Im Jahr 2009 war Syrien noch ein Land, in dem es lohnend war zu reisen. Neben den monumentalen und überraschend gut erhaltenen Zeugen ältester Kulturen war aber auch die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung Syriens gegenüber Fremden ein Merkmal, das heute eine besondere Bedeutung erhält. Eine Episode aus jener Reise, die nachdenklich stimmen dürfte.
Vor sechs Jahren, länger ist es nicht her, war die Welt in
Syrien noch verhältnismäßig in Ordnung. Bashar al-Assad regierte sein multikulturelles
Land mit diktatorischer Hand, ließ keinen Fundamentalismus zu, war stets um
Ausgleich bemüht, wenn es in den Nachbarländern zu Machkämpfen kam. Die
Propaganda, die einem überall im Land, entgegenschlug, war gigantisch. Doch der
gelernte Augenarzt galt im Westen als das geringste Übel seiner Art. Meine
21-jährige Tochter und ich waren allein im Land unterwegs, mit einem Mietauto.
Glücklicherweise hatte Nina einen Grundkurs in Arabisch absolviert und konnte
in etwa die Straßenschilder entziffern – das hatten wir bitten nötig, um an
unsere Ziele zu gelangen, denn Navigationssysteme gab es für Syrien nicht. Im
Reiseführer hatten wir erfahren, dass das Land am Euphrat ein sicheres
Reiseland sei, auch für Frauen ohne Männerbegleitung. Natürlich achteten wir
darauf, uns angemessen zu kleiden – ein langer Rock kam vor allem abends mehr
als gelegen. Die Rundreise umfasste neben Damaskus die Orte Homs, Aleppo,
Palmyra, aber auch Ebla, Lathaqiya und Tartus.
Wir waren schon eine Weile in Syrien, als wir eines Tages bei
Dämmerung vor die Tore von Aleppo gelangten und uns auf die Suche nach der
Straße machten, wo sich unser Hotel befand, das zentral gelegene Dar Halabia.
Wir hatten sämtliche Unterbringung im Voraus gebucht, waren uns aber nicht
bewusst, dass sich das alte Haus mitten in der Fußgängerzone der Altstadt nahe
beim wohl größten Suq der arabischen Welt befand – ein UNESCO-Weltkulturerbe.
Immer wieder wähnten wir uns auf der Umfahrungsstraße der Altstadt der
Zielstraße ganz nahe, doch nirgendwo kam eine Einfallstraße ins Zentrum, die
uns zum Ziel führen würde. Inzwischen war es stockdunkel geworden. Ich
beschloss entlang der Umfahrungsstraße zu halten, um jemanden zu fragen. Ich
versuchte mein Glück bei einem Handwerksbetrieb, obwohl ich sicher war, dass
dort keiner Englisch sprach. Nina hütete
inzwischen das Auto. Ich wurde von den Mitarbeitern gleich zum Chef des kleinen
Klempnerbetriebes geleitet, dem ich den Ausdruck der Hotelbuchung mit der
Telefonnummer zeigte und dabei auf sein Telefonapparat deutete. Er verstand und
rief dort an. Als er den Rezeptionsmitarbeiter an der Leitung hatte, bat ich
ihn mit Zeichen, mir den Hörer zu überlassen. Ich erklärte ihm in Englisch,
dass wir sein Hotel nicht gefunden hatten. Er meinte, das sei mit dem Auto auch
nicht möglich, wir müssten das Auto zu einem bewachten Parkplatz bringen und zu
Fuß weitergehen. Ich solle ihm doch wieder den Unternehmer reichen, der im
Anschluss ein paar Anweisungen erhielt. Er schickte einen Mitarbeiter mit mir,
von dem ich dachte, er würde uns hinbegleiten. Aber ganz so einfach war es
nicht. Als ich beim Auto ankam, stieg der junge Mann in unser Auto mit ein und
mit Handzeichen leitete er uns zu einer für den Verkehr geschlossenen Einfallstraße,
wo er ausstieg und uns half, die Koffer auszuladen. Er machte Nina ein Zeichen,
dort mit dem Gepäck zu warten. Ich verstand, dass er mit mir das Auto zum
Parkplatz fahren wollte. Etwas verunsichert nahm Nina ihr Tuch aus der
Handtasche und schlang es um ihre blonden Haare. Ich zweifelte zuerst, ob ich
sie dort in der Dunkelheit stehen lassen konnte. Doch der Syrer beschwichtigte
lächelnd mit einer Handbewegung. Wir parkten das Auto nur wenige Minuten entfernt und eilten zurück zu Nina.
Niemand hatte sie, und das wohl nicht nur dank Tuch, auch nur im Geringsten
beachtet. Der Syrer nahm beide Koffer, deren Rollen hier auf den kopfsteingepflasterten Straßen
unbrauchbar waren, und marschierte in
Richtung Fußgängerzone los – wir hinterher. Die Altstadt befand sich auf einem
Hügel und so war der Weg etwas
beschwerlich, zwischendurch gab es deshalb auch Treppen zu bewältigen. Bald
erreichten wir ein Straßeneck, wo ein Mann auf uns wartete – es war ein
Mitarbeiter des Hotels. Er begleitete uns alle zum Hoteleingang, wo wir
Gelegenheit hatten, uns vom Syrer, der solch große Mühe auf sich genommen
hatte, zu bedanken. Wir fragten den Hotelmitarbeiter, ob wir ihm einen
Bakshisch geben sollten, der aber bestätigte, was ich im Reiseführer gelesen
hatte: Einem Fremden auf seiner Reise behilflich zu sein, ist in der Syrischen
Kultur ein Muss. Ein Trinkgeld hätte er deshalb als eine Beleidigung angesehen.
Wir bedankten uns, in dem wir uns zaghaft verneigten und er zog von dannen.
Marina Giuri-Pernthaler