Die Alternativmedizin boomt, der Besuch beim Heilpraktiker gehört bei vielen Beschwerden heute fast schon zum guten Ton – die Schriftstellerin Anousch Mueller ist während ihrer Ausbildung zur Heilpraktikerin zur Skeptikerin geworden und hat das Buch „Unheilpraktiker“ geschrieben. Uns hat sie zum Beispiel erzählt, warum sie gerade Mütter vor alternativen Heilmethoden warnen will.
Aberwitzige Heilsversprechen der Alternativmedizin?
Die Schriftstellerin Anousch Mueller wollte selbst Heilpraktikerin werden – nachdem sie durch ihre eigene Leidensgeschichte mit der alternativen Medizin in Berührung gekommen war. Doch was sie auf der Heilpraktiker-Schule erlebte, schürte nicht nur Zweifel, sondern ließ sie zu einer großen Skeptikerin alternativer Heilmethoden werden. Nach der zweijährigen Ausbildung entschied sie sich dagegen, als Heilpraktikerin zu arbeiten. Vor wenigen Wochen ist ihr Buch erschienen, in dem sie sich kritisch mit den Heilsverprechen der alternativen Medizin auseinandersetzt. Darin heißt es: „Für viele Patienten sind Heilpraktiker die letzte Hoffnung – versprechen sie doch eine natürliche, ganzheitliche, menschlichere Medizin, die sich von der kalten Apparatemedizin abgrenzt. Nur wenige wissen jedoch, worauf sie sich womöglich einlassen: Es gibt keine geregelte Ausbildung. Heilpraktikeranwärter werden mit irrationalen Theorien indoktriniert. Und während von medizinisch sinnvollen Behandlungen abgeraten wird, muss mancher Patient als Versuchskaninchen für heillose Praktiken herhalten“. Das klingt ganz schön heftig – wir haben Anousch in Berlin getroffen und mit ihr über ihr Buch und ihre Skepsis gesprochen – und darüber, warum sie gerade Frauen vor den Heilsversprechen der Alternativmedizin warnen will. Anousch bloggt seit kurzem auf einer eigenen Website über Hokuspokus in der Medizin.
Bild: Marlen Mueller
Du bist über deine persönliche Geschichte zur Heilpraktikerausbildung gekommen, die dich dann zur Skeptikerin werden ließ. Kannst du kurz erzählen, wie deine persönliche Situation damals aussah und warum du dich in heilpraktische Behandlung begeben hast?
„Ich hatte nach dem Studium massive körperliche Beschwerden: Atemnot, Atemstörungen, Paniksymptome – wobei ich damals noch nicht wusste, dass das Paniksymptome sind, auch Angstzustände, die mir das Leben zur Hölle gemacht und einen normalen Alltag unmöglich gemacht haben. Ich war nicht in der Lage zu reisen, zu arbeiten, ich war in einem wirklich tiefen Loch, war bei verschiedenen Ärzten, die nichts feststellen konnten. Es hat mich zwar getröstet, dass ich offenbar körperlich gesund war, aber die Symptome wurden nicht besser. Ich hätte Beruhigungsmittel nehmen könnten, das wollte ich nicht. Ich recherchierte im Internet, sah Zeitschriftencover über die Verheißungen der Alternativmedizin. So begann ich, mich mit alternativer Medizin zu beschäftigen, und fand darin Trost: Denn plötzlich gab es Erklärungen für alle möglichen Symptome, das ging über angebliche Muskel- und Gelenkblockaden, tiefgreifende Familiengeschichten, Vergiftungserscheinungen, Amalgam – es gab auf einmal jede Menge Erklärungen für meine inneren Blockaden, die mir irgendwie einleuchteten, oder zumindest eine Art Anker waren. So bin ich zum ersten Mal zu einem Heilpraktiker gekommen, der verschiedene Techniken mit mir ausprobiert hat. Das fand ich interessant, auch wenn es nicht wirklich viel verändert hat.“
Das heißt, es ging dir nicht wirklich besser dadurch?
„Kurzfristig ging es mir besser, langfristig nicht; also dachte ich mir, ich hätte die richtige Behandlung einfach noch nicht gefunden. Damals hatte ich schon kapiert, dass das wahrscheinlich ein längerer Prozess sein wird.“
Wie ging es für dich weiter?
„Eigentlich wollte ich Journalistin werden, ich wollte schreiben, aber das ging damals nicht, ich konnte ja nicht raus, hatte wirklich nur einen ganz kleinen Radius, in dem ich mich bewegen konnte und in dem ich mich sicher gefühlt habe. Also schaute ich mich nach einer beruflichen Alternative um, und das Thema Alternativmedizin hat mir gut gefallen und auch die Aussicht, Methoden und Therapien kennenzulernen, die mich heilen würden.“
Obwohl du also bis dahin gar nicht die Erfahrung gemacht hattest, dass dir durch alternative Medizin wirklich geholfen werden kann, hattest du eine Art Grundvertrauen?
„Ja… wenn man wirklich verzweifelt ist und total am Boden, dann gibt es wirklich den sprichwörtlichen Strohhalm, nach dem man greift. Durch die Beschäftigung mit dem Thema habe ich etwas zur Ruhe gefunden, ich dachte, das gibt mir die Möglichkeit, etwas zu mir zu finden. Da war eine gewisse Euphorie, ich dachte, über den Prozess der Heilpraktiker-Ausbildung würde es mir irgendwann besser gehen. Und weil ich selbst so ein Martyrium durchmachte, ging ich davon aus, dass ich später Menschen sehr gut helfen könnte, wegen des großen Verständnisses, das ich haben würde. Also habe ich mich bei einer Heilpraktiker-Schule angemeldet.“
Ging es dir denn dann besser?
„Wirklich besser geht es mir erst seit ein oder zwei Jahren. Von heute aus betrachtet würde ich sagen, der Beginn der Ausbildung hat meine Symptome eher verschärft, weil ich nur noch darauf geachtet habe, was alles nicht stimmt mit mir. Dieses ständige In-sich-Hineinhorchen… im Rückblick würde ich sagen, es hat meine Symptome am Laufen gehalten, aber das konnte ich damals ja nicht wissen. Es gibt einige alternative Behandlungen, die kurzzeitig wirken, Sekundenphänomene sagt man dazu: Man fühlt sich schlagartig besser. Das kann zum Beispiel Neuraltherapie sein, oder manuelle Therapien, also alles, was am Körper arbeitet. Das hat mir aber auch nicht langfristig geholfen. Wahrscheinlich war es der Placebo-Effekt gepaart mit Suggestion und einem Wohlfühl-Effekt, das konnte ich damals nicht überblicken.“
Wann begannen deine Zweifel? Gleich zu Beginn der Ausbildung oder setzte die Skepsis erst später ein?
„Von Anfang an war ich zumindest insofern kritisch, als dass ich noch nie esoterisch war. Dieser Aspekt der alternativen Medizin hat mich nie interessiert; es hat mich von Anfang an gewundert, dass so viel Esoterik im Spiel war, aber ich dachte, das gehört wohl einfach dazu. Ich habe mich in der Ausbildung auf Anwendungen spezialisiert, die davon frei sind, zum Beispiel Entspannungsverfahren, manuelle Therapien. Damals war ich auch ein Fan von invasiven Therapien, also Infusionstherapien, oder Akupunktur, oder eben Neuraltherapie. Für alles, das mit Blutabnehmen zu tun hat, Aderlässe zum Beispiel, hatte ich ein Faible. Die Zweifel kamen immer mal wieder zwischendurch, aber ich war unter einer Art Glocke. Es gab in der Schule auch einfach keinerlei kritische Auseinandersetzung.“
Worauf lag der Fokus während deiner Ausbildung dann?
„In der Heilpraktiker-Ausbildung geht es fast nur um eine klassische schulmedizinische Ausbildung: Sie ist nicht darauf angelegt, dass man Heilpraktiker wird, sondern dass man die Amtsarztprüfung besteht. Diese Prüfung beim Gesundheitsamt fragt ausschließlich medizinisches Wissen ab, man muss keinerlei Kenntnisse in Homöopathie oder Akupunktur oder sonst irgendwas vorweisen. Wenn man die Heilpraktiker-Zulassung durch die bestandene Prüfung hat, darf man alle Therapien anbieten, und niemand fragt danach, ob man sie je erlernt hat.“
Das heißt, wenn ich zum Heilpraktiker gehe, hat der eigentlich überhaupt keine Ausbildung für das, was er da anbietet?
„Die meisten Heilpraktiker würden das natürlich nicht einfach so machen, sie haben natürlich eine Zusatzausbildung in Akupunktur, Homöopathie oder was auch immer – aber es fragt keiner danach. Jedenfalls zurück zum Thema Zweifel: An der schulmedizinischen Ausbildung gab es nichts anzuzweifeln. In den Nachmittagsseminaren aber, in denen es dann um heilpraktische Methoden ging, gab es schon immer wieder Situationen, die mich stutzig gemacht haben. Ich habe viel im Internet recherchiert, und dabei bin ich auf die Skeptiker der Pseudomedizin gestoßen und mit der Szene in Kontakt gekommen. Ich habe mich kritisch mit Medizinern im Bekanntenkreis auseinandergesetzt. Es gab einfach immer mehr Situationen, die mich zweifeln ließen. Dann wurde ich schwanger und stellte fest, dass gerade Frauen bei den Themen Schwangerschaft und Geburt ständig mit Globuli behelligt werden, die überhaupt nichts bewirken. Irgendwann hab ich das letzte Globuli geschluckt und ich war durch damit. Aber erst ein Jahr später kam dann der endgültige Entschluss, keine Heilpraktikerin zu werden.“
In einem Artikel für die „Süddeutsche Zeitung“ kritisierst du die Abneigung der Heilpraktiker-Szene gegen das Thema Impfen, kritisierst Verschwörungstheorien.
„Das Thema Impfen war für mich tatsächlich ein Knackpunkt. Das fand ich hochgradig verantwortungslos, das hatte für mich nichts mehr mit der Realität zu tun, war für mich Propaganda und Angstmacherei. Das war für mich der Anfang von Abschied. Dieses Impfgegnertum ist ganz tief verwurzelt in der Alternativmedizin. Man wird kaum einen Heilpraktiker finden, der nicht irgendwie vom Impfen abrät, oder zumindest Einschränkungen macht, also den Eltern rät, die Impfung ganz weit nach hinten zu schieben. Das ist fahrlässig. Und diese Verschwörungstheorien, dieses Schlechtmachen der konventionellen Medizin, dieses große Phantasma der bösen Pharmaindustrie, das ist ein wunder Punkt. Natürlich kann man deren Skandale nicht kleinreden. Aber es wird ein Popanz aufgebaut, schwarz-weiße Feindbilder gezeichnet, und all das wird in den Heilpraktiker-Schulen verbreitet. Aber die meisten Heilpraktiker sind ja keine fanatisierten Prediger, sondern freundliche Leute, die erstmal überhaupt nicht esoterisch rüberkommen: Glaubwürdig, eloquent, gebildet. Und da gelingt es nur ganz wenigen, sich davon freizumachen. Gerade wenn man im Gegensatz zu mir positive Heilerfahrungen macht, dann ist es ganz schwer, da wieder rauszukommen.“
Du schreibst in deinem Buch, Heilerfolge würden einzig und allein auf dem Placebo-Effekt beruhen, und dass es keine einzige seriöse Studie gibt, die die Wirksamkeit der alternativen Therapien nachweist. Der Placebo-Effekt ist wahrscheinlich der entscheidende Punkt für den Erfolg der Alternativmedizin: Freunde und Bekannte berichten von der positiven Erfahrung beim Heilpraktiker, dass sich jemand zuwendet, Zeit nimmt. Spielt das womöglich die entscheidende Rolle: Dass da jemand voll und ganz auf meine individuellen Sorgen und Bedürfnisse eingeht?
„Ja, ich denke, da liegt der Schlüssel. Der Placebo-Effekt ist das eine, er ist weitaus mehr als nur Einbildung, es finden ja tatsächlich biochemische Prozesse im Körper statt. Das andere ist das Kognitive: Heilerfolge werden überbewertet, wenn sie aus so einer intensiven Therapeuten-Patienten-Beziehung heraus entstehen. Außerdem wird außer Acht gelassen, dass viele Beschwerden, wenn es sich nicht um schwere Krankheiten handelt, mit der Zeit besser werden, womöglich von allein wieder verschwinden oder gelindert werden. Damit meine ich natürlich keine Infektions-, Tumor- oder Autoimmunerkrankungen, die immer einer schulmedizinischen Behandlung bedürfen.
Der Schlüssel liegt in der Zuwendung; dass man etwas erklärt bekommt. Im Krankenhaus oder in der Praxis haben Ärzte einfach keine Zeit; sie checken, ob etwas vorliegt oder nicht, und wie es behandelt wird; aber man bekommt seine Beschwerden in der Regel nicht ausführlich erklärt. Der Heilpraktiker dagegen macht seine Wundertüte auf: Je höher der Leidensdruck, desto eher glaubst du die hirnrissigsten Sachen, da spielen wieder kognitive Prozesse eine Rolle. Und dieses Zeitnehmen triggert bei uns vielleicht kindliche Bedürfnisse, die uns nicht verlassen, wenn wir erwachsen sind: Dass wir jemanden brauchen, der quasi Seelsorge betreibt.“
Erstaunlich ist: Die alternative Medizin boomt gerade in westlichen Industrieländern, dabei wird eigentlich ja gerade dort die Schulmedizin immer ausgefeilter und besser. Liegt dieser Boom deiner Ansicht nach in diesem Bedürfnis nach Zuwendung und „Gesehenwerden“ begründet?
„Man muss auf jeden Fall immer unterscheiden zwischen der Schwere der Erkrankungen. Menschen etwa mit schweren Allergien, mit Tumor-Leiden, mit Autoimmunerkrankungen werden immer irgendwann merken, dass sie einfach nicht ohne die Schulmedizin überleben könnten. Diese Patienten kommen oftmals wieder von der Alternativmedizin ab, weil sie merken, dass die Alternativmedizin kausal nichts ausrichten kann. Viele Patienten sind aber körperlich gesund, sie haben keine schweren Erkrankungen, aber sie haben womöglich Schmerzsymptome, etwa Rückenschmerzen, Befindlichkeitsstörungen. Bei Frauen ist viel Unwohlsein hormonell bedingt, viele haben Kopfschmerzsyndrome oder Verspannungen. Und bei all dem, das nicht lebensbedrohlich ist oder wo die klassische Medizin manchmal ratlos ist, wird man immer Linderung erfahren durch die Therapien und die Zeit, die sich der Heilpraktiker nimmt. In der Alternativmedizin geschieht ja ganz viel über Berührung: Akupunktur ist am Ende ja auch Berührung.“
Du sprichst dem Berufsstand der Heilpraktiker also nicht grundsätzlich die Berechtigung ab?
„Nein. Aber Patienten müssen wissen, dass Heilpraktiker kein anerkannter Ausbildungsberuf ist. Es gibt keinerlei Qualitätsmanagement, keine Kontrollen und keine regulierte Ausbildung. Wenn man zum Heilpraktiker geht, sollte man sich bewusst sein, dass seine Methoden auf keinem wissenschaftlichen Fundament stehen. Ich betreibe nun vor allem Aufklärung. Man muss den Leuten leider sagen: Ihr werdet angelogen, wenn euch erzählt wird, man könne detoxen oder entgiften, das geht einfach nicht. Bei weitgehend Gesunden übernehmen die Organe die Entgiftung – rund um die Uhr, die Nieren, der Darm, die Haut, die Leber. Da gibt’s nichts ,auszuleiten´, das ist ein medizinisches Verständnis aus früheren Jahrhunderten. Schon im Mittelalter dachte man, man könnte durch Aderlässe entgiften, also etwas Schädliches austreiben, das hat mit einem modernen Verständnis von Medizin und Physiologie nichts zu tun. Ich will also, dass dem Ganzen dieser esoterische Überbau genommen wird, und dass man sich auf das verlässt, was tatsächlich da ist: Das ist zum einen der Placebo-Effekt, den man auch einsetzen kann, wenn man weiß, dass es ihn gibt; und Zuwendung und Berührung, damit hätte man schon drei starke Komponenten, die man gezielt einsetzen kann.“
Du schlägst im Buch die Berufsbezeichnung „Genesungsbegleiter“ statt „Heilpraktiker“ vor.
„Es gibt schon Krankenpfleger, es gibt Physiotherapeuten, die machen auch schon viel im Bereich Berührung; bei Heilpraktikern kommt dann noch die Gesprächskomponenten dazu, dieses direkte Gegenüber, das Aufgehobensein in der Praxis. Mit einer guten, fundierten Ausbildung könnte man da schon eine Lücke schließen, denke ich. Während grob gesprochen also die Ärzte alles tun müssen, um das Leben zu erhalten, gefährliche Krankheiten auszuschließen und gegebenenfalls Medikamente und Therapien verordnen, könnten Heilpraktiker da weitermachen, wo der Arzt einfach nicht weitermachen kann, weil ihm die Zeit fehlt. Das wäre für mich denkbarer Weg.“
Unter unseren Leserinnen gibt es bestimmt viele, die sich mit dem Thema Alternativmedizin schon beschäftigt haben, womöglich das Gefühl haben, mit der Schulmedizin nicht weiterzukommen. Etwas global gefragt, aber: In welchen Fällen könntest du empfehlen, sich an einen Heilpraktiker zu wenden
„Wie gesagt: Bei allen Beschwerden, die das eigene Wohlgefühl beeinträchtigen, also Befindlichkeitsstörungen, Beschwerden am Muskelapparat, also Problemen mit Verspannung – Dinge, die eindeutig stressgetriggert sind. Wenn man schon ein bisschen Erfahrung hat mit dem eigenen Körper, dann stellt man vielleicht fest, dass es einige Symptome gibt, die sich unter Stress verschlimmern. In solchen Fällen würde ich von einem Besuch beim Heilpraktiker nicht grundsätzlich abraten. Aber weil du auch das Thema ,Leserinnen´ ansprichst, das ist für mich schon fast ein missionarischer Aspekt: Ich möchte Frauen und besonders Mütter ansprechen. Dieser ganzen Entgiftungsgeschichten und das esoterische Gerede, das richtet sich in der Regel an Frauen, selbst im Yoga-Kurs wird ständig von Chakren geredet; das kann man zwar symbolisch sehen, aber man sollte nicht zu stark dran glauben. Und besonders für Mütter ist es besonders leicht, bestimmten Behauptungen Glauben zu schenken, weil die Beeinflussung schon ganz früh in der Schwangerschaft anfängt.“
Du meinst, weil viele Hebammen ebenfalls Anhänger der Alternativmedizin sind?
„Ja. Nach den Heilpraktikern sind für mich Hebammen die größten Multiplikatoren von esoterischem Gedankengut. Da wird so ein Idealbild, so eine Vision der Mutter aufgebauscht, mit einem Körperbild und einem medizinischen Verständnis, das einige Jahrhunderte alt ist – am besten sollen die Frauen in irgendwelchen Erdlöchern entbinden und die Plazenta hinterher essen. Selbst wenn die Hebammen nicht so krass drauf sind: Die Themen Globuli und Impf-Skepsis sind bei vielen Hebammen ganz tief verankert, da müsste sich mal etwas weiterentwickeln. Ich würde mir wünschen, dass Mütter ein bisschen skeptischer sind. Letzten Endes braucht man während der Schwangerschaft und frühen Mutterschaft eine gute Betreuerin und Unterstützerin, aber man braucht kein esoterisches Brimborium. Als moderne, selbstbewusste Frau sollte man sich keinen vorwissenschaftlichen Unfug einreden lassen. Das ist für mich ein weiterer wunder Punkt, dass viele Frauen so unglaublich empfänglich dafür sind, und dass es ihnen so einfach gemacht wird, diesen ganzen irrationalen Dingen auf den Leim zu gehen.“
Gerade beim ersten Kind ist man ja einfach sehr schnell zu verunsichern.
„Ja. Meine Hebamme zum Beispiel hat ihr eigenes Kind jahrelang gestillt, als ich aber nach kurzer Zeit vom Thema Stillen genug hatte, hat sie mir keinen Druck gemacht, sondern mich bestärkt. Ich kenne aber viele Mütter, deren Hebammen unglaublichen Druck aufgebaut haben, gerade bei den Themen Stillen und Impfen. Dabei bräuchten Hebammen das doch gar nicht für ihre Selbstvergewisserung: Sie haben einen ultrawichtigen Job – auch ich möchte kein Kind ohne Hebamme auf die Welt bringen, und ich möchte auch gerne im Wochenbett begleitet werden, das kann man aber beides sehr gut ohne esoterische Verblendung.“
Wobei zum Beispiel sogar meine Frauenärztin von sich aus Globuli gegen Schwangerschaftsübelkeit ins Spiel gebracht hat…
„Ja, das ist sehr verbreitet. Das ist für mich eines der großes Rätsel der Menschheit, wie sich Homöopathie so verbreitet hat und hartnäckig halten kann.“
Wobei viele darauf schwören, dass Globuli das einzige gewesen sei, was ihnen bei bestimmten Beschwerden geholfen habe, da wären wir wieder beim Placebo-Effekt…
„…Ich habe auch schon oft die Erfahrung gemacht bei meinem Sohn: Er hatte irgendwas, ich hab ihm Traubenzucker gegeben, eine halbe Stunde später wars wieder besser – hätte ich ihm Globuli gegeben, hätte ich womöglich gesagt: Das waren die Globuli. Manchmal ist es aber einfach so, dass Symptome oder Beschwerden rasch von alleine wieder verschwinden. Wenn aber jemand mit Globuli gute Erfahrungen macht und das bei ihm den Placebo-Effekt triggert, dann soll er oder sie das aber bitte gern weiterhin machen. Aber wie gesagt: Bitte nur bei banalen Beschwerden.“
Nochmal zurück zu deiner eigenen Geschichte, du hast am Anfang deine Symptome geschildert, auch Panikattacken und Angstzustände, das klingt nach ernsthaften psychischen Problemen. Fandest du denn letztendlich Hilfe in der Schulmedizin? Oder gingen die Beschwerden von selbst zurück?
„Ich habe eine Zeitlang ein Antidepressivum genommen, allerdings musste ich darum kämpfen. Es wird ja auch gern behauptet, die Schulmedizin wolle uns mit Medikamenten vollpumpen, ich mache andere Erfahrungen: Inzwischen muss man auch um Antibiotika richtiggehend flehen. Mit dem Antidepressivum haben meine Ärzte und Therapeuten ganz lange gewartet, bis ich sagte, ich kann nicht mehr, ich bin nicht mehr lebensfähig. Damals habe ich zum ersten Mal wirklich einen Placebo-Effekt erlebt: Mir ging es nach der ersten Einnahme sofort besser, obwohl der Wirkstoffspiegel erstmal über zwei Wochen aufgebaut werden muss. Es war einfach diese Erleichterung, das Wissen, endlich auf dem richtigen Weg zu sein. Bei mir hat ansonsten gar nichts geholfen, verschiedene Psychotherapien minimal, falls überhaupt. Bei mir war es der Faktor Zeit und die Verbesserung meiner Lebensumstände.
Wie gehst du mit deiner Geschichte heute um?
„Ich weiß, dass das immer meine Schwachstelle bleiben wird. Damit muss man eben auch leben lernen, das ist für mich eine ganz wichtige Botschaft: Wir haben alle sehr hohe Erwartungen, was womöglich mit unserer Leistungsgesellschaft zusammenhängt; wir bekommen durch die sozialen Medien jeden Tag perfekte Lebensentwürfe gespiegelt, mit großartigen Weltreisen und Partys, super Freundeskreisen und fantastischem Essen. Natürlich setzt uns das enorm unter Druck; aber all das, Reisen, Feiern, kann man nur machen, wenn es einem gutgeht, man sich gesund fühlt. So entsteht ein enormer Druck, sich gesund zu fühlen, das gilt auch beim Thema Arbeit: Wir können nur Leistung bringen, wenn wir von schlimmen Beschwerden verschont bleiben. Wenn man aber an etwas Chronischem leidet, dann muss man lernen, seine Erwartungen an sich selbst herunterzuschrauben, einen Gang runterzuschalten.
Ich habe viele Erwartungen an mich und mein Leben ein bisschen runtergedimmt, habe anerkannt, dass ich bestimmte Dinge einfach nicht leisten kann, weil mein Nervensystem offenbar einfach nicht mitspielt. Das war ein Prozess von fast sechs Jahren. Das wäre meine Botschaft an alle mit ähnlichen Beschwerden: Es ist klar, dass man alles mögliche ausprobieren will und das auch tut; wichtig ist nur, dass man das Esoterische der alternativen Medizin nicht für bare Münze nimmt. Und wenn man etwas findet, das einem hilft, dann soll man das um Himmels willen natürlich machen, aber man sollte sich im Klaren sein, dass keine übersinnlichen Schwingungen und gereinigten Energiekanäle ursächlich sind, sondern gut nachvollziehbare physiologische und kognitive Prozesse.“
Auch im Bereich der Medizin gibt es die gesellschaftliche Tendenz, Dinge „von früher“ als besonders qualitätsvoll und erstrebenswert anzusehen, Stichwort Traditionelle Chinesische Medizin (TCM). Woher rührt das? Ist das so eine „Früher war alles besser’-Einstellung, die auch auf den Bereich Gesundheit übergreift?
„Ja, ich habe das Gefühl, die Leute hängen tatsächlich einer Art medizinischer Nostalgie an. ,Das benutzen die Leute schon seit tausenden von Jahren’, heißt es dann, aber: Was bedeutet das eigentlich? Wenn man das kritisch hinterfragt: Früher hatten die Leute eine Lebenserwartung von 30 Jahren, ein Großteil der Kinder sind vor dem ersten Geburtstag gestorben, die Menschen sind elend krepiert an Krankheiten, die sich heute wunderbar verhindern lassen. In China ist man meines Wissens sehr froh, über eine moderne Schulmedizin zu verfügen, TCM läuft da eher so wellnessmäßig nebenher.
Wir sind historisch zu wenig gebildet. Die Versprechung ,Das haben schon unsere Vorfahren vor Jahren gemacht’ ist eine Verheißung, ein Slogan, aber eigentlich eine ziemlich leere Worthülse. Da werden alte Zeiten beschworen, und da muss man wirklich sagen: Das sind Zeiten, in denen Not und Elend geherrscht haben, in denen eine Geburt ein Todesrisiko für Mutter und Kind darstellte. Wenn ich heute richtig schlimme Kopf- oder Zahnschmerzen habe, dann kann ich ein Schmerzmittel nehmen und es geht mit sofort besser, und ich frage mich: Wie haben die armen Menschen das früher ohne ausgehalten? Das muss man sich mal bewusst machen. Für mich ist das Zurückgreifen auf solche Prozeduren auch ein Wohlstandsphänomen: Wir sind hier so gut versorgt wie fast nirgendwo sonst auf der Welt. Vielleicht müsste man mal eine Geflüchteten fragen, der aus einem Kriegsgebiet kommt: Ich glaube, der ist ganz froh, wenn er hierher kommt und weiß, dass sein Kind hier schulmedizinisch versorgt und geimpft wird. Das kann man sich ruhig ab und zu mal ins Bewusstsein rufen, das rückt die Dinge wieder ein bisschen zurecht.“
Anousch Mueller: „Unheilpraktiker. Wie Heilpraktiker mit unserer Gesundheit spielen.“ Riemannverlag, Mai 2016, 225 Seiten, 16,99 Euro.
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