten Jahren hat sich beispielsweise das weibliche Körperideal von „so dünn wie möglich“ zu „so gesund wie möglich“ gewandelt. Ein Fortschritt? Ja und nein. Man schenkt Frauen zwar ein paar Zentimeter mehr Spielraum, zugleich hat diese Entwicklung so absurde Begriffe wie „skinny fat“ hervorgebracht. Nur dünn zu sein reicht nicht. Oberarme müssen definiert sein, die Beine muskulös. Und trotzdem verschiebt sich gerade etwas. Schönheit wird breiter definiert und ist immer häufiger eine Frage der individuellen Wahrnehmung. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen die digitalen Medien. Das Internet, anfangs nicht ganz zu Unrecht bezichtigt, durch unerreichbare Schönheitsstandards Millionen von Menschen maximal verunsichert zu haben, ist inzwischen Marktplatz einer globalen Gegenbewegung geworden. Soziale Netzwerke schaffen Zugehörigkeit, sie wirken wie ein sozialer Kitt. So bestärken sich schwarze Frauen beim Black Natural Hair Movement, ihr Haar nicht länger zu glätten, um einem europäischen, weißen Prototyp zu entsprechen. In der wachsenden Fat-Acceptance-Bewegung organisieren sich Menschen, die aufgrund ihres Gewichts oft ausgegrenzt oder beleidigt werden, und ermutigen sich gegenseitig, dem Body-Shaming Selbstliebe entgegenzusetzen. Immer wieder verbreiten sich Hashtag-Kampagnen im Netz, die vermeintliche Makel wie Schwangerschaftsstreifen oder Cellulite als das sichtbar machen, was sie sind: etwas ganz Normales.
Ein freundlicher Blick auf sich wäre ein Anfang
Selbst in der Modewelt sind ungewöhnliche Frauentypen inzwischen gefragt – als Aushängeschild für Diversity; wie die rothaarige Madeline Stuart, die das Downsyndrom hat, Diandra Forrest, eine schwarze Frau mit Albinimus, oder Ines Rau, eine von mehreren Trans-Frauen, die als Supermodel mittlerweile Erfolg haben. Dieser Wandel sei mehr als ein Trend, erklärte sie in einem Interview, sie sehe darin eine gesellschaftliche Entwicklung. „Wir können Transgender-Leute nicht mehr ignorieren. In der Mode und Gesellschaft ist eine neue Zeit angebrochen.“ Während einige wenige Diversity-Models enorm erfolgreich sind, ist ihr Anteil an den Covern von Modezeitschriften oder großen Werbekampagnen gering. Eine Auswertung internationaler Titel des Online-Portals „FashionSpot“ aus dem Jahr 2016 zählte zwar 29 Prozent nicht weiße, jedoch nur 0,7 Prozent Transgender- und 0,9 Prozent Plus-Size-Models sowie fünf Prozent Frauen über 50. Das mag mager klingen, ist jedoch der höchste Diversity-Wert, der je gemessen wurde.
Neben dieser Vielfalt sind die neuen Role-Models der zweite Grund, warum sich der alltägliche Schönheitswettbewerb verändert. Frauen sind so erfolgreich wie nie als Managerin, Politikerin oder Wissenschaftlerin. Sie haben sich davon befreit, von Männern bewertet zu werden, und kümmern sich lieber um ihren Job. Den Anspruch, für ihr Talent und Können respektiert zu werden, haben jedoch nicht nur die Supererfolgreichen. Die britische Feministin Laurie Penny bringt es so auf den Punkt: „Frauen, denen es schlicht scheißegal ist, wie sie aussehen, weil sie zu beschäftigt damit sind, die Welt zu retten oder ihre Sockenschublade neu zu sortieren.“
Der Wandel kommt – langsam. Machen wir uns nichts vor: Noch immer arbeiten sich viele Frauen an einem gnadenlosen Schönheitsdiktat ab. Dabei wären die ersten Schritte für jede machbar: aufhören, sich obsessiv mit dem eigenen Körper zu beschäftigen, und ein freundlicherer Blick auf sich selbst. Es ist naiv zu glauben, man könne einfach mal den Schalter umlegen – von Selbsthass auf Selbstliebe.
Wir müssen nicht perfekt sein, müssen uns nicht von heute auf morgen lieben. Wir müssen nur wir selbst sein.
Protokoll Beatrice Fleck: Meine Glatze gibt mir Selbstvertrauen
Zugegeben, das klingt für viele erst mal komisch. Vor zwei Jahren saß ich mit Freunden in meiner WG, sie haben mir Zöpfe gebunden und einen nach dem anderen abgeschnitten. Dieser radikale Schritt hat mich gereizt. Mit jeder Strähne, die auf dem Boden landete, habe ich mich wohler gefühlt. Als dann der Rasierapparat den Rest erledigte, strahlte ich. Die meisten Leute, auf die ich treffe, sind damit überfordert. Klar, eine glatzköpfige Frau entspricht nicht der gesellschaftlichen Norm. Aber warum sollte ich das? Ich habe mich noch nie so weiblich gefühlt wie jetzt.
Beatrice Fleck, 22
Protokoll Sarah-Liv Weyler: Heute fühle ich mich wohl in meiner Haut
Es begann mit ein paar kleinen weißen Flecken in den Armbeugen und am Bauch. Da war ich vier Jahre alt. Welche Ausmaße das annehmen würde, war erst nach der Diagnose klar. Vitiligo ist eine extrem seltene, nicht heilbare Autoimmunerkrankung. Die weißen Flecken spüre ich bis heute nicht körperlich, dafür umso mehr die Blicke der anderen. Als Teenager war es besonders schlimm – man nannte mich Panda, Milka-Kuh, ich sei hässlich, und genau so fühlte ich mich. Ich versteckte meine Haut unter Make-up und Selbstbräuner. Sogar im Sommer trug ich Pulli und lange Hosen. Als ich dann vor zwei Jahren eine Vitiligo-Selbsthilfegruppe auf Facebook fand, ging es bergauf. Ich nahm an einem Fotoprojekt teil, zeigte mich ohne Make-up und begann, meine Flecken zu akzeptieren. Auch heute gibt es manchmal „bad skin days“ –
Tage, an denen ich mich nicht angucken will. Dann sage ich mir: Gleich kann jeder, anders ist kreativer.
Sarah-Liv Weyler, 32
Dieser Text ist in der neuen Ausgabe der Myself erschienen, die es seit heute am Kiosk gibt. Dort findet ihr weitere Protokolle von Frauen, die nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprechen – aufgeschrieben von Alexandra Pasi, fotografiert von Jessica Barthel.
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