Foto: Lars Hübner/YouTube Space

„Als Conchita habe ich gemerkt, wie unfair Frauen beurteilt werden“

Sänger und Drag-Künstler Tom Neuwirth alias Conchita ist einer der extravagantesten Figuren im internationalen Showbusiness. Im Interview mit uns spricht er über das Auftreten als Frau und die politische Situation in Österreich.

 

„Das Patriarchat ist immer noch wahnsinnig dominierend“

2014 gewann Tom Neuwirth als Conchita Wurst den Eurovision Song Contest für Österreich mit dem Song „Rise Like A Phoenix“. Damit wurde der Sänger und Drag-Künstler zu einer der ausgefallensten Figuren im internationalen Showbusiness und einem der lautesten Verfechter für die Rechte von Minderheiten. In der Zeit danach danach stellte er allerdings fest, dass Erfolg und Weltruhm alleine nicht glücklich machen.

Rund eineinhalb Jahre nach seinem Sieg hatte Tom eine depressive Phase, über die er mittlerweile offen spricht. Seitdem hat er eine Therapie gemacht und lebt sein Leben anders – aufmerksamer, bewusster. Den Nachnamen seiner Kunstfigur Conchita hat er abgelegt, mit seinem zweiten Album lässt er sich Zeit. Wir haben ihn zum Interview im YouTube Space Berlin getroffen und mit ihm darüber gesprochen, was er durch Conchita gelernt hat und wie er die aktuelle politische Lage in Österreich sieht.

Lieber Tom, du bist ein Mann, der in der Öffentlichkeit als Frau auftritt und wahrgenommen wird. Was macht Conchita zu sein mit dir?

„Seit den Anfängen von Conchita hat für mich eine Entwicklung stattgefunden. Am Anfang wollte ich, dass mich alle als Frau wahrnehmen, mit femininen Attributen verbinden und in weiblicher Form von mir schreiben: ‚die Sängerin‘. Mittlerweile fühlt sich das fast schon befremdlich an und ich sehe mich nicht mehr feminin, denn ich bin auch wahnsinnig gerne ein schwuler Mann. Deshalb sage ich auch auf der Bühne, dass Tom als Ansprache vollkommen in Ordnung ist und dass man auch in männlicher Form über mich sprechen kann. Das ist, was sich für mich richtig anfühlt.“

Und was hast du durch Conchita über Frauen gelernt?

„Was das Frauenbild anbelangt, habe ich als Conchita gemerkt, wie unfair Frauen beurteilt und wahrgenommen werden: Ich habe ja freiwillig Highheels und unbequeme Kleider getragen, die einfach nur fantastisch aussahen – aber viele Frauen machen das, weil sie einem gewissen Standard entsprechen müssen und es dieses vorgefertigte Frauenbild gibt. Das Patriarchat ist immer noch wahnsinnig dominierend. Wir sind weit von Gleichstellung entfernt – und dabei reden wir noch nicht einmal von sexueller Orientierung, sondern von Geschlechtern an sich.“

„Es ist gut, wenn man weiß, was man möchte, aber wenn man sich dadurch vor neuen Möglichkeiten, versperrt, wird sich nichts bewegen.“

Was meinst du, wie können sich Frauen – sprich: heterosexuelle Frauen – und queere Menschen zukünftig stärker gegenseitig supporten, um für ihre Gleichberechtigung in der Gesellschaft und gegen das Patriarchat einzutreten?

„Ich finde total nachvollziehend, was die amerikanische Komikerin Kathy Griffin dazu gesagt hat: nämlich, dass es unter Frauen ein riesiges Defizit gibt, dass sie sich gegenseitig kaum unterstützen – und dass viele für sich alleine stehen und für sich alleine kämpfen. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich keine Frau bin, aber man kann es nachvollziehen. Ich glaube, dass das auch ein Problem der queeren Community ist. Wir schreien alle nach Gleichstellung und Offenheit, aber dann liest man auf Grindr (Anmerkung der Redaktion: Dating-App für schwule und bisexuelle Männer) eine Liste von Eigenschaften, die man für viele Männer nicht sein darf, sonst braucht man die Typen gar nicht erst anzuschreiben. Es ist zwar gut, wenn man weiß, was man möchte, aber wenn man sich dadurch versperrt vor anderen Möglichkeiten – auch der Möglichkeit als Frau, anderen Frauen unterstützend beizustehen –, wird sich nichts bewegen. Es muss mehr Zusammenhalt untereinander geben.“

Als Conchita bist du von Anfang an für moderne, vielfältige Lebensentwürfe und für eine offene Gesellschaft eingetreten. Wie kam das? Wodurch bist du politisch geworden?

„Aus einem wahnsinnigen Egoismus! Weil ich einfach in einer Gesellschaft leben will, in der es mir gut geht. Und da ich mit dieser Einstellung nicht alleine bin, tarne ich mich mit Wohlwollen für viele andere (lacht). Wie alle will ich in einer Gesellschaft leben, in der ich akzeptiert werde und in der ich keinen Stress habe, auf die Straße zu gehen oder mit meinem Freund Händchen zu halten. Das ist ein sehr egoistischer Impuls, aber dankenswerter Weise denken viele so, und so können wir uns alle gegenseitig helfen.“

„Ich bin gern hysterisch, aber in manchen Dingen muss man bei der Realität bleiben.“

In Österreich verhandeln gerade die konservative ÖVP und die rechte FPÖ über eine Regierungskoalition. Wie fühlst du dich mit diesem Ausblick?

„Ich könnte kotzen im Strahl! Aber was soll ich sagen? Das Wahlergebnis war betäubend und ‚a lot to take in‘, aber nicht überraschend. Es ist, was das Land gewählt hat, und scheinbar wird dem Volk irgendetwas nicht gegeben, wonach aber gerufen wird, und wir leben in einer Demokratie. Aber ich plädiere auch dafür, dass die kommende Regierung für ein inkludierendes Österreich steht. Ich habe auf jeden Fall keine Angst, dafür habe ich keine Zeit. Das habe ich mir als Mantra auferlegt und verinnerlicht. Sobald ich das Gefühl habe, dass alles den Bach runtergeht und ich innerlich unbeweglich werde, dann reiße ich mich zusammen und werde konstruktiv – und nicht hysterisch. Ich bin zwar wahnsinnig gern hysterisch, aber in manchen Dingen muss man bei der Realität und den Fakten bleiben, und in der aktuellen politischen Lage würde ich mir wünschen, dass wir alle einfach aufmerksam und laut sind, nur definitiv nicht in dieser aggressiven Art und Weise, wie andere es gerade sind.“

Was heißt das für dich, laut und gleichzeitig konstruktiv zu sein? Was müssen wir deiner Meinung nach tun, damit Menschen wieder näher zusammenrücken und sich nicht noch stärker voneinander abgrenzen?

„Was ich in meiner kleinen Welt machen kann, ist, meine Message kundzutun bei Konzerten, in Form von Videos, Interviews etc. Ich erzähle bei meinen Konzerten zum Beispiel immer, dass es unglaublich viel Spaß bringt, fremden Menschen ein Kompliment zu machen. Wenn man das einmal getan hat, dann freut man sich selbst so, anderen damit eine Freude zu machen, und ein Tag geht ab diesem Moment in eine andere Richtung. So etwas ist, was ich versuche zu transportieren.“

„Ich habe mich in einer Opferrolle gesehen und nicht gewusst, warum ich da nicht rauskomme.“

In anderen Interviews hast du kürzlich offen über deine depressive Phase und deine Therapie gesprochen. Was haben die Therapie und die Erfahrung, die du im Zuge dessen gemacht hast, in dir bewegt? Und wie hat dich diese Zeit geprägt?

„Diese Zeit hat mich insofern geprägt, als sie wahnsinnig anstrengend war. Alles war unglaublich anstrengend und nichts konnte passieren, ohne dass ich es reflektiert und zerlegt habe. Ich habe ständig nach Antworten auf die Fragen in meinem Kopf und ständig nach der ultimativen Lösung für Probleme gesucht. Dabei habe ich mich in einer Opferrolle gesehen und nicht gewusst, warum ich da nicht rauskomme. Als ich dann verstanden habe, dass ich mich als ganze Person betrachten und auch akzeptieren muss, ist es besser geworden.“

Was hat dir in der Zeit geholfen?

„Ich habe sehr viele Gespräche mit meinen Freunden und meiner Familie geführt und sie darum gebeten, mir ganz ehrlich zu sagen, was sie von mir halten. Es hat gedauert, bis alle damit rausgerückt sind, was sie belastet oder beschäftigt hat, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Durch diese Gespräche habe ich festgestellt, dass sie mich noch immer lieben, obwohl ich Fehler gemacht habe und dass es nie zu spät dafür ist, sich für etwas zu entschuldigen. Und ich bin dadurch aufmerksamer geworden. Das Egozentrische in allen Ehren, aber es gibt Momente, in denen man sensibel mit anderen sein sollte.“

„Als ich alleine nicht weiterkam, habe ich mir professionelle Hilfe geholt. Das kann ich nur jedem sehr empfehlen.“

Was rätst du anderen Menschen, die in der Situation sind, in der du warst – die jeden Morgen aufwachen und sich scheinbar grundlos unglücklich fühlen?

„Ich habe mir an diesem Punkt, an dem ich keinen Grund gefunden habe, warum es mir schlecht geht, gesagt: Gut, das kann ich alleine nicht! Und dann habe ich mir professionelle Hilfe geholt. Und das kann ich jedem nur sehr empfehlen.“

Du bist ein Mensch, der anderen sehr viel Mut macht. Gibt es so jemanden für dich auch und was hast du durch die Person gelernt?

„Meine Großmutter, weil sie so kompromisslos ehrlich ist und ich besessen bin von der Wahrheit. Denn wenn ich nicht weiß, was Sache ist, bin ich total unentspannt. Und meine Großmutter lässt kein Jammern zu und es ist sehr schön, wenn dir das jemand sagt, dass du gerade jammerst. So etwas bringt einen dann nach vorn und dafür bin ich sehr dankbar.“

Tom Neuwirth alias Conchita im FEMALE FUTURE FORCE-Shirt. (Quelle: Instagram)

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