Berühren und berührt werden ist essentiell. Trotzdem haben wir Erwachsenen es uns fast “abgewöhnt”. Warum? Ein Plädoyer für mehr Berührung.
Das bin ich – und das bist du!
Kinder leben durch Berührung: Bereits im Mutterleib ertasten sie ihre Umgebung, als Baby wandert fast alles in ihren Mund und wird genussvoll mit Lippen und Zunge erforscht, und wenig später beginnen die kleinen Wesen tastend und greifend die Welt im Wortsinn zu erfassen.
Auch in anderem Sinn sind Kinder Berührungswesen: würden wir sie nicht herumtragen, streicheln und wiegen, beruhigend tätscheln und uns Hand in Hand mit ihnen zu ihren ersten Abenteuern aufmachen, würden sie verkümmern wie Pflanzen, denen das Sonnenlicht vorenthalten wird.
Über Berührung nehmen wir von frühester Kindheit an unsere Grenzen und die unserer Umwelt wahr. Das bin ich – und das bist du! Wenn Kinder das begreifen, ist ihnen ein Meilenstein der Persönlichkeitsentwicklung gelungen. Zu dieser Erfahrung trägt weit davor das hundertfache “Be-Greifen” ihrer selbst und ihrer Umwelt bei.
Erwachsene leben berührungsarm
Umso erstaunlicher, dass wir uns als Erwachsene die haptische Wahrnehmung unserer Umwelt zu großen Teilen „abgewöhnt“ und sie häufig fast verlernt zu haben scheinen. Die Sinneseindrücke über Augen und Ohren dominieren unser Bild der Welt: diese ist für uns farbig und voller Klang und Lärm, aber nur noch selten kratzig oder samtig, schweißnass oder pergamentartig trocken, pulsierend heiß oder kühl und wächsern. Ein Händedruck verrät uns viel über einen anderen Menschen, eine Umarmung noch mehr. Freude, Furcht, Anstrengung, Vorsicht oder Wohlbefinden zeigen sich auch in Stimme und Haltung.
Aber die tiefen Ebenen körperlichen und seelischen Befindens sind oft erst in der Berührung wahrnehmbar: Ein schwacher Puls, Kühle oder Hitze der Haut, Verdichtung des Gewebes in Form von Schwellungen und Knoten, waren vor Zeiten der Apparatemedizin zuverlässige Ratgeber ärztlicher Kunst. Heute stellt selbst manch Kinderarzt seine Diagnose hinter seinem Schreibtisch hervor, ohne seine kleinen Patienten ein einziges Mal zu berühren.
Mich mutet das höchst seltsam an und ich empfinde diese Berührungsarmut als Beschränkung, die wir uns unnötigerweise selbst auferlegen. Nicht nur im Sinn der Informationsaufnahme können wir die Welt durch die Berührung um eine ganze Dimension bereichern. Vor allem im zwischenmenschlichen Kontakt nähren wir uns damit auch.
Lasst euch (wieder) berühren!
Einsamkeit, die „Krankheit“ individualistischer Gesellschaften, geht ja oft einher mit einem eklatanten Mangel an Berührung. Manch alter Mensch geht zum Friseur oder Arzt, um wieder einmal gefragt zu werden, wie es ihm oder ihr gehe – und eben, um berührt zu werden.
Aber auch für uns „mittelalte“, ins Leben eingebundene, Erwachsene gilt: lasst uns das wärmende Feuer der Berührung wieder entfachen – oder am Leben erhalten! Umarmt eure Kinder und Eltern. Setzt euch Schulter an Schulter mit euren Freunden. Geht Hand in Hand mit euren Liebsten. Kuschelt, küsst und kost mit allen Sinnen. Streichelt, tastet, matscht mal wieder! Lasst frische Blumenerde durch eure Finger rieseln. Tastet mit euren Zehen nach Grashalmen, fühlt im Sommer Kies und Schotter unter euren Füßen!
Die Welt ist mehr, als Augen sehen und Ohren lauschen können. Berührt euch selbst und andere. Teilt diese Erfahrung mit euren Kindern. Lasst euch (wieder) berühren von dieser wunderbaren Welt!
Dieser Artikel erschien zuerst auf meinem Blog: https://mutter-und-sohn.blog.