100 Jahre ist es her, dass Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen durften. Seitdem haben engagierte Vorkämpferinnen das Leben von Frauen an vielen Stellen verbessert. Doch angekommen sind wir noch lange nicht.
Kanzlerin da, alles gut
„Aber wir haben doch eine Kanzlerin!“ Was mit diesem Satz gemeint ist? Er wird synonym verwendet zur Behauptung „Die Gleichstellung in Deutschland ist längst erreicht“. Angela Merkel ist das Totschlag-Argument, um Diskussionen über die Diskriminierung von Frauen in Deutschland zu beenden. Auch wenn zwei Dinge klar sind: Merkel hat ihr Amt nicht dazu genutzt, dass sich an den Stellen unserer Gesellschaft etwas verbessert, an denen Frauen in der Regel nicht die gleichen Chancen haben wie Männer. Zweitens ist das Amt der Kanzlerin kein Gradmesser für die Gleichberechtigung von Frauen insgesamt. Es mag das mächtigste Amt in Deutschland sein, Merkel gilt zudem als mächtigste Frau der Welt, doch von ihrem Amt geht nicht die Sogwirkung aus, die sich viele von Frauen in hohen Positionen versprechen: Dass auf eine mächtige Frau auf allen Ebenen Frauen folgen werden. Merkel mag ihren Anteil daran gehabt haben, dass die CDU nun das zweite Mal in Folge von einer Parteivorsitzenden geführt wird, strukturell sind die Chancen von Frauen auf Spitzenjobs, auf faire Beförderungen, auf gute und gleichwertige Bezahlung nicht gestiegen.
Dass Deutschland zwar gern von seinen Bewohner*innen und in der Welt als modernes Land beschrieben wird, ändert nichts an den Fakten: Sowohl der Gleichstellungsbericht der Bundesregierung als auch der Gender-Gap-Report des Weltwirtschaftsforums sehen Deutschland nicht als Vorreiterin, wenn es um gleiche Chancen für die Geschlechter geht. Im Gegenteil: Deutschland ist in dieser Hinsicht ziemlich mittelmäßig, man könnte auch sagen: faul. Im Report des Weltwirtschaftsforums belegt Deutschland aktuell den 14. Platz und ist damit im Vergleich zum Vorjahr um zwei Plätze abgerutscht. Am Wissen, wie es anders geht, scheitert die Gleichstellung in Deutschland nicht; wissenschaftlich-basierte Empfehlungen und Best-Practice-Beispiele aus anderen Ländern gibt es mehr als genug.
Wir feiern 100 Jahre Ende des Männerwahlrechts
In dieser Woche feiern Menschen in Deutschland eine historische Errungenschaft: Am 19. Januar 1919 durften Frauen das erste Mal wählen und sich wählen lassen. Bis dahin war unser Wahlrecht ein Männerwahlrecht. Es schloss Frauen von der politischen Teilhabe und von politischen Entscheidungen aus. Wir feiern nicht das Frauenwahlrecht, wir feiern das Wahlrecht für alle. Frauen können nicht schon, sondern erst 100 Jahre lang wählen. Richtig ist doch: Frauen hätten von Anfang an wählen können sollen und politische Mandate übernehmen. Wir feiern 100 Jahre danach eine Selbstverständlichkeit. Vor 100 Jahren wurde Inklusion erkämpft – das sollte heute für alle eine Erinnerung sein, dass es unsere Verantwortung ist, all diejenigen einzuschließen, die noch nicht volle Rechte genießen. Gleichberechtigung ist längst eine Frage intersektionaler Perspektiven, die mehr umfassen muss als Geschlechtergerechtigkeit. Ganz gleich ob beim Wahlrecht oder in anderen Bereichen. Gleichberechtigung bedeutet schließlich, dass in all den Belangen, in denen Menschen weniger Rechte als andere genießen, etwas nicht stimmen kann. Menschen Rechte vorzuenthalten ist dabei kein zufälliges Produkt schlecht gemachter Gesetze. In der Regel geht es um Macht und einen beabsichtigten Ausschluss und beabsichtigte Schlechterstellung, von der eine bestimmte Gruppe Menschen profitiert.
Ich bin oft zwiegespalten, wie sehr wir feiern sollten, wenn Selbstverständlichkeiten, wie das Wahlrecht für Frauen, schließlich errungen werden. Oder anders gesprochen: Gelingt es, feiern wir, dass wir erfolgreich eine Idee in die Wirklichkeit übersetzt haben, in dem wir uns dafür eingesetzt haben. Wir feiern die Überzeugungsarbeit, wir feiern, dass unsere Mühen – die Mühen der Vorkämpferinnen des Wahlrechts – schließlich belohnt wurden. Was wir nicht feiern ist das Zugeständnis. Das Wahlrecht zu feiern sollte nicht verwechselt werden mit Dankbarkeit gegenüber denjenigen, die eine Selbstverständlichkeit so lange blockiert haben.
Was wollt ihr denn noch?
Frauen, aber auch andere Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, dürfen sich fortwährend anhören, warum sie dankbar sein sollten, warum eigentlich alles gut ist. Um am Beispiel der Frauen zu bleiben:
„Ihr dürft doch wählen!“
„Ihr dürft doch arbeiten!“
„Ihr könnt doch Kanzlerin werden!“
„Ihr dürft doch abtreiben!“ (Auch wenn es noch im Strafgesetzbuch steht und ihr auf den Kosten für etwas, das zwei Personen verursacht haben, allein sitzen bleibt.)
Bemerkenswert ist, dass in Gesprächen über Gleichberechtigung – sei es privat oder im öffentlichen Diskurs – gern aufgezählt wird, was Frauen mittlerweile alles dürfen. In dieser Gesprächstechnik schwingt, wenn auch subtil und oftmals nicht intendiert, die Erwartung mit, dass gleiche Rechte, die Stück für Stück erkämpft werden mussten, etwas seien, für das Frauen dankbar sein sollten. Darin versteckt ist die Haltung, dass die gleichen Rechte eben keinesfalls als selbstverständlich betrachtet wurden und werden. Darin versteckt sich auch, dass in der Vorenthaltung der gleichen Rechte doch ein Körnchen Wahrheit stecke. Und eine Relativierung: War es wirklich so schlimm, dass Frauen nicht wählen konnten? War es wirklich so schlimm, wenn Frauen nur durch Zustimmung ihres Ehemannes arbeiten konnten? War es wirklich notwendig, dass Vergewaltigung in der Ehe als Straftat eingestuft wurde? Ist es wirklich notwendig, sexuelle Belästigung zu ahnden? Die AfD kann man doch aushalten! Ist ein Gender-Pay-Gap wirklich so schlimm? Die paar Prozent?
Wenn aufgezählt wird, was Frauen mittlerweile alles dürfen, lässt sich zudem auf die Unterstellung schließen, Frauen seien maßlos und ungeduldig. (Ungeduldig sind wir zu Recht.) Frauen seien nimmersatt. Gibt man ihnen das Wahlrecht, wollen sie auch noch gleiche Bezahlung dazu. Bisschen überzogen, oder nicht?
Die nimmersatte Frau
Übertragen wir das Bild der nimmersatten Frauen einmal in eine Parabel:
An der Essensausgabe in der Kantine werden an die Männer volle Portionen verteilt, die Frauen hingegen bekommen in ihre Suppenschale eine einzige Erbse. Später dann zwei, dann drei… Denn sie haben sich beschwert und begründet, warum sie von einer Erbse nicht satt werden und haben Unterschriften gesammelt und demonstriert, dass sie auch noch eine zweite Erbse dazu wollen. Nach langem Streit bekommen die Frauen also eine Erbse mehr und sie müssen sich dankbar dafür zeigen.
Derweil werden sie noch immer nicht satt, sind auf eine willkürliche Diät gesetzt und ihre Portion ist weit von dem entfernt, was die Männer auf ihre Teller bekommen. Als die Frauen schließlich zehn Erbsen auf ihrem Teller haben, beginnen die Männer sich zu fürchten. In ihrer Suppe schwimmt zwar Speck, doch sie haben Sorge, dass die Frauen so stark werden, dass sie nun bald den Spieß umdrehen und selbst die Portionen bemessen. Die Männer sagen: „Ihr habt doch Ehemänner, stellt euch gut mit ihnen, dann könnt ihr bei ihnen mitessen. Und überhaupt? Sind zehn Erbsen nicht genug? Ihr werdet dick, wenn ihr noch mehr wollt.“
Bis heute sammeln die Frauen an der Essensausgabe ihre Erbsen ein, es werden mehr. Manche Frauen, die sich besonders gut mit den Männern gestellt haben und ihre Spielregeln kennen, bekommen sogar eine Suppe mit Speck. Doch die Mehrheit der Frauen bekommt noch immer nicht die gleiche Portion. „Sie wollen ja gar keine ganze Portion“, sagen die Männer, ohne die Frauen gefragt zu haben oder sich zu erinnern, dass die Frauen seit Anfang an die gleiche Portion gefordert haben und ihnen von Anfang an eine ganze Portion zustand.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer
Werden hungrige Frauen nun davon satt, wenn sie sich sagen: „Aber wir haben doch eine Kanzlerin“? Natürlich nicht. Der Umstand, dass Deutschland aktuell eine Frau an der Spitze hat, sollte uns vielmehr darüber nachdenken lassen, wie Gleichberechtigung in allen anderen Bereichen genauso selbstverständlich werden kann. Wir schaffen das.
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