Foto: Evelyn Chong/Pexels

Essen ist kein Müll: Warum es mit Scham verbunden sein sollte, Lebensmittel zu entsorgen

Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Merve Kayikci

Ich wusste, wo wir unser Essen holten

Ich bin im Paradies aufgewachsen, dem vielleicht schönsten Fleck Deutschlands – am Bodensee. Meine Eltern hatten früher sehr wenig Geld, aber unser Haus war trotzdem ein Schlaraffenland. Wir hatten immer kistenweise leckeres, regionales und saisonales Obst und Gemüse zu Hause und meine Eltern teilten dieses Essen mit ihren Nachbar*innen und Bekannten.

Während andere Kinder in ihrer Tupperdose eine Hand voll Kirschen für die Pause dabei hatten, schickte meine Mutter mich mit einer großen Schüssel in die Schule und hielt mich an, allen etwas von den Kirschen abzugeben. Wenn ich Zuhause spielte, snackte ich keine Milchschnitte, sondern Gurken und Tomaten. Wir hatten zu viel davon. Und wenn ich beim Einkaufen im Supermarkt nach den Erdbeeren griff, stoppte meine Mutter mich mit den Worten „Die schmecken bestimmt nicht. Wir holen Erdbeeren, wenn ihre Zeit kommt. Dann kannst du wieder so viele essen, bis du umkippst.“ Die Erdbeersaison startete immer ungefähr dann, wenn ich Geburtstag hatte.

Ich wusste, wo wir dieses Essen holten und war immer dabei. Ich wusste daher auch, warum wir so viel davon haben und ich wusste, dass wir es nicht bezahlen. Aber mir war lange nicht klar, dass unser Essen der Müll der anderen ist.

Abfall für die Erzeuger*innen

Meine Eltern waren nicht containern, sie waren nur regelmäßig spazieren auf der Insel Reichenau, auf der in einem guten Jahr fast 20.000 Tonnen Obst und Gemüse erzeugt werden. Die Halbinsel am Bodensee kann man über eine enge Allee erreichen, ohne das Festland zu verlassen. Die Reichenauer Gärtner*innen bauen auf der Insel Gurken, Tomaten, Salate, Paprika, Karotten, Kohl, Bohnen, Brokkoli, Zucchini, Auberginen und viele andere Gemüsesorten an, die nach ganz Deutschland als Qualitätsgemüse geliefert werden und die man zum Beispiel in vielen Edekas kaufen kann. Viele weitere Hektar Land sind mit Weinreben, Obst- und Nussbäumen bewirtschaftet und die historische Kirche der Insel hat einen sehr großen, offen zugänglichen Kräutergarten.

Auf den Feldern lagen immer große Berge aufgetürmtes Gemüse, das entsorgt werden musste, weil die Gurke zu krumm war, die Tomate noch zu hell oder die Zucchini noch zu klein. war. Wenn man die Gärtner*innen und Landwirt*innen fragte, konnte man immer so viel davon mitnehmen, wie man wollte. Meine Kindheit war also geprägt von Bildern riesiger Bergen an guten Lebensmitteln, die in Türmen aufgestapelt entsorgt wurden.

Wenn meine Eltern die Erzeuger*innen nicht gefragt hätten, wäre es nicht legal gewesen, sich von diesen Lebensmitteln zu bedienen, obwohl sie für die Eigentümer*innen Abfall sind. Zwei Studentinnen aus München haben noch genießbare Lebensmittel aus dem Müllcontainer eines Supermarktes in Olching geholt und wurden dabei von der Polizei aufgegriffen. Es folgte eine Anklage wegen „schweren Diebstahls“ und ein Gerichtsverfahren vor dem Amtsgericht Fürstenfeldbruck, wo sie schuldig gesprochen wurden. Nachdem das Bayerische Oberste Landesgericht am 2. Oktober das Urteil bestätigt hat, sind die zwei Studentinnen gemeinsam mit ihren Anwält*innen und der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) Anfang des Monats vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gezogen. Das Bundesverfassungsgericht wird dazu angehalten, anhand dieses Einzelfalls Stellung zu beziehen zur Lebensmittelverschwendung der Lebensmittelindustrie.

Eine der größten Klimasünden: Lebensmittelverschwendung

Über eine Milliarde Tonnen Lebensmittel landen weltweit jährlich einfach mal so im Müll . Wenn ich mir überlege, was für einen ökologischen Fußabdruck die gesamte Wertschöpfungskette hinterlässt, wird mir schwindelig. Lebensmittelverschwendung ist eines der großen Dramen und eine der größten Klimakillerinnen unserer Zeit. Allein in Deutschland werden jährlich 22 Millionen Tonnen Treibhausgase faktisch umsonst ausgestoßen, weil genießbare Lebensmittel entsorgt werden. Rund ein Drittel der Lebensmittel weltweit landet heute im Müll. Dieser Abfall produziert Methan, ein Gas, das in besonderem Maße zum Klimawandel beiträgt. Dieses Essen vor der unnötigen Entsorgung zu retten, wird gleichzeitig kriminalisiert.

Ich selbst war noch nie containern und kann heute jeden Tag makellose Lebensmittel aus Supermärkten und Restaurants konsumieren. Ich will aber nicht, dass Menschen kriminalisiert werden, die das ablehnen. Dabei ist mir erst mal egal, ob diese Menschen dafür ideologische Gründe haben oder sich diese Lebensmittel schlicht und einfach nicht leisten könnten.

Das Wegwerfen sollte Scham auslösen!

Als ich in Dänemark studiert habe, hatte ich Kommiliton*innen aus osteuropäischen Ländern, die sich das Leben und das Studium in so einem teuren Land nicht hätten leisten können, wenn sie nicht täglich Containern gegangen wären oder Essensspenden geholt hätten. In Dänemark ist das aber zumindest schon mal nicht illegal.

Trotzdem würde ich mir eigentlich noch viel mehr wünschen, dass überhaupt niemand containern gehen kann, weil gute Lebensmittel gar nicht erst entsorgt werden. Der Staat sollte sich darauf konzentrieren, der Lebensmittelverschwendung Einhalt zu gebieten und nicht die Menschen zu verfolgen, die entsorgte Lebensmittel verwerten.

Ich würde mir wünschen, dass das Wegwerfen von guten Lebensmitteln mit Scham verbunden wäre.

Wegwerfen aus wirtschaftlichem Interesse

Lidl ist die erste Lebensmittelkette in Schweden, die ihre eigene Lebensmittelverschwendung komplett offenlegt. Obwohl es ein deutsches Unternehmen ist, tut es das aber in Deutschland nicht. Der einzige logische Grund, den ich mir dafür vorstellen kann, ist, dass wir Verbraucher*innen in Deutschland noch nicht genug an die Wirtschaft signalisiert haben, dass uns dieses Thema wichtig ist.

In Deutschland ist es zudem vollkommen legal für Unternehmen, Lebensmittel allein aus wirtschaftlichen Interessen wegzuwerfen. In Frankreich und Tschechien wird so etwas zumindest gesetzlich reguliert und teilweise sogar sanktioniert.

Der Staat könnte mit gesetzlichen Regulierungen, aber auch mit der Förderung nach neuen Technologien, die speziell zum Verhindern von Lebensmittelverschwendung entwickelt werden, versuchen, dieses Problem einzudämmen. Auf der Insel Reichenau arbeitet man mittlerweile nur noch mit bestimmten Saatgütern, um die Abfälle zu reduzieren und die Abnehmer*innen der Produkte haben zwar eigentlich vertraglich das Recht auf die Gesamternte, erlauben den Landwirt*innen aber, die Produkte, die nicht der Norm entsprechen, auf ihren Höfen selbst zu verkaufen. Damit schaffen sie sich zwar in gewisser Hinsicht in einem kleinen Rahmen ihre eigene Konkurrenz, aber sie würden diese Produkte sonst entsorgen müssen – weil wir sie im Supermarkt nicht kaufen wollen. Mir ist absolut klar, dass sich ohne die aktive Mitarbeit von Politik, Landwirtschaft, Hersteller*innen und vor allem dem Handel nichts ändern wird.

Aber was jede*r einzelne Verbraucher*in tun kann, ist im Supermarkt auch nach dem hässlichen Gemüse zu greifen. Gezielt auf dem Wochenmarkt nach Wetterobst, also durch das Wetter beschädigtem Obst, oder angeschlagenem Gemüse fragen. Unternehmen und Initiativen unterstützen, die Lebensmittel retten. Und beim Wegschmeißen von Lebensmitteln daran denken, dass Essen wegzuwerfen auch heißt, den Klimawandel zu befeuern.

„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).

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