Foto: Agora Collective

Alice Grindhammer baut einen Prototyp für eine bessere Welt

Alice Grindhammer ist eine unserer „25 Frauen, die unsere Welt besser machen”. Ihr neuestes Projekt: Eine alte Lagerhalle in Neukölln, in der nun an einer besseren Welt gebastelt wird. Ein Hausbesuch.

 

Es geht auch anders!

Alice Grindhammer ist eine der 25 Frauen, die wir dieses Jahr für ihr Engagement für eine bessere Welt ausgezeichnet haben. Ihr Herzensthema: Nachhaltigkeit. Ihr Weg dahin? Erst einmal eher untypisch: Studiert hat sie nämlich Politikwissenschaften und Soziologie im Bachelor und European Business mit Schwerpunkt auf „Finance” im Master. Schon immer war sie kritisch gegenüber dem vorherrschenden Wirtschaftssystem und wollte verstehen, wie es funktioniert, um es verändern zu können. Das ist nun fast zehn Jahre her.

Wir treffen uns an der Hermannstraße in Berlin-Neukölln. Die Hermannstraße ist wahnsinnig laut und liegt in dem Teil von Neukölln, in dem noch der tiefergelegte BMW und nicht das neueste Kinderwagenmodell Statussymbol Nummer eins ist. An eine „Werkstatt der Nachhaltigkeit” denkt man hier erst einmal nicht. Genau das soll Alice Projekt „Agora Rollberg” aber sein.

Die Halle liegt auf dem Gelände der ehemaligen, teilweise noch erhaltenen Kindl-Brauerei. Direkt vorn an der Hermannstraße liegt die ehemalige Schankstube. Um von dort aus zum Rollberg zu gelangen, müssen wir aber erst einmal ein kleines Einkaufszentrum, das von 1960er-Jahre-Baucharme strotzt, sowie das Arbeitsamt, das sich um die rund 10.000 Arbeitslosen in Neukölln kümmert, durchqueren. Erst dahinter liegt der Teil des Geländes, auf dem die Halle steht, in der eine bessere Zukunft entstehen soll. Auf dem kurzen Weg zum Rollberg schafft Alice es, mir einen Vortrag über das Brauwesen zu halten, mir die Struktur des Stadtteils zu erklären und zu berichten, wie die Halle durch den Kauf der Schweizer Stiftung „Edith Maryon“ der Spekulation entzogen werden konnte. Die Stiftung macht eine 100-jährige soziale, kulturelle und ökologische Nutzung möglich macht – aus jedem Satz von Alice sprüht Begeisterung. Es macht Spaß zuzuhören, ihr Tatendrang ist ansteckend.

Es war einmal ein großer Berliner Miethai …

Vor der Halle angekommen, erklärt sie mir das Konzept. Bereits hier draußen findet die Grundidee vom Agora-Rollberg Anwendung: Der Platz, früher verschlossen, ist nun von allen Seiten zugänglich, ein bisschen wie ein zentraler Marktplatz. Auch die Stadt hat hier investiert. Das Rollberg-Gelände soll nämlich zur Aufwertung der Nachbarschaft dienen – dank Alice und ihrem Mitgründer ausnahmsweise nicht durch teure Eigentumswohnungen. 

Die Geschichte, wie Alice, ihr Mitgründer Simon und das Team des Agora Collectives die Halle kaufen konnten, gleicht deshalb auch einem modernen Großstadtmärchen: Im ersten Schritt wurde ihr Kaufangebot von einem bekannten Berliner Immobilienentwicklers ausgestochen. Über ihr Agora-Netzwerk bekamen sie dann aber den Kontakt zur Schweizer Edith-Maryon-Stiftung, die sich gegen Immobilienspekulationen einsetzt. Gemeinsam mit der Stiftung konnte das Agora-Collective das Gebäude dann doch noch kaufen. Ein echter Sieg gegen die Miethaie dieser Stadt.

                                           
Während der Entrümplungsaktion auf dem Rollberg. (Quelle: Agorarollberg – Instagram)

Das war Ende letzten Jahres. Seitdem ist viel passiert: Die Halle musste erst einmal entrümpelt und saniert werden – kein leichtes Unterfangen, wenn das oberste Ziel heißt, so wenig Müll wie möglich zu hinterlassen. Im Laufe der Zeit sollen noch zwei Etagen aufgestockt werden. Das Grundprinzip dabei: zirkuläres, also nachhaltiges Bauen. 

„Die Baubranche in Deutschland ist für über 60 Prozent des Mülls verantwortlich. Der größte Teil wird nicht recycelt. Das heißt, einfach gesagt: Häuser sind die Müllhalden von morgen. Da haben wir uns die Frage gestellt, ob man ein Haus nicht auch als Ressourcenlager betrachten kann? Kann man ein Haus so bauen, dass man Teile davon bei Bedarf wieder rauslösen und woanders neu verwenden kann?”

Nachhaltigkeit mitten in der Stadt

Genau dafür soll das Agora-Rollberg ein Versuchslabor werden. Hier soll nachhaltiges Wohnen, Arbeiten und Leben verbunden werden. Ateliers für Künstler gibt es bereit, bald soll es auch noch ein Café geben. Gebaut werden soll – und wird auch schon – so viel wie möglich selbst.

„Seit zwei Monaten sind wir vor Ort. Wir bauen ganz viel selber, zum Beispiel unsere Tische, das ganze Büro, weil wir versuchen selbst zu entwickeln, was es eigentlich heißt zirkulär oder nachhaltig zu bauen, Materialien so einzusetzen, dass es ganz wenige Verschnitte gibt, ganz wenige Schrauben, wenig Verklebtes, sodass man Dinge wieder auseinanderbauen und anders zusammensetzen kann. Das müssen wir einfach selber machen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was zirkuläres Bauen heißt. Wir wollen ja auch, dass unsere Architekten später die Aufstockung auf die Lagerhalle nachhaltig bauen. Diesen Monat machen wir auch einen Workshop mit einer großen Architekturfirma zu dem Thema.”

Dieser Workshop findet im Rahmen einer sechswöchigen „School for Circular Practices” statt. Eineinhalb Monate lang finden ab dem 4. November im Rollberg Veranstaltungen zu den Themen: Ernährung, Habitat, Finanzierung, Verkauf, Kleidung, Open Source, Diversity und Community statt – denn, so die Idee hinter Alice Projekt, nur wenn all diese Bereiche intersektional miteinander gedacht werden, kann ein nachhaltiges System Anwendung finden und in der Welt wirklich etwas verändert werden. Gebraucht wird dabei jeder, der Lust hat: „Wir wollen von Anfang an die Türen öffnen”, erklärt Alice. „Die Leute sollen nicht nur professionell angesprochen werden, sondern auch ein Erlebnis haben, persönlich berührt werden von einem Thema, weniger Druck empfinden und eine persönliche Motivation für Veränderung entwickeln, während sie sich mit dem Rest der Community verbunden fühlen können.”

                                   

Die Fenster der Halle werden in Eigenregie repariert. (Quelle: Agoragrows – Instagram)

Am Beispiel des sechswöchigen Programms lässt sich gut erkennen, welchen handfesten Beitrag das Team um Alice zu einer nachhaltigen Zukunft leisten können. 

„Wir wollen die finanziellen Aspekte sowie die operativen Aspekte transparent machen und gleichzeitig die möglichen positiven Auswirkungen aufzeigen. Beide Aspekte gebündelt, ich glaube, das gibt es noch sehr selten. Warum machen Leute keine eigenen Projekte? Weil die finanziellen Barrieren sehr hoch sind. Weil viele sich nicht trauen, weil sie nicht wissen, woher sie ein Anfangsinvestment bekommen, ob sie überhaupt eins brauchen. Wir wollen ein dezentrales Netzwerk werden, das Produzenten und Macher beinhaltet und diese Fragen für alle beantwortet.”

Alice und ihrem Team geht es also um ein gemeinsames Lernen – von dem auch sie selbst nicht ausgeschlossen sind:

„Man merkt mit jedem Schritt, wie schwer nachhaltiges Leben ist: Egal, ob man jetzt Klamotten kauft, was isst oder trinkt, es entsteht permanent auch Müll. Da versuchen wir genauer hinzuschauen und herauszufinden, wie wir konsumieren und produzieren müssten. Ich glaube, es ist wichtig, von einer positiven Seite an das Thema ranzugehen, kleine Erfolgserlebnisse, weil es wirklich unglaublich schwer ist.”

Aber, wie nachhaltig lebt Alice eigentlich selbst?

„Meine Frau scherzt oft darüber, dass ich im Winter immer total strahle, wenn ich meinen Mantel anziehe, der vor Jahren einer meiner letzten Neukäufe war und den ich immer noch sehr liebe. Ansonsten erbe ich sehr viel von meiner Schwägerin und als Lesbe habe ich natürlich den Vorteil, die Garderobe meiner Frau mit nutzen zu können. Da schaffe ich es mittlerweile häufig, tatsächlich zirkulär zu leben.”

Sie gesteht aber auch ihre eigenen Schwachpunkte ein: „Wenn ich mir meinen Müll zuhause anschaue, sehe ich, dass, obwohl ich ein Bewusstsein dafür habe und in dem Bereich arbeite, am Freitagnachmittag trotzdem zwei volle Mülltüten vor mir stehen. Wie kann das sein?”

Daran will die junge Gründerin unbedingt arbeiten. Deshalb wird Alice selbst zu dem Workshop gehen „Wie kann ich im Alltag nachhaltiger Leben”, der im Rahmen des sechswöchigen Programms angeboten wird. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr sie Teil ihrer eigenen Vision ist. 

Ein nachhaltiges Wirtschaftssystem – Geht das überhaupt? 

Projekten, die ein nachhaltiges Wirtschaftssystem durchsetzen wollen, wird oft Realitätsferne vorgeworfen. Solche Dinge mögen vielleicht im Kleinen funktionieren, sind im Großen aber zum Scheitern verurteilt. Den Vorwurf kann man Alice und ihrem Team nur schwer machen. Im Agora Rollberg sollen im kleinen Prototypen geschaffen werden, die dann, dank des Open-Source-Gedankens und mit Hilfe der Community, in die ganze Welt getragen werden. Der Rollberg ist dabei eine Metapher, eine Werkstatt der Nachhaltigkeit eben.

„Wir haben einen 2.000 Quadratmeter großen Prototyp, alles was wir uns überlegen, können wir direkt ausprobieren, umsetzen und sichtbar machen – natürlich werden wir dabei auch oft scheitern, aber das ist auch ok.”

Das Besondere an Alice ist auch, dass sie große Unternehmen nicht als Feind sieht, dazu haben sicherlich auch ihre Erfahrungen in einem großen Berliner Recyclingunternehmen beigetragen, für das sie nach dem Studium mehrere Jahre gearbeitet hat. Zu Beginn hat sie dort Zu- und Verkäufe in Süd-West-Europa begleitet, ist dann Assistentin des Vorstands in Deutschland geworden, hat für diese Problemfelder des Recyclings analysiert und Konzepte entwickelt, wie man diese Probleme lösen kann. Dann hat sie, gemeinsam mit einem Kollegen, dem Vorstand vorgeschlagen eine eigene Abteilung für Waste-Management und Recycling im Mittleren Osten aufzubauen. Dort war sie zwei Jahre tätig, war viel in der Golfregion und in Krisengebieten wie Afghanistan und Pakistan, wo sie die Entsorgung von Sonderabfällen organisiert haben. In Ländern wie Jordanien und Tunesien hat sie außerdem Infrastrukturprojekte geleitet. In dieser Zeit hat Alice auch gelernt, Verantwortung für finanzielle Aspekte zu tragen: Wie setzt sich eigentlich ein Umsatz zusammen? Welche Kosten fallen darunter? Ab wann rechnet sich ein Projekt? Dieses Wissen hilft ihr und ihrem Team jetzt bei ihrem eigenen Projekt sehr. Alice ist viel rumgekommen. Sie weiß, was realistisch möglich ist. Und das scheint viel mehr zu sein, als wir uns vorstellen können.

Das „Labor der Nachhaltigkeit” nach der Entkernung. (Quelle: Agorarollberg – Instagram)

Hand in Hand mit der Wirtschaft – anders geht es nicht 

Die Unternehmen sind für Alice dabei ein wichtiger Partner. Sie ist sich sicher, dass man Brücken schlagen kann in die Institutionen und in die Unternehmen. Diese Brücken herzustellen, ist eines ihrer Kernanliegen. Sie und ihr Team wollen mit den Behörden zusammenarbeiten, nicht gegen sie. Pessimismus wird man von Alice nicht zu hören bekommen: „Wir wollen mit großen Firmen zusammenarbeiten, weil wir glauben, dass wir es nur im Netzwerk und gemeinsam schaffen können, diesen Wandel voranzutreiben. Wir wollen kein Nischenprojekt, kein Außenseiter sein.” Warum auch?, fragt man sich, wenn man sie von ihrem Projekt sprechen hört.

                                 

Das „Labor der Nachhaltigkeit” nach der Entkernung. (Quelle: Agorarollberg – Instagram)

Ihre Vision?

„In zehn Jahren ist das hier eine Schule, in die man zu jeder Tageszeit gehen kann, um zu lernen, was man machen muss, um nachhaltig zu leben. Wie kann ich aus Kaffeesatz Pilze machen? Was heißt Nachhaltigkeit für die Gastronomie, für den Bau, für die verschiedenen Branchen? Hier soll man hinkommen können als Mitarbeiter einer Firma, oder als Hacker und Maker und auch als interessierte Privatperson, um interdisziplinär zu allen Facetten der Nachhaltigkeit Kurse zu belegen. Nachhaltiges Wohnen, Arbeiten und leben soll hier möglich sein.”

Hoffnung für die Zukunft 

Am Ende meines Besuches stelle ich fest, dass Alice es geschafft hat, die Dringlichkeit ihres Anliegens auf eine wahnsinnig positive Art zu vermitteln. Sie betont immer wieder, dass sich etwas ändern muss, wir eigentlich gar keine andere Wahl mehr haben als Wirtschaft neu zu denken. Dabei gelingt es ihr allerdings keinen negativen Druck aufzubauen, viel mehr schafft sie es, ihren Macherwillen auf ihr Gegenüber zu übertragen. Das Projekt einer besseren, nachhaltigeren Welt scheint nach einer Begegnung mit ihr viel weniger utopisch. Vielleicht auch, weil sie immer wieder betont, dass sie und ihr Team nicht den Anspruch auf die perfekte Lösung für sich reservieren, viel mehr begreifen sie sich als ein Ort, an dem die Frage gestellt werden soll: Wie kann es gehen?

Eine sehr wichtige Antwort geben Alice und ihr Team aber doch schon: Gemeinsam, vielfältig und auf Augenhöhe muss es passieren. Dann kann aus dem oft sehr elitären Projekt der Nachhaltigkeit etwas Gesamtgesellschaftliches erwachsen, das den Leuten hilft, die am meisten unter unseren Müllbergen leiden: „Soziale Probleme und Umweltprobleme hängen zusammen, häufig spüren nur sozialbenachteiligte Gruppen die Folgen unseres Verhaltens. Unser ökologisches System hat viel Einfluss auf die Lebensumstände in der Welt und trägt Verantwortung für die degradierenden Lebensumstände, in denen viele Menschen sich befinden. Kann man das umkehren?”

Als heute Mitt-Zwanzigerin habe ich oft das Gefühl einer Generation anzugehören, die überall immer ein bisschen zu spät kommt: Ich wurde ein Jahr nach dem Mauerfall geboren, ich war genau drei Jahre zu jung, um den großen Hype der Boy- (und noch viel wichtiger) und Girl-Bands mitzumachen und ich bin nur knappe zehn Jahre zu spät nach Berlin gezogen, um noch sagen zu können: „Also, ich hab ja noch für 200 Euro in einer riesigen Wohnung auf der Torstraße gewohnt.” Das Projekt von Alice ist endlich mal ein Ort, der mir das Gefühl gibt, dem Anfang von etwas sehr Wichtigem gegenüberzustehen – auch, wenn es sicherlich nicht einfach wird.

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