Mein liebes Kind,
unser Leben hat sich verändert in den vergangenen Tagen. Du siehst bisher vor allem die Vorteile. Endlich länger schlafen. Mehr Zeit mit Mama und Papa. Mehr Netflix. Chips zum Frühstück. Ich habe all meine selbst auferlegten Regeln gebrochen. Mir ist gerade alles egal. Hauptsache, Deine Laune bleibt gut. Ich mache das, weil meine Laune gerade richtig schlecht ist. Aber es ist noch mehr, es ist nicht nur eine Laune. Es ist riesengroßer Weltschmerz.
Für Dich bin ich die große Mama, die lustige Mama, die zuversichtliche Mama. Und es ist heute so schwer für mich wie noch nie, Dir diese Mama zu sein. Denn ich bin einfach nur traurig. Ich bin traurig, wenn ich an unseren Sommer denke. So sehr hatte ich mich darauf gefreut, mit Dir schwimmen zu gehen. Wir beide lieben es, uns im Wasser treiben zu lassen. Kein Sommer ohne Schwimmbad. In diesem Jahr wird das anders. Kein Sommer ohne Eiscafé. In diesem Jahr wird das anders. Gerade wird alles anders und ich wünsche mir so sehr, dass es anders wäre. Aber es ist, wie es ist. Und es bricht mir das Herz. Nicht für mich, sondern für Dich.
Ich wünsche Dir die beste aller Kindheiten. Unbeschwertheit, Freude, Freiheit. Gerade spüre ich nichts davon. Ich spüre Anspannung, Stress, Sorgen. Geh nicht so nah an die anderen Kinder. Nein, kein Spielplatz heute. Huste in deinen Ellenbogen. Nein, keine Spielverabredungen mehr.
Gleichzeitig versuche ich zu arbeiten. So gut es geht. Den ersten Tag in meinem neuen Job habe ich im Home Office verbracht. Die Blumen, die ich eigentlich bekommen sollte, sah ich im Hintergrund der Videokonferenz. Du bist jetzt dabei, wenn ich in Videokonferenzen mit den Menschen spreche, mit denen ich arbeite. Du bist genervt, dass ich arbeite, wenn du zu Hause bist. Und du bist zu recht genervt. So soll es nicht sein, das Leben. Ich am Computer, Du bei Netflix.
Lernen willst du, Du gehst gern zur Schule. Doch wann es wieder in die Schule geht, das weiß niemand. Ein paar Wochen noch, sage ich. Aber ich weiß es nicht genau. Zu Hause lernen findest Du blöd und ich finde es auch blöd. Ich will nicht Deine Lehrerin sein, ich will Deine Mama sein. Aber das sage ich Dir nicht.
Heute ist Tag vier und niemand kann sagen, ob es Tag vier von 40 Tagen ist oder Tag vier von 400 Tagen oder Tag vier von vier Jahren. Ich kann Dir nicht sagen, wann Du Deine Großeltern wiedersehen wirst. Gerade kann ich nicht mal sagen, ob wir nächste Woche noch das Haus verlassen können. Ich habe mir ein anderes Leben für Dich gewünscht als das, was wir gerade führen.
Gleichzeitig weiß ich, wie gut wir es haben. Es gibt so viele Kinder, die es jetzt gerade nicht gut haben bei ihren Eltern. Die sich nicht wie du darauf freuen, ein paar Wochen vor allem mit ihren Eltern zu verbringen. Die Angst haben vor dieser Zeit. Und es gibt Kinder, die gerade gar nicht bei ihren Eltern sein können. Die ganz alleine sind und kein Zuhause haben. Wir haben es gut.
Ich weiß, dass ich auf hohem Niveau leide. Aber ich leide. Morgens geht es mir meistens gut, ich habe Momente der Zuversicht. Abends ist es dann schlimm. Wenn du schläfst, lese ich Nachrichten, höre Podcasts. Und alles, was ich lese und höre, macht es schlimmer. In diesen Momenten fehlt mir die Hoffnung.
Sie fehlt mir auch, wenn wir auf die Straße gehen, um einzukaufen und ich die vielen Menschen sehe, die zusammen vor den Cafés sitzen. „Warum halten die nicht Abstand?“, fragst du mich und ich möchte mich vor diese Leute stellen und ihnen deine Frage ins Gesicht brüllen: WARUM HALTET IHR KEINEN ABSTAND!?
Ich nehme still Deine Hand und wir gehen nach Hause. Zu Hause achte ich darauf, dass Du sie zu zwei Mal Happy Birthday wäschst. Zum Abendessen gibt es Dein Lieblingsessen. Ich versuche, Dir jeden Wunsch zu erfüllen. Weil ich meinen größten Wunsch für Dich – den einer sorgenfreien Kindheit – gerade nicht erfüllen kann.
Ich versuche, stark für Dich zu sein. Ich versuche, groß für Dich zu sein. Ich versuche, zuversichtlich für Dich zu sein. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch kann.
Deine Mama