Foto: ©Bernadette Jansen

Jeder Mensch hat eine eigene Strategie, verloren zu gehen

Der neue Roman von Ulrike Anna Bleier ist in der Edition Lichtung erschienen. Mit „Bushaltestelle“ beschreibt die Kölner Schriftstellerin die Liebe unter Gleichen.

 

 Ulrike Anna Bleier liefert mit ihrem Roman eine kritische Analyse unserer Gesellschaft, die in den elementaren Strukturen von Claude Lèvi-Strauss ihres Gleichen finden. Ich habe die Autorin zum Interview getroffen.

Ulrike, in deinem Buch geht es um Mutterschaft und Geschwisterliebe. Lass uns erstmal von der Mutter sprechen. In deinem Text tritt sie auch sprachlich hervor, weil sie ausschließlich in einer Art inneren Dialogs direkt mit dem „Du“ angeschrieben wird. Im Gegensatz zu den anderen Figuren, die alle einen personalen Erzähler haben. Theresa lebt eine sehr schwierige und ambivalente Mutterschaft. Warum hast du das Muttersein als eine Art Leitmotiv für deinen Roman gewählt? 

„Mit Theresa, der Mutter im Roman, habe ich über eine Generation von Frauen geschrieben, über die das Leben praktisch hinweggerollt ist. Der Krieg hat für diese und auch die nachfolgende Generation die Lebensbedingungen gesetzt, an die sie sich anpassen mussten. Sie haben dann versucht, das Beste daraus zu machen, und das war nicht leicht. Theresa erlebt die Geburt ihres ersten Kindes Elke als ein Trauma. In der Generation der Frauen aus der Nachkriegszeit gab es gar nicht die Möglichkeit über eine traumatische Geburt zu sprechen, geschweige denn sie aufzuarbeiten. Die ambivalente Mutterschaft ist Teil eines gesellschaftlichen Systems.“ 

Ein typisches Mutterleben im patriarchalen System

Was bedeutet für Dich dieses gesellschaftliche System, dass du mit deinem Roman so kritisch betrachtest? Theresa lebt ihre Mutterrolle zwar ambivalent, aber bis zur Selbstaufgabe. Zu ihrem Mann Sepp hat sie allerdings eine sehr distanzierte Beziehung. 

„Theresas Leben beschreibt ein typisches Mutterleben in einem patriarchalischen System. In diesem System werden Frauen als eine Art Ware behandelt. Nach dem französischen Ethnologen Claude Lèvi-Strauss beginnt Kultur da, wo Frauentausch anfängt. Natürlich haben wir heute kein System des offenen Frauentauschs mehr. Aber kulturelle Normen und Sanktionen sorgen dafür, dass Frauen sich an vorgegebene, sehr enge Rollenmuster anpassen müssen, um sich als Teil der Gemeinschaft fühlen zu können.“ 

Kannst du die Idee des versteckten Frauentausches weiter ausführen. Wie siehst du heute die Situation der Frau in unserer Gesellschaft? 

„Für mich spielt sich das heute mehr in der Frage nach Macht in Gruppen ab. In Deutschland müssen sich Frauen weiterhin in vielen unterschiedlichen Gruppen behaupten. Zum einen den Ansprüchen der Familie gerecht werden, aber sich gleichzeitig in der Arbeitswelt behaupten. Durch längere zum Beispiel mutterschaftsbedingte Abwesenheit in der Arbeitswelt müssen sie wieder von vorne anfangen und wechseln die Gruppe und in der Regel ist so ein Wechsel mit Machtverlust verbunden. Ihre einmal gewonnene Macht zu behaupten, wird somit fast unmöglich, weil es kaum gelingt, diese Position in eine andere Gruppe mitzunehmen oder zu übertragen. Die Energie, die eine Frau in ihre Familie steckt, kann ihr nichts in der Arbeitswelt nützen und umgekehrt. Der Mann kann dagegen kann in so einem System auf der einmal gewonnenen Macht aufbauen, er wechselt die Gruppe oft nur, wenn damit ein Machtgewinn verbunden ist. Das erklärt vielleicht auch, warum auch moderne Männer so selten in Elternzeit gehen. Das Genderpaygap ist – vor allem aufgrund dieser strukturellen Benachteiligung – eklatant. Männern wird somit ungebrochen und auf eine pseudo-natürliche Weise Macht zugesprochen.“ 

Also noch ein weiter Weg, bis Mann und Frau gleichgestellt sind. Kommen wir zu dem zweiten großen Thema in deinem Roman, der Geschwisterliebe. In dem Roman ist es die Liebe zwischen Theresa und ihrem Bruder Martin, und auch deren beider Schwester Lene. 

„Die Liebe zu Geschwistern ist für mich die erste Liebe, und es ist die Liebe unter Gleichen. Sie sind a priori beide Kinder ihrer Eltern. Die Differenzierungen werden dann kulturell und sozial eingeführt. Wie beispielsweise, dass im Roman Martin ein eigenes Zimmer bekommt, seine Schwestern aber nicht. Er bekommt auch das größere Stück Fleisch, weil er ja ein Junge ist. Diese ungleiche Behandlung war in den Generationen vor uns weitenteils selbstverständlich.“ 

Inzest, Tabu und moderner Frauentausch

Gehört das zu den kulturellen Normen und Sanktionen von denen du vorhin in Bezug auf das gesellschaftliche System gesprochen hast?

„Ja genau. Ein Inzestverbot – das übrigens nichts mit dem Verbot des sexuellen Missbrauchs zu tun hat, weil es sich weder auf Schutzbefohlene und noch auf Minderjährige bezieht – gab und gibt es bei sehr vielen Völkern. Wie Claude Lèvi-Strauss gezeigt hat, rührt das Inzesttabu nicht von einem menschlichen Instinkt her, der uns etwa vor Erbkrankheiten schützen könnte. So einen angeborenen Anti-Inzest-Instinkt gibt es offenbar gar nicht, weder beim Menschen noch bei anderen Lebewesen. Dagegen ist das Inzesttabu als kulturelles Phänomen zu betrachten, das auf dem Prinzip des Frauentausches zwischen Gruppen basiert. Es regelt nicht einfach nur die Sexualität, sondern versucht quasi aus den sexuellen Bedürfnissen der Familienmitglieder Nutzen für die ganze Gemeinschaft zu ziehen. Die Frau wird durch dieses Prinzip zur Ware, die gegen Frauen, Kühe und Schweine einer anderen Gruppe getauscht werden kann. Würde sie in einer legitimierten sexuellen Beziehung mit ihrem Bruder, Neffen oder Onkel leben, stünde sie ihrer Gruppe nicht mehr als Tauschobjekt zur Verfügung. In meinem Roman gibt der geliebte Bruder seine Schwester an seinen besten Freund weiter. Indem sich die Schwester dem Bruder unterordnet oder untergeordnet wird, beginnt also eine Kultur des Patriarchats, der die Liebe unter Gleichen beendet. Für Theresa in meinem Roman kommt dies einem Verrat gleich, einem Anschlag auf ihren Körper. Und mit diesem Anschlag endet für sie auch die Liebe und ihr eigenes sexuelles Begehren. “

Die Geschwisterliebe in deinem Roman endet tragisch. Hat das ausschließlich mit dem Umgang von Tabu und Schuld zu tun oder spielt der historische Hintergrund auch eine Rolle?

„Es gibt eine Leerstelle in dem tragischen Ende von Martin und auch Theresas Liebe zu ihm, die sicherlich mit dem historischen Hintergrund in Zusammenhang steht. Martin ist aus dem Krieg zurückgekommen, aber über das, was damals in Tschechien auf dieser Burg wirklich geschah, darüber spricht er nie. Der einzige, der weiß, was passiert ist, ist Theresas Mann Sepp, und der hat sein Wissen sozusagen gegen Theresa eingetauscht. Doch auch Theresa selbst will nichts mehr darüber wissen, sie fragt nicht einmal nach. Im Grunde interessiert sie sich für gar nichts mehr. Später erfährt dann ihre Tochter Elke mehr über die Zeit des Nazi-Protektorats in Tschechien, indem sie zu der Tante Magdalena fährt.“

In Bushaltestelle geht es auch oft um das Verschwinden. Elke verschwindet aus dem Leben ihrer Mutter, aber erfährt dafür, was die Mutter bisher immer ignorierte. Es ist praktisch ein magischer Effekt aus Verschwinden und Auftauchen im Leben der Menschen, den du da beschreibst.

„Jeder Mensch hat für mich eine eigene Strategie zu verschwinden, verloren zu gehen. Und es kann auch nur gesucht und gefunden werden, wer verloren gegangen ist. Das Verschwinden gehört zum Menschen wie der Tod und deswegen schreibe ich darüber.“

Und der Leser wird genau in diesen magischen Bann gezogen, den du mit der Strategie des Verschwinden beschreibst. Der Roman „Bushaltestelle“ ist absolut lesenswert.

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