„Nur in Berlin kann ich sein, wie ich sein möchte – ohne mich in eine Schublade pressen zu lassen.“ Unsere Community-Autorin Laura hat eine Liebeserklärung an die Hauptstadt geschrieben.
Liebes Berlin,
heute muss ich dir das schreiben. Du warst für mich immer eine Affaire für höchstens drei Monate. Ich wollte niemals zu dir ziehen. Für einen Job bin ich dann doch gekommen – und jetzt ist der Job zwar weg, aber du bleibst. Und ich bleibe auch.
Liebes Berlin, du fuckst mich manchmal richtig ab, mit deiner schonungslosen Realität, deinen kalten Wintern und der Düsterniss (nicht nur im Winter). Und auch die Menschen erschrecken mich zu mancher Zeit. Ich bin eine sensible Person, die mehr wahrnimmt, als ihr manchmal lieb ist. Besonders, wenn alle Sinne ein Gemisch aus Staub, Dreck, Absturz, Armut, Müdigkeit, Frust, Erschöpfung mich mit dem heißen Dunst in dem Moment zu erschlagen droht, wenn ich in deine S-Bahn steige. Wenn ich mich durch die Menschen quetsche und versuche, irgendwo Halt zu finden. In der Bahn wie auch in meinem Leben momentan.
Angst umgibt mich – auch die davor, irgendwann zu der Hoffnungslosigkeit zu werden, die hier und da auftaucht. Doch dann schließe ich die Augen und lausche den elektronischen Klängen, die durch meine Kopfhörer in meinen Gehörgang drönen und zu einem Teil meiner Selbst werden. Und als ich dann lächelnd die Augen öffne, schaue ich in die Augen eines Mannes, der mich anlächelt und mir mit einem Grinsen seine Faust als Brofist hinhält. Ich stoße ein bisschen irritiert und doch berührt leicht mit meiner Faust dagegen und lächele kurz. Dann hält die Bahn und er steigt aus.
Ich darf hier sein, wer ich sein möchte
Doch das ist nicht alles. Ich möchte dir vielmehr danken für deine Offenherzigkeit, dass ich hier sein kann, wer ich möchte. Bei dir ist es mir ein Leichtes, meine feministische Seite auszuleben, mir das zu nehmen und danach zu suchen, was ich brauche. Ich höre auf, mich in eine Schublade zu stecken und erlebe mich selbst neu. Du lässt mir all den Raum, meine Lust, mein Bedürfnis nach Leben auszukosten, mich selbst auszutesten und herauszufinden, was es da noch alles gibt, hinter meiner Angst vor dem Scheitern. Manchmal wirkt es als würdest du mir entgegenschreien: Hör auf zu denken und mach es! Fang an! Scheiß auf die Zweifel, scheiß auf die Masken, scheiß auf die Schubladen, scheiß auf deine früheren negativen Gedanken, lass deine Selbstsabotage hinter dir und lebe! Los! Fang endlich an!
Du lässt zu, dass ich mich als Mensch sehe und mich als Frau annehme, ohne Rollenklischees, ohne Bilder, denen ich folgen muss, du glaubst an mich und lässt mir freie Hand.
Liebes Berlin, ich habe lange mit mir gerungen. Es war nicht immer leicht und ich weiß, es wird auch wieder schwierige Stunden geben. Und der Winter, der bei dir weitaus kälter, dunkler und ungemütlicher ist als in meiner alten Heimat, hat noch längst nicht begonnen. Doch du lehrst mich, was es heißt, zu leben, was es heißt, auf die innere Stimme zu hören, auf sich selbst zu vertrauen, was es bedeutet, sich selbst als allererstes gerecht zu werden.
Ich danke dir dafür, so arm du auch zu sein scheinst, so reich bin ich doch von dir inspiriert und bereits nach kurzer Zeit erfüllt mit all den Erfahrungen, Gedanken, Bildern und Momenten.
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