Foto: Flo Karr | unsplash

Was es mit Berlin zu tun hat, dass so viele Leute dort keine echte Nähe zulassen können

Wenn ich mit meinen Freunden in Berlin spreche, erinnern sie mich immer wieder an ein Grundgefühl, das auch meine Zeit in Berlin begleitet hat: Unsicherheit. Warum ist das so?

 

Unsicherheit beherrscht unseren Berliner Alltag 

Diese Unsicherheit drückt sich in Zweifeln an uns selbst aus – unserer Karriere, der Wohnungssituation, Freundschaften und Liebesbeziehungen. Ich selbst habe mich so oft gefragt, woher all diese Unsicherheiten in dieser verrückten Stadt stammen.

Sie bietet doch so
vieles. Die wachsende Startup-Szene gibt eigentlich jedem die Chance, seine noch
so verrückte Idee einfach mal in einem Unternehmen umzusetzen. Wer nicht gleich
ein eigenes Startup gründen möchte, kann sich in der Stadt beruflich austesten
und in diverse Unternehmen hineinspüren. Ob FinTech, E-Commerce, NGO oder
Agentur, alles ist möglich. Stattdessen lassen wir uns oft von vielen
Grundthemen verunsichern. Die geringen Löhne, eine scheinbar mangelnde
Investorendichte und kurzfristige Anstellungen in Startups verleiten eher zu
Zögern als zum Ausprobieren.

Mietsprünge von bis zu
200  oder gar 300 Prozent
 in den letzten Jahren ebenso wie die Schwierigkeit, eine
neue Bleibe zu finden, die unseren Ansprüchen genügt und nicht wie eine
absolute Bruchbude zum Horrorpreis anmutet, erhöhen die Unsicherheit noch mehr.
Sätze wie „Ich habe sechs Monate eine neue Wohnung gesucht“ oder „Eigentlich kann
ich mir eine eigene Wohnung nicht mehr leisten, sondern sollte eher wieder in
eine WG ziehen“ gehören heute zum Standard in den meisten Cafés von Mitte über
Kreuzberg bis Neukölln. In solche Gespräche bei Espresso oder abends in einer
verrauchten Bar bei Wein oder Bier mischen sich dann noch weitere Tendenzen.

Berlin
ist oft nur eine Zwischenstation – auf Dauer

Eine davon ist das ewige
„Ich will ja auch eigentlich gar nicht hier bleiben.“ Für so viele ist Berlin nur eine Zwischenstation. So viele
kommen nur für ein bis zwei Jahre, wollen sich ein wenig austoben und dann wieder
weiterziehen. Doch die Integration dieses Satzes „Ich will ja nicht hier bleiben“ in
unser Denken und Handeln hat weitreichende Folgen. Es beeinflusst die Art, wie
Freundschaften etabliert werden. Wenige Freundschaften in Berlin scheinen Potenzial
für eine lange Zukunft zu haben, sondern basieren lediglich auf der Annahme,
dass man eben den Moment teilt. Man geht zusammen feiern, tobt sich aus und
frühstückt vielleicht noch schön.

Trotzdem sind die eigentlich so wertvollen
Freundschaftsmomente implizit immer geprägt von einer gewissen Distanz. Denn
schließlich zieht man ja irgendwann weiter und muss sich darum auch nicht
unbedingt tiefer auf das Gegenüber einlassen. Dabei merken viele gar nicht,
dass sie ihre „Feierfreunde“ schon seit Jahren kennen beziehungsweise diesen Satz schon
seit drei, vier, fünf Jahren nutzen. Er hat sich in ihr Verhalten
eingeschlichen und ist eine Ausrede für die scheinbare Ungebundenheit geworden.
Unbewusst hat sich dieses Muster auch in Liebesbeziehungen eingeschlichen. Der
One-Night-Stand nach der Clubnacht ist zur Langfrist-Beziehung des Berlin-Nomadens
geworden. Denn wer nur nach Berlin kommt, um sich auszutoben, braucht sich ja
auch nicht auf eine richtige Beziehung einzulassen. Das macht auch alles viel
einfacher: Man muss dem anderen Menschen nur für eine Nacht in die Augen
schauen und sich weder mit den Problemen des Gegenübers noch mit seinen eigenen
konfrontieren. Wer hinterfragt schon das Leben eines Nomaden auf Zwischenhalt?

Woher
kommt die Kultur der Unsicherheit?

Die Unsicherheit
schleicht sich so in unzählige Bereiche unseres Lebens ein. Dabei scheint sich
keiner in dieser Stadt mal die Frage zu stellen: Woher kommt diese Kultur der
Unsicherheit eigentlich? Wenn wir ehrlich sind und uns tief in die Augen
schauen, wissen wir eines doch: Diese Unsicherheit schafft einen Mangel an
Vertrauen!  Uns fehlt das Vertrauen, uns
geerdet und verankert zu fühlen durch eine schöne Wohnung, zuverlässige
Freundschaften und ein Fallenlassen in eine Beziehung. Der ganze Blödsinn des Non-Commitments
ist doch nur eine Ausrede, die uns in einen Teufelskreis aus Unsicherheiten
reißt.

Betrachtet man das Ganze
einmal rein anatomisch: Der Mensch steht mit beiden Beinen auf der Erde, die
ihm Kraft gibt. Nimmt man Berlin als Stadt symbolisch für die Erde, haben wir
durch die Kultur des Nomadentums eigentlich eine Mangellandschaft für
Verwurzelung geschaffen. Die Unsicherheit, die durch steigende Mietpreise und
mögliche Jobverluste droht, tut ihr übriges.

Weiter hoch gewandert am
Körper ist Sex nur zu einer kurzfristigen Ersatzbefriedigung und zu
einem Symbol des ewigen Weiterziehens geworden. Dabei verwechseln viele die
kurzfristige Befriedigung mit einer ehrlichen Sehnsucht nach Nähe und
Geborgenheit.

Infolgedessen leidet auch unser
Herz, das sich eigentlich gar nicht mehr richtig auf andere einlassen kann –
weder freundschaftlich noch liebend. Dabei haben wahrscheinlich die wenigsten
Menschen ein Herz, das sich nicht nach Liebe, Verständnis und Fallenlassen
sehnt. Leider können wir diesen Wünschen gar nicht mehr richtig Ausdruck
verleihen, weil unser Mund ständig betont, „dass wir aktuell keine Beziehung
wollen“, und „nicht auf ewig in Berlin bleiben“, sondern uns nur „gerade
ein bisschen ausleben.“ Als Nahrung reicht da schon mal ganz viel Alkohol,
wenig Schlaf und der leichte Wirbel der Erschöpfung im Körper.

Können
wir gemeinsam ein Fundament für große Träume schaffen?

Doch ich bin mir ganz
sicher, nur wenn wir es schaffen mit beiden Beinen auf dem Boden zu
stehen, können unsere Träume, Hoffnungen und Wünsche wirklich in den Himmel
wachsen. Wie soll es unser Kopf schaffen, Ideen und Träume auszudrücken und umzusetzen, wenn der Körper und der Geist keine Kraft aus
einem stabilen Fundament ziehen können?

Ich habe dieses Bild im
Kopf, in dem jeder Einzelne von uns Berliner Nomaden wie ein Baum aus der Erde wächst.
Durch dieses so genannte ‚Grounding’ verwurzeln
wir, schaffen Stabilität und schöpfen Energie. Stabilität gibt auch Kraft, die wir an wahre Freundschaften, ehrliche Partnerschaften und unser Umfeld weitergeben können. Ein Baum, der wächst, steht für so vieles:
Schatten, Geborgenheit, Halt und frische Luft. Die Kraft, die wir als Berliner Nomaden-Bäume schaffen, kann uns
helfen, ehrlich zu uns und anderen zu sein. Vielleicht öffnet sie sogar unser
Herz und unseren Geist, so dass wir unsere eigenen Träume noch mehr spüren. Als
wachsende Bäume greifen wir immer mehr nach den Sternen. Diese Kraft gibt jedem
einzelnen von uns die Chance, unsere Ideen Wirklichkeit werden zu lassen und
gleichzeitig als Wald aus verwurzelten Individuen Berlin stabiler, kontinuierlicher und ehrlicher zu
machen.

Berlin ist ein Magnet für
die ganze Welt geworden und es ist unsere Entscheidung, ob wir uns weiter
verunsichern lassen oder stattdessen die Unsicherheit verstehen. Wer weiß, vielleicht nimmt ja auch der eine oder andere Besucher unsere Botschaft mit in die weite Welt. 

Gemeinsam können wir alle mit beiden Beinen auf der Erde stehen,
nach den Sternen greifen und vielleicht sogar ein inspirierender Wald in der strahlenden Berliner Sommersonne werden. 

Ein kleiner Gruß aus der Ferne!


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