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Mit einem Abschluss in Geisteswissenschaften hat man gute Berufschancen? Das stimmt nicht!

Nach dem Abschluss eines geisteswissenschaftlichen Studiums steht dir meist nicht die Welt offen – sondern die Tür zur Arbeitsagentur. Unsere Community-Autorin Jane zieht ein Resumee aus ihren Erfahrungen.

 

Nach dem Abitur kommt die Qual der Wahl

„Der Himmel ist blau und der Rest deines Lebens liegt vor dir. (…) Du hast kein klares Ziel, aber Millionen Möglichkeiten.“, heißt es in einem Lied von den Ärzten.

Genau so fühlt sich das Leben an, wenn man das Abitur in der Tasche hat. Also trifft man nun die einzig richtige Entscheidung und schreibt sich an der Uni für Geschichte, Soziologie, Kulturanthrolopologie, Germanistik, Politik- oder Kommunikationswissenschaft – sprich: einen Wunsch-Studiengang – ein. „Weil dir danach alle Türen offenstehen.“, haben sie gesagt.

Grundsätzlich herrscht in Deutschland laut Gesetz freie Berufswahl. Und das ist gut so. Nur sollte sich man vorher genau überlegen … ja, was eigentlich? Wohin das Ganze am Ende führen soll? Viel verlangt. Wer weiß schon mit 18, 19 oder 20 Jahren, was er sein ganzes Leben lang beruflich machen will? Zumal Flexibilität im beruflichen Bereich heute so stark gefordert wird wie nie zuvor.

Lüge Nummer 1: Der Studiengangsflyer

Als ich mein Studium begann, machte ich den Fehler, mich auf die rosigen Angaben im gelben Studiengangsflyer meiner Universität zu verlassen. Versprochen werden dort u. a. Aussichten auf eine Beschäftigung in der Medien- und Werbe-, Meinungs- und Marktforschung, den Bereichen der Öffentlichkeits- und Medienarbeit von Institutionen, Organisationen und Verbänden (Politik und Verwaltung) oder eine Qualifikation für journalistische Tätigkeiten (Politik und Zeitgeschehen).

Selbst wer sich intensiv mit Studiengangs- und Berufswahl befasst, wird an dieser Stelle im Unklaren darüber gelassen, dass (und so lautet der heutige Zusatz im Studieninformationsblatt meiner Universität) „oftmals (..) jedoch für den konkreten Einsatz eine zusätzliche berufsbezogene Einarbeitung/Ausbildung erforderlich [ist]“.

Der Arbeitsmarkt erwartet also von Studierenden neben dem Studium den Erwerb praktischer und anwendungsorientierter Kenntnisse, sei es durch (natürlich unbezahlte) Praktika, Werkstudentenjobs, Tutorentätigkeiten, Ehrenamt, freie Mitarbeit bei Projekten, Vereinen, Zeitungen und so weiter und so fort.

Du bist dazu bereit und hast neben deinem Studium sowie eventuellen Nebenjobs Zeit dafür? Go for it! Aber erwarte nicht, dass der Arbeitsmarkt diesen enormen Mehraufwand in jedem Fall zu schätzen weiß.

Lüge Nummer 2: „Eine frühe Berufsorientierung und sinnvolle Fächerkombination hilft!“

Grundsätzlich steckt in diesem Statement viel Wahrheit. Zweifelsohne sollte man sich recht früh über ansprechende Berufssparten informieren und – wenn möglich – seine Studienfächerwahl (Zweit-/Nebenfächer, Wahlpflichbereich usw.) gezielt darauf ausrichten.

Das Problem: An vielen Universitäten und Hochschulen stammen die Kombinationsmöglichkeiten aus dem Mittelalter und lassen Studierenden geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen selten wirklich den Raum, Scheine aus den wirtschaftlichen, juristischen oder dem IT-Bereich zu erwerben.

Genau diese zusätzlichen Skills können aber im Vergleich zu Mitbewerbern am Ende einen entscheidenden Pluspunkt bringen. Leider sind die Bedingungen zum Erwerb entsprechender Kenntnisse für Geisteswissenschaftler arg erschwert. Häufig können sich Studierende nur innerhalb der eigenen Fakultät Lehrveranstaltungen anrechnen lassen.

Dazu auch: Studium Integrale und andere Wahlbereiche

An meiner Universität gab es den unnötig großen Bereich AQua (Allgemeine Qualifikationen), der „dem Erwerb von eher berufsfeldorientierenden Kompetenzen“ dienen soll.

Man kann sich also mit Fremdsprachenkenntnissen, Auslandsaufenthalten oder einem Praktikum zwischen 20 und 26 Credit Points für die für ein Bachelorstudium insgesamt benötigten 180 CP anrechnen lassen. Je nach Studiengang sind Pflichtpraktika im Umfang von mindestens zehn Wochen vorgegeben – ein Schritt in die richtige Richtung.

Leider gibt es an fast jeder Universität Unstimmigkeiten in der zeitlichen Planung, sodass die Ausgestaltung des AQua-Bereichs (in manchen Studien-gängen auch „Studium Generale/Integrale“ oder „Schlüsselkompetenzen“ genannt) wie folgt abläuft: Man wählt die Lehrveranstaltung, die zeitlich in den Stundenplan passt. Besonders Studierende, die aus finanziellen Gründen die Regelstudienzeit einhalten müssen, sind dazu gezwungen.

Ein weiteres Problem: Selbst wenn man ein interessantes Seminar findet, das sich nicht mit den eigenen Veranstaltungen überschneidet, kann man es sich unter Umständen nicht anrechnen lassen (so es fakultätsfremd ist).

Lüge Nummer 3: „Das zahlt sich alles aus!“

Häufig liest man von AbsolventInnen*, wie viel Spaß all die Aufopferung der Freizeit neben dem Studium doch gemacht hat und wie wohlwollend potenzielle Arbeitgeber schließlich auf all die parallel zum Studium erworbenen Skills reagiert haben. Die Wahrheit: Es macht dich kaputt. Es ist nicht der Punkt, neben dem Studium arbeiten zu gehen – das müssen bedauerlicherweise sehr, sehr viele Studierende.

Im Klartext zerreißt du dich – schlechtestenfalls – zwischen kostenlosen Artikeln für unbedeutende Blätter (man muss ja Referenzen sammeln!), ehrenamtlichem Engagement beim Verein (Stichwort: Projektmanagement), regulären Vorlesungen und Seminaren, extrem zeitfressenden Seminararbeiten und deinem Pay-Job (sei es Post-Ausliefern, Bar-Jobs oder Nachhilfe geben). Denn der Großteil der Jobs im geisteswissenschaftlichen Sektor macht durchaus Spaß – wird aber nicht mit einer hohen Bezahlung enlohnt.

Aber du weißt doch: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre.“ 

Nun ja, das muss man sich aber auch leisten können. Denn entsprechende Absolventinnen und Absolventen hatten zumeist ein extrem gutes soziales wie finanzielles Netz, das etwaige Phasen von Nicht-Beschäftigung oder enormer Unterbezahlung während und nach dem Studium abfangen konnte.

Lüge Nummer 4: „Als Akademiker bist du doch hoch qualifiziert.“ 

Die Wahrheit: Jeder Absolvent einer betrieblichen Ausbildung ist besser für den Arbeitsmarkt qualifiziert als du. Warum das so ist? Weil niemand mit den Wow!-Skills deines bombastisch interessanten geisteswissenschaftlichen Studiengangs etwas anfangen kann. Analysieren, Zusammenhänge erkennen, Textverständnis, Literaturrecherche Level Expert – who cares. Was zählt, sind vor allem Fakten. Das Traurige, zumindest habe ich diese Erfahrung gemacht: Auch deine praktischen Referenzen nutzen dann kaum etwas.

Als ich nach meinem Studium arbeitslos wurde, suchte ich ein Jahr lang nach einem Job. Gerade einmal jede vierte Bewerbung (von insgesamt 126) führt zu einem Bewerbungsgespräch. Und dort interessierte sich niemand für meinen Abschluss, meine Noten oder die Inhalte meines Studiums (auch nicht meine Abschlussarbeit).

Keine Spezialisierung, kein mit Bedacht ausgesuchter Wahlbereich war von Belang. Einzig die Spalte „Berufserfahrung“ im Lebenslauf. Ich schickte eine Sammlung ausgewählter Arbeitsproben mit – fast nie gab es einen Hinweis darauf, ob diese schriftlichen Referenzen auch nur eines Blickes gewürdigt wurden.

Worauf ihr euch stattdessen gefasst machen dürft? Euch für Entscheidungen in eurem Leben rechtfertigen zu müssen, die ihr vor sieben Jahren getroffen habt.

Lüge Nummer 5: „Nach etwa ein bis zwei Jahren haben auch 90 Prozent aller Geisteswissenschaftler einen Job gefunden.“

Nur was für einen Job. Call-Center? Aushilfe im Verkauf? Kundenberater? Zumeist arbeiten Geisteswissenschaftler unter prekärsten Bedingungen. Sprich: Mindestlohn und darunter (wenn Teilzeit). Erwartet wird aber maximale Flexiblität, Engagement, Motivation, Einsatzbereitschaft usw. Ja, das ist leider in vielen Berufssparten so.

Warum das nun gerade einen Geisteswissenschaftler so trifft? Weile viele von ihnen irgendwann mit dem Glauben diesen Berufsweg gegangen sind, sich selbst verwirklichen zu können. Viele sind Idealisten, sie müssen sich mit dem identifizieren, was sie tun. Und das ist okay. Solche Menschen braucht die Gesellschaft.

Nur was passiert mit jenen, die sich mit Ende 20 langsam mal etwas aufbauen möchten? Die nicht mehr in einem 10qm-WG-Zimmer wohnen und täglich anderthalb Stunden zur Arbeit und zurück pendeln wollen? Und das für einen unterirdischen Lohn?

Was passiert, wenn einem klar wird, dass das „Einstiegsgehalt“ sich nie erhöhen wird – weil man in einem hippen Startup feststeckt, das zwar „cool“ ist, aber kaum Einnahmen verbucht? Und, dass man seine Schulden vom Studium (bei gleichbleibendem Gehalt) bis zur Rente abzahlen wird – ohne sich je einen Urlaub oder eine eigene Wohnung leisten zu können?

Wenn du Eltern hast, die dir dein Studium (etwas) (mit-)finanzieren können, kein Problem. Wenn du auf BaföG oder Studienkredit angewiesen bist, rate ich nach meinen Erfahrungen von einem geisteswissenschaftlichen Studium ab!

Lüge Nummer 6: „Vergleich dich nicht mit anderen und genieß dein Leben.“

Klingt immer so verdammt easy und ein bisschen sexy. Aber jeden holt irgendwann der Ernst des Lebens ein. Spätestens wenn einem klar wird, dass man sich nicht einmal die banalsten Dinge im Leben erfüllen kann (ein Festivalbesuch, den Führerschein zu machen, mit seinem Partner zusammenzuziehen), weil man immer noch im katastrophalen Lohndumping feststeckt. Auch Jahre, nachdem man den Status des „Berufseinsteigers“ längst verlassen haben sollte.

Nach meinem Studienabschluss wurde mir ein Volontariat angeboten. Anderthalb Jahre, Vollzeit, 900 Euro brutto. Ohne Aussicht, danach in Festanstellung übernommen zu werden. Hier liegt ganz klar gezielte und wissentliche Ausbeutung geisteswissenschaftlicher Absolventen vor. Lasst euch unter keinen Umständen auf so etwas ein!

Lüge Nummer 7: „Eure Einsatzmöglichkeiten sind riesig!“

Nur, wo finde ich einen Job? Studiengangsseiten preisen u. a. folgende Einsatzmöglichkeiten nach dem Abschluss an:

– den Hochschulbereich

– das Archiv- und Bibliothekswesen

– die Erwachsenenbildung

– das Verlagswesen

– Kultureinrichtungen und Museen

– Medien (Presse, Rundfunk und Fernsehen)

– Public Relations-Abteilungen von Firmen und Verbänden

– Unternehmensberatungen

– Personalmarketing und Personalmanagement

Dabei sollte man sich klarmachen, dass Festanstellungen in diesen Bereichen nicht zwingend die Regel sind. Jobs an der Universität sind rar und ebenfalls meist befristet. Für das Archiv- und Bibliothekswesen qualifiziert eine Ausbildung (Fachangestellte/r für Medien- und Informationsdienste) oder aber ein Studium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, nicht aber (allein) ein geisteswissenschaftlicher Abschluss.

Zudem steht Interessenten für den Archivdienst mindestens eine zweijährige Laufbahn im gehobenen Verwaltungsdienst bevor – im Anschluss an den Master, versteht sich. Im Verlagswesen konkurriert ihr mit Medien- und Verlagskaufleuten um Jobs, wer ins Marketing will, hätte besser eine Ausbildung absolviert.

Wege in die Medienlandschaft führen häufig über un(ter)bezahlte Praktika und Volontariate – und daraus folgt dann häufig auch eine freie Mitarbeit auf Honorarbasis. Für die Erwachsenenbildung benötigt ihr meist zusätzliche Zertifikate, z. B. die Prüferlizenz telc. Viele Geisteswissenschaftler müssen sich als Freiberufler über Wasser halten. Oder sie sind arbeitslos.

Auch für vermeintlich zum Berufseinsteig für Geisteswissenschaftler optimal geeignete Jobs in Startups & Co steht ihr immer im direkten Vergleich zu Absolventen wirtschaftlicher und technischer Fächer, die zum Teil bereits mehr Berufserfahrung (duales Studium etc.) vorweisen können.

Die Wahrheit: Befristung und Projektarbeit

Viele Geisteswissenschaftler arbeiten befristet an kulturellen Projekten mit. Das Problem: Nach einem halben Jahr ist das Projekt vorüber und man darf sich wieder beim Arbeitsamt melden. Nicht zu erwähnen, dass dortige Mitarbeiter – selbst wenn sie engagiert und kompetent sein mögen – häufig keinerlei Hilfe bei der Jobsuche sind. Was bleibt, ist das endlose Durchforsten von Online-Jobbörsen und Homepages potenzieller Arbeitgeber, sofern man kein fancy Netzwerk hat, durch das man im Handumdrehen wieder in Beschäftigung kommt.

Viele meiner Kommilitonen haben nach dem Studium eine Ausbildung oder eine Umschulung absolviert, weil es kaum Einsatzmöglichkeiten für Geisteswissenschaftler gibt. In dieser Zeit haben sie weitere zwei oder drei Jahre von Hartz IV oder einem mickrigen Lehrlingsgehalt gelebt. Ein Leben war in dieser Zeit meist nur mithilfe finanzieller Unterstützung durch die Familie oder einen kontinuierlich verdienenden Partner möglich.

Setzt die rosarote Brille ab!

Das Einzige, was ich nach all meinen Erfahrungen (zahlreiche Referenzen parallel zum Studium, freiwillige (unvergütete!) Praktika, unbezahlte Mitarbeit an (Online-)Magazinen, Ausbeutung trotz Bachelorabschluss auf Mindestlohn, erzwungene Scheinselbstständigkeit, über ein Jahr Arbeitslosigkeit und Hartz IV) wirklich raten kann, ist:

Wer nicht wirkliches Interesse an dem Kern des Faches hat und zudem über eine finanzielle Absicherung vonseiten der Familie verfügt, sollte wirklich darüber nachdenken, ob er ein geisteswissenschaftliches Studium aufnimmt. Die Berufschancen sind trotz hohem Engagement, Motivation und dem Sammeln zahlreicher anwendungsorientierter Kenntnisse neben dem Studium, guten Noten und dem Einhalten der Regelstudienzeit absolut schwierig. Die finanziellen Verluste in den ersten Berufsjahren können in den seltensten Fällen ausgeglichen werden und eine Rückzahlung von BaföG-Schulden ist so fast nicht zu schaffen.

Was ich studiert habe?

Germanistik (Sprachwissenschaft) in der Spezialisierung auf AVS/Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft (auch Historische Linguistik oder Indogermanistik genannt); Zweitfächer: Kunstgeschichte (weil ich es musste – sinnlosem Kombinationszwang sei Dank) und Musikwissenschaft (was mich wirklich interessiert hat).

Ob ich das jemandem empfehlen würde?

Nein, niemals. Ich würde nicht noch einmal dasselbe studieren. Dazu muss allerdings auch gesagt werden, dass meine Lehrstuhl (AVS) am Ende meines Bachelors geschlossen wurde. Daraufhin wurden die zu meiner Zeit getrennt wählbaren Bereiche Literatur- und Sprachwissenschaft zu einem vollgermanistischen Studiengang zusammengepresst – die Uni muss schließlich Geld einsparen. Für Studierende bedeutet das: noch mehr oberflächliche Vermittlung arbeitsmarktirrelevanter Kenntnisse. Leider die Wahrheit.

Was habe ich aus meinem Studium für den Beruf mitgenommen?

Bedauerlicherweise fast nichts. Grammatiktheorien, kulturwissenschaftliche Methoden in der Musikwissenschaft und das völlig stupide Auswendiglernen von mehreren hundert Gemälden, Skulpturen und Bauwerken verschiedener Epochen sind leider nicht das, was es auf dem Arbeitsmarkt braucht.

Alles, was ich für meinen heutigen Beruf brauche, habe ich in meinen Praktika, der freien Mitarbeit bei (Online)-Magazinen und durch meinen Teilzeit-Job während des Masterstudiums gelernt. Konkret: Umgang mit CMS, Onpage-SEO, Social Media Monitoring, Erfahrung im Korrektorat/Lektorat und mit verschiedenen Textsorten sowie Unternehmenskommunikation.

Wie ich einen Job gefunden habe?

Glück. Lange Arbeitslosigkeit (über ein Jahr). 126 Bewerbungen. Eine Weiterbildung.

Es war keine ausgeschriebene Stelle.

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