„Meine Seele hat Krebs. Ein schönes Sinnbild. Nur bin ich nicht von organischem Krebs befallen. Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Chemo ist dann also wohl die Verarbeitung, meine Therapie.“
Ich machte einen klaren Cut. Ich trennte mich. Und ging. Das war 2014. Der Anfang einer Reise. Einer Reise auf neuen Wegen. Eine Reise wohin auch immer.
Ich schreibe über meine persönliche Geschichte, meiner 8 jährigen Beziehung mit Vergewaltigung und Psychospielchen. Ich erzähle euch von der Trennung, meiner posttraumatischen Belastungsstörung, der Therapie, der Verarbeitung jener Erlebnisse. Meinem Weg zum Feminismus. Meinem Weg im Feminismus. Die sich mir stellenden Hürden und die mir mitgegebenen Geschenke der Grenzerfahrung. Und Warum? Weil ich eine* von vielen bin. Weil Offenheit und Mut ein Werkzeug ist. Ein Werkzeug, dass jede*r hat und mehr genutzt werden sollte.
*Triggerwarnung
Tagebuch, 06.02.2015:
„Meine Seele hat Krebs“
Aufgewacht, gegen 6 Uhr. Kotzübel,
Kreislauf instabil und Schwindel enorm. So bin ich vorhin relativ
schnell, aber wackelig ins Bad gestürzt. Schüttelfrost. Zitternd habe
ich vor dem WC gehockt mit dem Gefühl mich gleich übergeben, zu müssen.
Abgewartet. Kraftlos zusammengerutscht. Immer noch zitternd, mit
schmerzendem rumorendem Bauch kauerte ich im Bad. Es klopfte an der Tür.
Es war Noah. Mit Zögerlichem: „Darf ich reinkommen?“, öffnete sich die
Badtür. Er setze sich neben mich, das beruhigte mich – es beruhigt mich
immer. Die Wärmflasche hat er mir gemacht. Mir ein Kissen zum Anlehnen
geholt. Mit mir im Bad gehockt. Ich erzählte, dass ich nicht weiß, wovon
ich geträumt habe, aber der Auslöser war wohl wieder der Kopf?!Bestimmt. Was sonst? Immerhin bin ich
organisch gesund. Doch der Kopf, das habe ich nun oft genug durchlebt,
kann einem übel mitspielen.Da gibt es das Darmhirn, ein Gedächtnis
im Bauch, das prägt sich so wahnsinnig viel ein. Giulia Enders hat es im
Buch „Darm mit Charme“ wunderbar amüsant und verständlich beschrieben.
Der Bauch reagiert auf Gefühle und Gedanken. Bei dem einen weniger, bei
anderen, wie mir, mehr.Was sich in meinem Kopf abspielt? Warum
ich Dinge träume, die mir Übelkeit bescheren? Und warum erinnere ich
mich erst jetzt, 1 Stunde nach dem Traum eigentlich daran, was ich
geträumt habe?Letzter Frage Antwort: Schutz. Der
Körper hatte gerade Wichtigeres zu tun als sich an etwas zu erinnern.
Der musste erst mal mit den ausgelösten Symptomen wie Schüttelfrost und
Übelkeit reagieren, die Alarmglocken schellen lassen und das wieder in
den Griff kriegen. Alles in kleinen Dosen, Stück für Stück.Ich träumte, meine Seele hat Krebs, weswegen ich eine Chemo begonnen habe, von der mir regelmäßig kotzübel wird.
Ein schönes Sinnbild. Spannend, welche Bilder mein Kopf findet. Nur bin
ich nicht von organischem Krebs befallen. Ich habe eine posttraumatische
Belastungsstörung. Die Chemo ist dann also wohl die Verarbeitung, meine
Therapie.
Wie mach ich das?
„Alles ist besser, als diese Gefühlslast. Alles ist besser als dieses körperliche Leiden.“ beschloss ich damals. Und ging.
Vermutlich hätte ich das mit dem Wissen um mein Befinden danach, in dem Moment nicht mehr gedacht.
Ich habe aber über die vielen warum?-, woher?- und was wäre, wenn?- Fragen eins begriffen: Mein Körper ist zu Großartigem fähig! Er kann verdrängen, zum Schutz!
Aber wie macht er das? Wie mache ich das? Raffiniert macht er das! Raffiniert mache ich das! Da war sie wieder, meine Neugier und das Bedürfnis unbedingt die Zusammenhänge und Ursprünge verstehen, zu wollen. Also wälzte ich Bücher und Zeitschriften und schaute allerhand Sendungen.
Wir haben nach aktuellem Wissensstand drei Gehirne. Den ältesten Teil nennen wir „Reptiliengehirn“. Dort entstehen Reflexe wie die Fähigkeit zur Flucht, zum Kampf oder zum Erstarren. Das Zweite heißt „emotionales Gehirn“ oder auch „Säuglingsgehirn“. Dort entsteht unter anderem die Sehnsucht nach Bindung. Es ist unser emotionales Gedächtnis, das alle positiven wie auch verletzenden Beziehungen abspeichert. Und als Drittes hätten wir da den Neokortex. Mit ihm analysieren wir Erlebnisse bewusst, speichern Erinnerungen und können uns in andere hineinfühlen. Das ist der Teil, den wir brauchen, um Konsequenzen unserer Handlungen einzuschätzen.
Dr. Konrad Strauss (Neurologe, Psychiater & Psychotherapeut) meinte in einem Artikel der GeoWissen (Ausgabe Nr. 55 „Zuversicht“, S. 155 … um genau zu sein) dazu Mal:
„…wenn wir emotional verletzt werden, reagieren wir als Erstes mit den
Möglichkeiten unseres Reptiliengehirns: Entweder wir Verdrängen den
Schmerz und vermeiden so, uns damit auseinanderzusetzen- wir fliehen
also. Oder wir entwickeln Wut, ergehen uns in Rachegedanken oder üben
Vergeltung: Wir kämpfen. Oder wir verfallen in eine Apathie, in dem
unsere Gefühle, wie gedämpft sind – wir erstarren. Gegen diese
Reaktionen können wir nichts tun. Sie sind natürlich. Aber wenn es uns
einmal besser gehen soll, sind sie eben nur der erste Schritt.“
Den ersten Schritt habe ich damals ganz automatisch getan. Ich habe schmerzliche Gedanken erst verdrängt: Ich bin geflüchtet. Auch die Apathie, das Erstarren, kenne ich nur zu gut. Ich habe alle belastenden Gefühle und Erinnerungen einfach verdrängt, ja sogar vergessen. Als ich mir Stück für Stück bewusst wurde, begann ich mich zu fragen: „Ob das so gut ist?“
Ja, ist es! Es ist, wie Dr. Strauss schrieb, ganz natürlich. Das ist ein absolut gesunder und wichtiger Mechanismus, der überlebenswichtig ist. Mein Körper hatte so viel Kraft, alles was mich zu sehr belastet und an dem ich kaputt gehen könnte, zu filtern. Mich sozusagen ungefragt zu schützen. Er ließ mich vergessen und „den Schmerz runterschlucken“, bis zu dem Zeitpunkt, an dem mein Körper meinte, bereit zu sein. Bereit sich damit zu befassen, bereit zu
reflektieren, bereit meinen Neokortex einzuschalten.
Alarmsystem des Körpers
In all der Zeit hat mich mein sogenanntes Darmhirn treu begleitet. Für mich gibt es nicht nur drei Gehirne, für mich gibt es wenigstens vier. Wie ich darauf komme?
Als ich da so „wie ausgekotzt“ im Bad saß und versuchte mich an das Geträumte zu erinnern, kam mir das Buch „Darm mit Charme“ in den Sinn. Das lag zu der Zeit auf demNachtschränkchen als abendliche Gutenacht-Lektüre.In diesem Buch wurde beschrieben, dass jeder von uns aus einem Darmrohr entsteht. Alle Organe bilden sich aus diesem heraus. Auch das Gehirn. Der Darm ist unser Ursprung. Er ist extrem selbstständig und hat im Körper die zweitgrößte Ansammlung an Nervenzellen, nach dem Gehirn im Kopf. Zwischen Darm und Hirn herrscht unbewusst, permanenter und reger Austausch.
Immer, wenn ich mich ärgerte, mich ängstigte, mir etwas zu schmerzvoll, zu aufregend, kurz: zu belastend war, schaltete sich mein Reptiliengehirn ein. Ich bin „geflüchtet“ oder „erstarrt“. Ich habe, dank meines Repitilienhirns, das Unverarbeitbare „runtergeschluckt“. Und immer dann, wenn diese unverarbeitbaren Brocken im Bauch landeten, meldete sich mein viertes Hirn. Es schrie laut: „Das ist nicht verdaubar!“
Was wäre, wenn…?
Ich bin dankbar, dass mein Körper solch
großartige Kräfte besitzt. Dass der menschliche Körper zu so vielen
unglaublich spannenden Mechanismen, Taktiken und Tricks fähig ist. Diese
schwere Zeit und diese schlimmen Erfahrungen haben mir die Möglichkeit
geboten, mir bewusst zu werden.
Wege gibt es viele.
Na, dann: „… gehe ich mal, um zu schauen, wohin ich komme, wenn ich gehe.“