Oder: Die Kunst des Loslassens
Eine meiner ältesten Freundinnen schenkte mir kürzlich einen Abreißkalender. Er besteht aus 365 Seiten, auf denen je eine Frage steht. Ich möchte versuchen, alle Fragen hier auf diesem Blog zu beantworten. Ob kurz, lang, ausführlich oder im Vorbeigehen – antworten möchte ich. Da ich sowieso nicht an Neujahr mit diesem Projekt beginne, ist mein Ziel weder die tägliche Beantwortung einer Frage, noch die strikte Einhaltung der Reihenfolge der Fragen. Beim Durchblättern ist mir aufgefallen, dass es auch sehr persönliche Fragen gibt, vor denen ich mich nicht drücken möchte, die ich aber manchmal einfach noch nicht beantworten kann/will. Dies nur zur Information, falls einer da draußen eben jenen Kalender auch besitzt und sich fragt, warum auch mal Fragen ausgelassen werden. Vielleicht poste ich allerdings auch einfach ein Bild der noch nicht beantworteten Frage, so wird sie nicht vergessen. Das überlege ich mir einfach auf meiner Reise, sozusagen im „Flow“, oder?
Mit genau diesem „Flow“ beschäftigt sich auch die Antwort auf die erste Frage.
Vor zwei Wochen habe ich in der Reha-Klinik, die mehrere Wochen mein Zuhause war, das erste Mal mit einem Bogen geschossen. Hört sich erstmal unspannend an. Was mich neugierig machte, war die Tatsache, dass dieses Angebot vom Klinik-Seelsorger ausging. Ich würde mich nicht als praktizierende Christin bezeichnen, aber schon bei seiner Vorstellung bei der Ankunft in der Klinik machte dieser Mann Eindruck auf mich. Er wirkte nicht vergeistigt, eingestaubt und christlich-erhaben, sondern aufgeräumt und offen – dazu fuhr er einen alten, klapprigen Lada, der so gar nicht zu den anderen fahrbaren Untersätzen der Klinik-Mitarbeiter passen wollte.
Bogenschießen bot Herr Lada, wie ich ihn nun einmal nennen möchte, jeden Montag Nachmittag an. Auf dem Flyer stand „Loslassen und das Ziel finden“ – das wurde von mir natürlich zunächst mit einem ungläubigen Lächeln quittiert. Letztlich führte besagter Montagnachmittag aber zu mehreren Erkenntnissen: 1. Bogenschießen ist gar nicht so einfach – irgendwie aber doch, 2. Bogenschießen kann ziemlich schmerzhaft sein (für zart besaitete sei vorweggenommen: eine Fleischwunde ist nicht Teil dieser Geschichte) und 3. Die eben noch belächelte Aussage sollte sich als wahr herausstellen.
Die Bögen die uns zur Verfügung standen, wurden von Herr Lada selbst hergestellt und waren wunderschön. Jeder Bogen war aus einem anderen Holz und mit einer unglaublichen Präzision aus einem Stück hergestellt, sie bestanden aus Eibe, Esche, Ahorn und wie meiner: Robinie – alles einheimische Hölzer. Geschossen wurde mit ebenfalls selbstgefertigten Pfeilen, die zu meiner Verwunderung beeindruckende Metallspitzen hatten. In der Turnhalle der Klinik wurden Ziele aus Kartoffelsäcken und Zielscheiben aufgebaut, diese waren doch ganze 7 Meter von der „Schusslinie“ entfernt. Es sei angemerkt, dass bei der „sportlichen“ Ausführung dieses 14.000 Jahre alten Sports dieser Abstand oft mehr als 30m beträgt.
Meine Robinie war auf meine Körpergröße abgestimmt, hatte eine feine Maserung, einen mit Leder verkleideten Griff in der (wie ich dachte) Mitte des Bogens und eine straffe Sehne. Die Teile ober- und unterhalb des Griffs nennt man im Jargon „Wurfarm“, wobei der obere Wurfarm bei jedem Bogen länger ist als der untere. Warum? Um ehrlich zu sein, habe ich beim Wort „physikalisch“ abgeschaltet und einfach akzeptiert das es so ist – ich nehme aber laienhaft, ohne weitere Recherche, an, dass es um die optimale Kraftumsetzung auf den Pfeil geht. Der physikalisch optimale Aufbau eines Bogens soll aber nicht Thema dieses Artikels sein.
Bevor Herr Lada kompetent, anschaulich und ebenso offen wie bei seiner Vorstellung zu erklären begann, wie dieses Stück Holz und ich nun einen Pfeil auf ein Ziel schießen sollten, mussten alle Schutzbekleidung anlegen: Einen Lederarmschutz, der mich spontan an „Gladiator“ erinnerte, und einen Bogenschießhandschuh. Meine Assoziationen hinsichtlich des schwarzen Lederhandschuhs beinhalteten zwar ebenfalls Arten von „Leder-Rüstungen“ – waren aber eher Mr. Gay-Grey als Maximus Decimus Meridius. Naja. Wo der Handschuh hingehörten, war mir recht schnell klar; der Armschutz sollte Oberarm, Ellenbogeninnenseite und Unterarm schützen. Betonung liegt hier auf „sollte“, denn bei meinem ersten Versuch an der Sehne, endete diese zwischen dem Schutz und meinem Oberarm und verursachte einen laugenbrötchengroßen blauen Fleck, den ich jetzt noch habe – siehe also Nr.2 meiner Erkenntnisse bezüglich des Bogenschießens.
Dann ging es auch schon los. Haltung einnehmen, Sehne beim Ausatmen am Körper bis zum Mundwinkel spannen und den Pfeil loslassen. Ist tatsächlich an sich ganz einfach und – hat man alles richtig gemacht, findet der Pfeil auf magische Weise seinen Platz auf der Zielscheibe. Stellte sich aber ebenfalls als eine Kunst heraus. Denn sowohl Haltung, als auch Spannen der Sehne erfordert erstens Kraft und zweitens Konzentration. Einmal den Fokus verloren, saust der Pfeil auch gern mal völlig woanders hin, als avisiert. Als besonders schwer empfand ich die Übertragung der Körperspannung auf die Spannung des Bogens, sozusagen die völlige „Hingabe“ an den Prozess des Loslassens. So langsam wurde mir klar, was mit der Aussage des Flyers gemeint war. Ich musste immer wieder an „Last Samurai“ denken, ein Film, in dem Tom Cruise, als amerikanischer Soldat mit Alkoholproblem, in die Hände der Samurai fällt und in der Folge versucht, Schwertkämpfen wie seine unfreiwilligen Gastgeber zu lernen. Immer wieder sagt sein Lehrer zu ihm, er solle „nicht immer Denken“, was dem Protagonisten anfangs schwer fällt, ihn aber nach Umsetzung zum besseren Kämpfer macht, da er sich allein auf seinen Instinkt verlässt und nicht mehr nur auf seinen Verstand.
Genau so ging es mir. Je weniger ich nachdachte, je mehr ich alle meine Gedanken an den Bogen abgab und je mehr ich bereit war alles loszulassen – umso besser gelangen mir meine Schüsse. Mit jedem Ausatmen, Spannen der Sehne und Loslassen des Pfeils spürte ich erstaunlicherweise, wie mein Kopf immer „leerer“ wurde. Ich verstand, was mit „Loslassen und das Ziel finden“ gemeint war.
Nach zwei Stunden mit meinem Bogen fühlte ich mich tatsächlich irgendwie „befreit“ und dachte in den Tagen danach intensiv über diese Erfahrung nach. Ich versuche oft durch kognitive Anstrengung den Weg zum persönlichen Ziel zu finden und scheitere frustriert. Manchmal kommen erst in den Momenten, in denen ich los und die Dinge ihren Weg gehen lasse, die Lösungen zu mir. Natürlich kenne ich dieses Phänomen nicht erst seit ich den Bogen in der Hand hatte – oft ordne ich es aber eher als Schwäche, Niederlage oder Fehler auf dem Weg zum Ziel ein. Was mir beim Schießen bewusst wurde ist aber, dass kraftvolles, fokussiertes und vertrauendes Loslassen eine ebenso starke, wie beeindruckende Art ist ein Ziel zu verfolgen. Darüber hinaus scheint es manchmal auch der einzige Weg zu sein, wenn ich kognitiv nicht weiter komme. Deshalb ist die Erkenntnis aus meiner ersten, einprägsamen Erfahrung mit dem Bogen also Folgende: Manchmal hilft es auszuatmen, den Bogen zu spannen und den Pfeil durch Loslassen zum Ziel zu schicken – und das möchte ich öfter versuchen.
Dieser Artikel ist ebenfalls erschienen auf:
https://andertannemachts.wordpress.com/