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Die Schuld der Anderen… oder die Chance der Verantwortung

Die Schuld der Anderen (von Gila Lustiger) heisst eines meiner Lieblingsbücher der vergangenen Jahre. Ein als Ermittlungsroman getarntes philosophisches Buch über den Zustand unserer Gesellschaft. Die Schuld der Anderen wird, wenn wir nicht aufpassen, auch zum Titel der Ergebnisse des G20-Gipfels in Hamburg.

 

Ein höchst menschlicher Grundzug, die Schuld erstmal weit von sich zu weisen, fast schon reflexartig, um bloß nicht mit eigenen Gedanken konfrontiert zu werden, denn diese könnten ja schmerzhaft sein. Und diese schnellen Schuldzuweisungen in alle Richtungen eint in diesem Fall so viele: Presse, Politiker und Bürger – egal welcher Couleur… 

Die schnelllebige Zeit fordert schnelle Reaktionen. Unsere Gesellschaft erwartet schnelle Erklärungen, schnelle Ergebnisse. Laut fordert sie, dass schnell „Köpfe rollen“.
Es erfordert ein hohes Maß an Besonnenheit um in solchen Situationen mit einem übergeordneten Blick die Dinge zu erfassen und ein hohes Maß an Charakterstärke um entsprechend standfest und zielorientiert sprechen und handeln zu können. Und doch ist es genau jetzt so wichtig, nicht vorschnell Schlüsse zu ziehen, nicht vorschnell Urteile zu fällen, nicht vorschnell Entscheidungen zu treffen, oder diese zu erwarten, nicht vorschnell uns selbst die Möglichkeiten zu nehmen aus der Tragödie der letzten Tage zu lernen. 

Wir wundern uns über diese verrohte Jugend, die sich mit einer unvergleichlichen Brutalität an Zerstörung berauscht. Und auch mir steckt – anlässlich der Bilder und der Stimmung der letzten viel zu langen Tage und Stunden – der Schock noch in den Knochen…

Doch wir müssen achtsam sein und uns jetzt unserer Verantwortung bewusst werden, denn diese vermummten Gestalten sind unser aller Kinder. 

Diese verrohten Jugendlichen sind nicht auf einem von uns unabhängigen Planeten fremdgezüchtet worden und dann in den letzten Tagen über unsere geliebte Stadt, unser geliebtes Land, eingefallen. Nein, sie sind auch Kinder unserer Gesellschaft. Kinder, denen jeder einzelne von uns, mit seinen Meinungen und seinen Handlungen, Tag für Tag, vorlebt was uns wichtig ist, was wir möchten was uns als Individuen und als Gesellschaft prägt, welche Werte wir wirklich wertschätzen. 

Und schon wieder dieser verflixte Reflex: Nicht meine Kinder, sicherlich nicht! Es ist Die Schuld der Anderen… Die Schuld der Politiker, der Mächtigen, die Schuld der Proleten, der Asozialen, die Schuld der Flüchtlinge, der Ausländer, die Schuld der Nachbarn, der Anderen.

„… enttäuschende Ergebnisse sind nicht notwendigerweise eine Folge von vermeidbaren Fehlern. Aber sie bieten immer die Chance, mit dem Leben, so wie es sich jetzt gerade zeigt, neu ins Gespräch zu kommen“, schreibt die Philosophin Natalie Knapp in ihrem Buch Der unendliche Augenblick – Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind. 

Und sie schreibt weiter: „… und was uns heute als Katastrophe erscheint, könnten wir in einigen Tagen oder Jahren als glückliche Fügung betrachten, als entscheidenden Wendepunkt…“.

Es liegt an jedem einzelnen von uns, was wir als Gesellschaft aus dieser Katastrophe machen und ob die Geschehnisse der letzten Tage – durch unsere täglichen Handlungen, durch unsere täglichen Worte, durch das Leben und Weitergeben unserer Werte – zu einem entscheidenden Wendepunkt in Richtung einer friedvolleren und respektvolleren Gesellschaft werden. 

Nina Schmid, 9. Juli 2017

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