Oder: Erdogans Politik aus der Perspektive einer Türkin aus Istanbul
Ich habe eine Freundin, sie lebt und stammt aus Istanbul. Sie hat studierte dort und arbeitet seit Jahren als Tänzerin. Sie ist wunderschön, sehr intelligent und rackert sich ab bis zum Limit. Wir skypen regelmäßig, ich wollte sie endlich mal in Istanbul besuchen. Doch sie riet mir, voerst nicht dorthin zu kommen. Sie sagt, es wäre im Moment sinnlos, denn wir könnten nirgendwo hingehen. Ich schlucke, denn nun hätte ich Zeit und ich vermisse sie. Doch ich verstehe es auch. Nachdem wir wieder einmal sehr lange geskypet haben, verstehe ich, wie sie es damals meinte.
“Es ist gefährlich, du kannst nicht überall sagen, was du denkst. Du musst auf deine Gedanken acht geben.” Das war vor ein paar Jahren, da wurde in der EU noch diskutiert, ob die Türkei beitreten solle oder nicht. Aus deutscher Sicht sieht einfach alles anders aus, oder sagen wir es lieber so: aus der europäischen Sicht. Damals habe ich sehr viel gearbeitet und das Studium war auch noch da. Es war kaum Zeit an einen Urlaub in Istanbul zu denken. Nun, nach Abschluss des Studiums und Beginn des neuen Lebensabschnittes mit einem ersten “richtigen” Job, da ist es nicht möglich, hinzufliegen?
Wir reden über die Arbeit und über die Situation in ihrer Stadt. Ich frage sie, ob sie sich sicher fühlt, sie sagt: “Naja ich denke darüber nicht so viel nach, das Sorgen bringt ja auch nichts.” Und da schlucke ich und sie schimpft mich, dass sie mir nichts mehr erzählen wird, wenn ich davon so traurig werde. Ich weiß, eigentlich steht es mir garnicht zu, traurig zu sein. Sie erzählt davon, dass sie für ein paar Monate in die USA gehen möchte, für ein paar Jobs, ihr Kontaktnetz aufbauen. Und dann frage ich sie, was sie denn davon abhält, denn das klingt nach einer sehr guten Idee in meinen Ohren. Sie sagt, sie weiß nicht, ob sie ein Visum bekommt.
“Die Akademiker werden fast nicht mehr aus dem Land gelassen.” Erst verstehe ich das nicht, doch sie fügt noch an: “Du weißt nie, ob du den Flug, den du gebucht hast, wahrnehmen wirst. Denn nicht jeder wird aus dem Land gelassen. Es wird alles streng kontrolliert, du musst auch gut begründen, was du im Ausland machen willst.” Solche Kontrollen kenne ich vom Hörensagen nur aus den USA, wenn man dort einreisen möchte und bereits in einem Land war, was (aus US-amerikanischer Sicht) als gefährlich gilt. Aber die eigenen Landsleute nicht aus dem Land zu lassen?
Sie hat viel Geduld mit mir und ich fühle mich plötzlich so naiv. Mit meiner europäischen Brille, mit dem Pass, der mir in fast jedem Land Einlass gewährt. Umso froher und dankbarer bin ich für diese Freundschaft, die seit Jahren lediglich über Skype, Whats-App und ähnliche Medien funktioniert und hält. Und ich bekomme den Eindruck: selbst wenn in unseren Medien etwas über Erdogan und seine Politik berichtet wird, ich werde dazu meine Freundin befragen, wie das für sie ist. Sie ist viel direkter am Geschehen und erlebt die Schwingung und Spannung tatsächlich. Und sie kann mir auch sehr genau erklären, welche Gruppen wie agieren und was es wahrscheinlich damit auf sich hat.
In diesem Sinne appeliere ich dafür, sich allumfassend zu informieren und nicht nur das, was in unseren Nachrichten als richtig und wahr dargestellt, ernst zu nehmen. Denn mit jeder “Brille” sieht der “Gegenstand” anders aus.