Wie viele Hosen, Shirts und Kleider braucht es, um glücklich zu sein? Unsere Redakteurin Gizem berichtet in ihrem Voices-Text “Mehr ist mehr (jetzt nicht mehr)”, wie sie eines Tages bemerkte, dass sie ihre Probleme unter einem Berg aus Klamotten begrub. Shoppen war für kein Hobby oder eine Notwendigkeit, sondern eine Ablenkung, ein Fluchtmechanismus, eine Belohnung, ein kurzer Kick, um sich besser zu fühlen.
Ich kaue an meiner Unterlippe, bis ich zu doll zubeiße und mich erschrecke. Immer wieder drehe ich mich langsam im Kreis, runzle die Stirn und kratze mich am Kopf. Ich kann das Ausmaß dessen, was ich da vor mir sehe, einfach nicht fassen. Es ist Sommer, ich bin allein in meiner Wohnung – umgeben von mehreren Bergen von Kleidungsstücken.
Die Kleiderhaufen sind unterschiedlich groß, denn ich habe sie in verschiedene Kategorien eingeteilt: lange Hosen, kurze Hosen, T-Shirts für die Arbeit, T-Shirts für zu Hause, Sport-T-Shirts, Schlaf-T-Shirts, feine Kleider, sexy Kleider, lange Kleider, Röcke, Unterwäsche, Schuhe, Sportschuhe.
„Dein Ernst, Gizem?”, frage ich mich innerlich.
„Wie ist das denn passiert?”
„Ey, keine Ahnung, ich glaub, wir haben ein Problem.”
Ein Schlüsselmoment vor circa vier Jahren. Nach einem Eingriff habe ich innerhalb von wenigen Monaten zwei Kleidergrößen zugenommen und passe nun nicht mehr in meine Klamotten. Ich bin frustriert, will abnehmen, schaffe es nicht und beschließe schließlich – Marie Kondo like – mal ordentlich auszumisten und mich komplett neu einzukleiden, um nicht jeden Morgen einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. (Ich litt wirklich sehr an der Gewichtszunahme.)
Es ist vollkommen verständlich, wenn ihr jetzt denkt, dass ich mit meiner Konfektionsgröße 38/40 mal lieber schön die Klappe halten soll, schließlich gelte ich immer noch als schlank und normschön (was auch immer das bedeutet) – und ihr habt auch recht! Aber vor vier Jahren war ich sehr traurig, vor allem wenn ich immer wieder auf meine Gewichtszunahme angesprochen wurde. Den Satz: „Gizem, sen kilo mu aldın? Ama sana yakışmış” („Gizem, hast du zugenommen? Aber steht dir!”) höre ich zu dieser Zeit mehr als einmal.
Ich setze mich auf den Haufen mit meiner Unterwäsche, es ist einer der größten Haufen im Zimmer. „Niemand braucht sooo viele Schlüpfer”, murmele ich vor mich hin. Wie konnte es so weit kommen?
Ganz einfach: Wenn es mir schlecht ging, habe ich geshoppt. Ich konnte mich stundenlang in irgendwelchen Läden aufhalten, habe immer alles anprobiert und mich, wenn auch nur für kurze Zeit, sehr gut gefühlt. Die Shops (wir wollen sie mal nicht beim Namen nennen) waren mir vertraut, die Umkleidekabinen mein zweites Zuhause. Natürlich war es mir auch wichtig, neue Trends zu verfolgen. Dabei legte ich mir oft eine günstige Fast Fashion-Version zu, denn Geld hatte ich eigentlich keins. Im Nachhinein weiß ich, dass etwas anderes der Grund war und mich das ziellose Einkaufen kurz besser fühlen lassen sollte. Jedes Mal, wenn es mir schlecht ging, fand ich mich in einer Umkleidekabine wieder.
Das änderte sich mit der Zeit, also das mit den Trends im Kleiderschrank. Mit Ende zwanzig interessierte ich mich immer weniger für Kleidungsstücke und mehr für Interior Design. Hauptsache kaufen, Hauptsache eine innere Unruhe kurzzeitig mit Konsum stillen. Mittlerweile besitze ich Untertassen, Sektgläser, Kissenbezüge, Pflanzen und Schreibblöcke für mindestens zehn Gizems.
Mir ist erst sehr spät aufgefallen, dass ich viele dieser Dinge gar nicht brauchte. 100 Nagellacke, 32 Vasen (ich habe sie gerade noch mal gezählt) empfand ich bis vor vier Jahren nicht als problematisch. Im Gegenteil. Denn ich war nicht die Einzige, die so lebte. Meine Freund*innen hatten ein ähnliches Kaufverhalten. Vielleicht fiel der Groschen auch deswegen erst sehr spät.
Unter den unzähligen Klamotten auf meinem Schlafzimmerboden, von denen ich mich jetzt nach und nach liebevoll verabschieden soll, entdecke ich auch viele Stücke mit Etiketten. Wieder frage ich mich: „Dein Ernst, Gizem? Du hast Kleidungsstücke, die du noch NIE getragen hast, in deinem Kleiderschrank?” Noch schlimmer: Ich habe sogar ihre Existenz vergessen. Ich schäme mich direkt noch ein bisschen mehr.
Vieles kann ich auf dem Flohmarkt loswerden, das meiste verschenke ich an Familie und Freund*innen. Jedes Mal, wenn ich ein Teil loswerde, fühle ich mich ein Stück leichter.
Danach kaufe ich erst einmal lange Zeit nichts mehr, und wenn, dann nur sehr selten und nur vintage. Ich sammele Kleidungs- und Möbelstücke auf der Straße ein (in Berlin-Neukölln geht das wunderbar) und belehre meine Freund*innen, bitte sie, auch ihr Konsumverhalten zu hinterfragen. (Auch dafür schäme ich mich im Nachhinein.)
Erst seit kurzem gehe ich wieder in Klamottenläden. Aber immer nur, wenn ich etwas brauche und nie einfach so ohne Ziel. Und natürlich besitze ich immer noch viel zu viel – ein total minimalistisches Leben werde ich wohl nie führen.
Marie Kondo sagt, jedes Stück in meinem Besitz soll Freude bereiten und einen Nutzen haben. Ich sag mal so: Jedes Teil macht mich noch nicht super happy, aber ich glaube, das ist auch okay.
Dieser Text erschien erstmals in unserem Voices Newsletter, für den ihr euch HIER anmelden könnt. Jede Woche teilt darin eine Stimme aus dem EDITION F-Team ihre ganz persönlichen Gedanken zu den Themen Sex, Vereinbarkeit, Popkultur, Mental Health und Arbeit.