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Hat die Liebe ein Verfallsdatum?

Für ihren Dokumentarfilm „Ein Haufen Liebe“ hat die Filmemacherin Alina Cyranek das bewegte Leben von vier Frauen einer Seniorinnen-Schauspielgruppe begleitet – was denken Frauen jenseits der achtzig über die Liebe?

 

Welchen Platz hat die Liebe im Leben?

„Die
Liebe ist ein seltsames Spiel, sie kommt und geht von einem zum
andern. Sie nimmt uns alles, doch sie gibt auch viel zu viel. Die
Liebe ist ein seltsames Spiel.“

Seit Monaten trällern diese
Zeilen von Connie Francis durch meinen Kopf. Beharrlich begleitet
mich das Lied seit Sommer 2014, als ich mit den Dreharbeiten zu
meinem Dokumentarfilm „Ein
Haufen Liebe“
begann. Die Theatergruppe Purpur, bestehend aus 13 Frauen zwischen 60
und 90 Jahren, plante eine neue Produktion am Landestheater Tübingen.
Ich durfte sie mit der Kamera begleiten und dabei das Leben von vier
dieser völlig verschiedenen Frauen aus der Gruppe näher beleuchten.
In dem Stück (und somit im Film) geht es darum, welchen Platz die
Liebe im Leben der Frauen hat beziehungsweise hatte: Welche Rolle
spielten die Männer dabei? Warum gelang die eine Partnerschaft,
weshalb scheiterte eine andere? Inwiefern unterscheidet sich ihr
Leben heute von der Zeit, in der sie noch jung waren? Hat es für sie
jemals den „Richtigen“ gegeben? Und: Was ist überhaupt Liebe?

„Liebe?
Das muss etwas Schönes sein! Das ist es wohl auch, aber eben nur
befristet. Jeder möchte, dass andere Menschen seine Vorstellung von
Liebe irgendwie erfüllen. Ich glaube nicht an die ewige Liebe. Das
können sich Menschen gar nicht geben.“ (Ruth)

Die
vier Protagonistinnen sind zum Teil dreimal so alt wie ich: Esther
(89), Anneliese (91), Ruth (83) und Ulla (71). Meine eigene
Vorstellung von Liebe ist noch immer sehr romantisch. Ich hatte keine
Ahnung davon, wie Frauen jenseits der Achtzig über die Liebe denken;
und da meine Großeltern sehr früh gestorben sind, ist der nahe
Kontakt zu älteren Menschen seither eher selten. Wir haben ja nicht
viel gemein, dachte ich. Im November 2011 lernte ich die Gruppe
kennen. Die Beharrlichkeit und der Kampfgeist der Frauen, trotz
zunehmender körperlicher Einschränkungen die vielen Wahrnehmungs-,
Körper- und Sprechübungen mitzumachen, beeindruckten mich sehr. Die
Theaterproben riefen offenbar eine Art Leichtigkeit hervor, welche
die Frauen mit in ihren Alltag nahmen. Auf der Bühne verwandelten
sich die vermeintlichen Großmütterchen zu stolzen und
selbstsicheren Frauen, die in Sachen Liebe eher zu einem „Ich und
Du“ statt zu einem „Wir“ tendierten.

„Ich
habe wirklich meine ganz, ganz große Liebe gefunden. Und ich kann
meine große Liebe gehen lassen, weil es einfach zeigt, wie sehr ich
ihn liebe, sonst könnte ich es nicht. Viele meiner Freundinnen
sagen: ,Wie kannst du ihn nur lassen?’
Das, was ich für ihn empfinde und er sicherlich auch für mich, ist
so tief, dass es da gar keine Frage gibt. Ich kann loslassen.“
(Ulla)

Ob
mit 19 oder mit 90 Jahren, (wahre) Liebe ist und bleibt ein seltsames
Spiel und immer eine unglaubliche Erfahrung. Bei den Dreharbeiten
lernte ich nach und nach die Lebens- und Liebesgeschichten der Frauen
kennen und war überrascht, wie extrem sie sich voneinander
unterschieden. Die Frauen reagierten zudem teilweise sehr
gegensätzlich auf das Thema Liebe: schwärmerisch und wütend,
lachend und tieftraurig. Durch das große Vertrauen in meine Arbeit
und die Verbundenheit zwischen uns konnte ich tief in ihre
Gefühlswelten eintauchen. Ihre berührenden Erzählungen aus längst
vergangenen Zeiten ließen mich selbst Neues entdecken und erlaubten
mir gleichzeitig, verloren Geglaubtes wiederzufinden. Die Zeitläufe
in den Geschichten der Frauen greifbar zu machen und ein Verständnis
dafür zu entwickeln, wie sehr sich unsere Gesellschaft in den
letzten Jahrzehnten gewandelt hat – darüber soll „Ein
Haufen Liebe“
erzählen.

„Als
ich jung war, da gab es die Pille noch nicht. Meine Freundinnen
rieten mir, ein Glas Wasser nach dem Sex zu trinken, dann würde ich
nicht schwanger werden. Diese Angst vor einer Schwangerschaft habe
ich lange mit mir herumgetragen. Bloß nicht! Bloß nicht ein
uneheliches Kind kriegen! Das hat etwas mit Sünde zu tun. Und dann
ist es doch passiert.“ (Ruth)

Am
tiefsten hat mich Esthers Geschichte berührt. Als sie 14 Jahre alt
war, verliebte sie sich in den 16-jährigen Wilhelm. Niemand wusste
davon, ihre Gefühle waren innerlich fest verschlossen, aber das
Liebesfeuer war entfacht. Kurz darauf zog Wilhelm in den Krieg. Sie
schrieben sich Briefe, in denen sie sich ihre Liebe offenbarten und
sich eine gemeinsame Zukunft ausmalten. Esthers vierter Brief an
Wilhelm kam wieder zurück. Ungeöffnet. Wilhelm war vermisst und
zwei Jahre später dann für tot erklärt worden. Sie hatten sich
noch nicht einmal geküsst. Die durch ihre Briefe entstandene
Verbundenheit war aber so stark, dass Esther sich noch viele Jahre
nach seinem Tod in manchen Momenten umdrehte, weil sie ihn hinter
sich zu spüren vermeinte. Geliebt hat sie seitdem nicht mehr.

„Ich
glaube, ich bin nie jemand gewesen, der etwas ist. Ich empfinde es
als ein Defizit, nie eine Partnerschaft gehabt zu haben. Wenn du
immer alleine bist, hast du niemanden, wo du dich erlebst. Ich habe
oft gesagt, ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin, weil ich nie ein
Gegenüber hatte. Man braucht ein Gegenüber, oder ist das nicht so?“
(Esther)

„Ein
Haufen Liebe“
möchte zeigen, dass es nie zu spät ist, etwas dazuzulernen und sich
neuen Herausforderungen zu stellen. Es ist ein lebendiges Porträt
über vier Frauen, die ihren Lebensabend engagiert und mit viel Liebe
gestalten. Obwohl Tod und Abschied auf der Tagesordnung stehen und
sowohl das Theaterspiel als auch den Alltag überschatten,
durchdringen Spielfreude und Lust das Leben der Frauen. Sie zeigen
immer wieder, dass Liebe kein Verfallsdatum hat. Und, dass die Liebe
wirklich ein seltsames Spiel ist.

„Es
war oft Schneegestöber, aber auch kleine Lichtpunkte. Großes
Feuerwerk war’s nie, aber die Sehnsucht ist immer noch da. Obwohl
ich heute mit ganz wenigen Lichtpunkten zufrieden bin. Wenn mich
heute ein junger Mann beim Abschied in den Arm nimmt und mir
plötzlich einen Kuss gibt, dann ist das ein Ereignis. Ein großer
Lichtpunkt. So etwas hält am Leben. Solche Lichtpunkte, die sammle
ich.“ (Anneliese)

Mehr zu mir und meiner Arbeit findet ihr hier. Und hier weitere Infos zum Film.

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