Inklusion? Das ist ein Thema, das heiß diskutiert wird, aber noch nicht wirklich in der Gesellschaft angekommen ist. Woran es noch hapert, darüber haben wir mit Bloggerin Laura Gehlhaar gesprochen, die im Rollstuhl sitzt.
„Bekommt ein Kind eine Behinderung diagnostiziert, ist das Leben dieses Kindes vorprogrammiert“
Wie ist das Leben mit einer Behinderung und warum fällt es Menschen ohne so schwer, unverkrampft mit dem Thema umzugehen? Wir haben mit der Bloggerin und Autorin Laura Gehlhaar, die erst kürzlich über ihren Alltag als Rollstuhlfahrerin ein Buch mit dem Titel „Kann man da noch was machen?“ veröffentlicht hat, über Inklusion und die Macht der Sprache gesprochen und wo sie im täglichen Leben nicht die gleichen Rechte hat, wie Menschen ohne Behinderung.
Du schreibst auf deinem Blog: Inklusion ist in der Praxis noch nicht angekommen. In welchen Situationen merkst du das besonders?
„Dass Inklusion in der Praxis noch nicht angekommen ist, wird mir schon bewusst, wenn ich das Haus verlasse. Bewege ich mich auf den Straßen, kommt es mir vor, als ob ich mich auf einer Bühne befinden würde. Leute gucken mich an, immer ein paar Sekunden länger, bleiben stehen, drehen sich nach mir rum. Das kann natürlich auch daran liegen, dass ich unglaublich gut aussehe, aber wenn diese Leute dann plötzlich mit dem Finger auf mich zeigen, mich ungefragt anfassen und mir anerkennend sagen: ‚Mensch toll, dass Sie auch rausgehen!‘, weiß ich, dass ich gerade einzig und allein wegen meiner Behinderung sehr viel Aufmerksamkeit bekommen habe. Und es zeigt mir, dass die Begegnung mit behinderten Menschen für die meisten eben keine Normalität ist.“
Was glaubst du, würde helfen, um hier endlich etwas zu verändern?
„In Deutschland werden Menschen mit Behinderungen systematisch ausgegrenzt. Bekommt ein Kind eine Behinderung diagnostiziert, ist das Leben dieses Kindes vorprogrammiert: Es kommt auf eine Sonderschule, später ins Wohnheim und wird von diesem jeden Morgen mit dem Telebus in die Behindertenwerkstatt gefahren, um dort für einen monatlichen Lohn von 76 Euro für den Rest seines Lebens zu arbeiten. Ich wünsche mir, dass bei Menschen und gerade bei Menschen mit Behinderung generell mehr auf Talente und Fähigkeiten geschaut wird und ihnen das Recht auf Bildung durch Barrieren oder bürokratische Blödsinn nicht entzogen wird. Denn nur dann, wenn Menschen mit Behinderung in der gesellschaftlichen Mitte ihren Platz finden können, sie das Straßenbild mit prägen und am ersten Arbeitsmarkt zu finden sind, kann das Merkmal Behinderung als etwas Normales, Alltägliches begriffen und gelebt werden.“
„Manchmal ist es fast wie Sex mit meinem Rollstuhl: Er quietscht, ich stöhne.“
Man spricht bei Rollstuhlfahrern/innen gerne davon, dass sie „an den Rollstuhl gefesselt“ sind. Kannst du diesen Satz mit dir in Verbindung bringen? Oder warum ist das vielleicht sehr problematisch?
„Für mich ist diese Floskel deshalb problematisch, weil Sprache Wirklichkeit schafft. Ein Satz, den ich auch ständig höhre ist: ‚Sie leidet an…‘ Aber ich leide nicht an meiner Erkrankung, durch die ich auf einen Rollstuhl angewiesen bin, sondern ich lebe ganz einfach mit ihr. Und wie in jedem anderen Leben auch gibt es gute und weniger gute Tage. Auch fesselt mich nichts an meinen Rollstuhl. Er ist mein Hilfsmittel, durch ihn bin ich mobil, kann mich frei bewegen und fühle mich sicher. Mein Rollstuhl ist ein Körperteil von mir geworden, ich mag ihn und habe eine gute Beziehung zu ihm. Und manchmal ist es fast wie Sex mit meinem Rollstuhl: Er quietscht, ich stöhne.“
Im Vorwort deines aktuellen Buches heißt es: „Laura ist ganz normal. Und es wäre cool, wenn andere auch normaler im Umgang mit ihrer Behinderung wären.“ Geht es dabei mehr um Unsicherheiten oder hast du auch mit Anfeindungen zu kämpfen?
„Oh, das Vorwort hat ‚der Mann‘, mein Freund, geschrieben. Inzwischen glaube ich allerdings, dass er mich gar nicht mehr für so normal hält. Aber mal im Ernst: Allein wegen eines Merkmals Anfeindungen zu erfahren, tut verdammt weh. Es zeugt von wenig Reflexionsvermögen. Unsicherheiten der Leute auf meine Behinderung bezogen, kann ich wiederum nachvollziehen. Wenn ich etwas noch nie gesehen habe, reagiere ich vielleicht auch unsicher, bin neugierig und möchte wissen, was da los ist. Und dann wären wir wieder am Anfang: wenn Behinderte und Nichtbehinderte selbstverständlich miteinander aufwachsen, würde man das Bild einer Frau im Rollstuhl als eine ganz normale Gegebenheit betrachten. Auf mir zu lang ruhende Blicke würden wegfallen, man wäre weniger neugierig, weniger unsicher und alle könnten sich mal entspannen.“
Wie würdest du diesen Satz beenden: „Ein Mensch mit Behinderung zu sein, ist …“
„… in einer Gesellschaft, in der man Meister im Kategorisieren und Stigmatisieren ist, kein leichtes Los. Als Mensch mit einer Behinderung erfahre ich nicht die gleichen Rechte, wie Menschen ohne Behinderung. Im öffentlichen Verkehr kann ich mich nur beschränkt fortbewegen, ganz einfach, weil es nicht überall Aufzüge gibt. Oft höre ich dann, ich solle doch dankbar sein, dass es überhaupt ein paar Aufzüge gibt. Dabei ist das aber mein Recht, mich im öffentlichen Nahverkehr frei bewegen zu können. Ich kenne keinen, der sich morgens dafür bedankt, weil er U-Bahn fahren darf. Und bevor sich jetzt wieder alle beschweren, dass die Behinderte hier nur rumnöhlt, noch das: Durch meine Behinderung sehe ich die Dinge aus einer anderen Perspektive. Und das macht mein Leben sehr interessant.“
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