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Wie Schizophrenie meinen Vater verändert hat – und wir lernen mussten, damit umzugehen

Wie ist es, mit einem schizophrenen Menschen zu leben? Unsere Community-Autorin schreibt über die schleichende Veränderung ihres Vaters.

 

Ich konnte erst nicht verstehen, was mit meinem Vater passierte

Ich war 18 Jahre alt, als mein Vater mit einem Kreuz über meinem Bett stand und sagte: „Steh auf und bete das Vaterunser, Jesus ist hier.“ Ich drehte mich in meinem Bett und bat ihn verwundert zu gehen. Er wurde aggressiv und so stand ich dann doch auf und betete mit ihm. Ich war verwirrt, was war denn los?

Der Morgen danach war wie immer. Jeder ging seiner Wege. Ich war mitten in meiner Ausbildung zur Buchhändlerin und verdrängte das Vorgefallene. Als ich zurück nach Hause kam, hing an der Stelle der Weltkarte im Wohnzimmer nun das Kreuz. Mein Vater arbeitete in einer Filztuchfabrik und hatte an diesem Tag Nachmittagsschicht, so dass ich diesen Vorfall unter vier Augen mit meiner Mutter besprach. Sie meinte, er hätte einfach noch einen tiefen Glauben, (wir sind syrisch-orthodoxe Aramäer) ich solle das schlicht ignorieren. Also ignorierten wir es vorerst, genauso wie weitere Hinweise – wie naiv wir waren, sollte sich Jahre später erst herausstellen.

Er zog sich immer mehr in seine eigene Welt zurück

Das Leben ging weiter, meine vier Geschwister und ich gingen in die Schule, schlossen unsere Ausbildungen ab, arbeiten und taten das was alle jungen Menschen zwischen 20 und 30 taten. Freundschaften, Urlaube, Ausgehen und was eben ein junger Mensch so tut. Trotzdem belastete uns die Krankheit sehr. Die Familienbande waren sehr eng. Wir kamen uns vor wie Musketiere.

Unser Vater wurde derweil immer rückständiger im Denken und schloss sich in seine Welt ein. Mittlerweile war er sieben Mal in Israel gewesen, die Grabeskirche wurde sein zweites Zuhause. Da meine Mutter sich einbildete, das täte ihm alles gut, unternahm sie nichts. Doch nach und nach bemerkten wir, dass er in seinen Unterhaltungen immer mehr abdriftete und nur noch über religiöse Dinge sprach, die ihm wichtiger als alles andere wurden.

Seine Familie war nur noch Nebensache. Alles drehte sich nur noch um Jesus. Bis zur totalen Sonnenfinsternis 1999 – denn Jesus erschien ihm nicht, wie er gehofft hatte, und wurde deshalb von meinem Vater gnadenlos abgeschrieben. Von da an nannte er sich selber Gottes Sohn. Unsere Bemühungen, unsere Mutter davon zu überzeugen, dass ihr Mann krank ist scheiterten. Natürlich wusste sie es, ignorierte es aber und tat es weiterhin als Phase ab. Er wurde mit der Zeit immer gewalttätiger und ich wurde Zeuge davon, wie er meine hochschwangere Mutter im Rausch die Treppen herunter stieß und sie so eine Fehlgeburt erlitt. Es war einfach nur schrecklich.

Es war schrecklich, mit anzusehen wie er immer mehr abdriftete

Wir baten ihn, zu einem Psychologen zu gehen. Sobald wir ihn darauf ansprachen, wurde er aggressiv. Eine einfache Diskussion, war mit ihm, der Diskussionen so liebte, nicht mehr möglich. Es war schrecklich mit anzusehen, wie er mehr und mehr abdriftete. Jahre vergingen, in denen es gute und schlechte Phasen gab, bis mir irgendwann der Kragen platzte, denn das Auf und Ab machte mich wahnsinnig. Ich wendete mich an eine Neurologische Klinik und sprach mit einer Ärztin über die Krankheit meines Vaters. Da er in zwei Welten zu Hause war, gab es auch nur eine Diagnose. Schizophrenie.

Als meine Schwester abends von einer Fortbildung nach Hause kam – wir wohnten alle noch zu Hause – griff er sie verbal auf das Übelste an. Auch meine Mutter bekam ihr Fett weg, ihre Töchter hätte sie zu Schlampen erzogen. Daraufhin nahm ich Kontakt mit seinem Hausarzt aus, der uns nur widerwillig Auskunft gab. Er könne uns nicht helfen und empfahl mir einen Neurologen, an den ich mich dann wandte. Nach einer erneuten Attacke gegen meine Mutter, zögerte ich nicht mehr, besprach mich mit dem Neurologen und das Thema Zwangseinweisung wurde besprochen. Eine Familienkonferenz wurde einberufen und ich redete auf meine Mutter ein, die mit den Nerven mittlerweile auch am Ende war, die Sache durchzuziehen. Für uns alle.

Jahrelange Ängste hatten sein Herz geschwächt

Am nächsten Morgen wurde mein Vater von der Polizei abgeholt und zwangseingewiesen – es war kein leichter Schritt, doch der einzige, der in dem Moment noch sinnvoll erschien. Allerdings wurde er eine Woche später wieder entlassen und setzte selbstständig die Medikamente ab. Eines Abends fand ich ihn fast leblos im Stuhl. Wir packten ihn ins Auto und fuhren ihn ins Krankenhaus. Diagnose: Herzinsuffizienz. Mein Vater hatte eigentlich ein Sportlerherz, aber seine jahrelangen Ängste und Belastungen führten wohl zu dieser Diagnose. Schließlich sah seine Realität so aus: Er arbeitete in der Fabrik, gleichzeitig war er „Prophet“, fünffacher Familienvater und ernährte zudem noch seine Eltern und Geschwister in der Türkei – meine Eltern kamen als Gastarbeiter in den 70er Jahren nach Deutschland.

Es folgen lange Krankenhausaufenthalte, die Filztuchfabrik, in der er gearbeitet hatte, wurde verkauft und plötzlich war er arbeitslos. Versuche ihn über die Lebenshilfe zu beschäftigen scheiterten, da er nicht mehr arbeitsfähig war. Er war einfach zu geschwächt. Seit fünf Jahren ist er nun zu Hause. Mittlerweile ist er 61 Jahre alt und wir erleben weiterhin Abenteuer mit ihm, obwohl er seine Medikamente mittlerweile nimmt. Neulich ist einfach abgehauen. Er wollte in seine Heimat fliegen, ohne Medikamente und Klamotten. Mein jüngster Bruder rief ihn an und bat ihn zum Essen zu kommen, als er Stimmen im Hintergrund bemerkten, die eindeutig nach Flughafen klangen.

In einer anderen Welt zuhause

Wir alarmierten die Polizei, ich fuhr direkt hin, und sah meinen Vater sichtlich nervös vor den Sicherheitskontrollen warten. Als ich ihn fragte, warum er einfach so fliegen wollte, ohne uns zu informieren, meinte er, seine Familie sei nicht hier. Sie sei dort, wo das Gras grün und fünf Meter hoch ist. Im Paradies. Ich versuchte das Flughafenpersonal zu überzeugen, dass mein Vater nicht fliegen durfte. Doch keiner konnte und wollte uns helfen. Am Flughafen selbst ging ich zur Landespolizei. Bei der Befragung stellten die Beamten fest, dass mein Vater eindeutig in einer anderen Welt zu Hause ist.

Als ich bei seiner betreuenden Ärztin anrief, schimpfte sie mit mir und meinte, ich solle geduldiger sein. Aber mit was denn bitte, bis er mit seinem hohem Blutdruck und ohnehin schwachem Herz einen Infarkt bekommt? Ich hatte einfach Angst um ihn. Mittlerweile waren auch Sanitäter da und die bestätigten den Polizisten, dass er reiseunfähig ist. Die Streife brachte ihn direkt in die Klinik. Bei der Aufnahme gab er endlich zu, krank zu sein.

Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt

Ich habe mich noch nie in meinem Leben so hilflos gefühlt, wie an diesem Nachmittag am Stuttgarter Flughafen. Keiner glaubte uns, keine fühlte sich verantwortlich. Wir wurden weder von Ärzten noch Sicherheitsbeamten ernst genommen. Die psychologische Hotline war unbesetzt und nicht einmal seine betreuende Ärztin glaubte uns. Im Gegenteil, man warf uns vor, wir wollen ihn abschieben. 

Mein Vater war und ist ein gutherziger Mensch. Er war und ist einfach krank. Wir Kinder wurden in einem toleranten, großzügigen Elternhaus groß – genau deshalb haben wir auch lange gezögert, etwas zu unternehmen und fiel es uns schwer, zu akzeptieren, dass er wirklich richtig krank ist. Und deshalb würden wir auch alles tun, um ihn einigermaßen wieder fit zu bekommen. Doch die Ärzte geben ihm noch maximal fünf Jahre, da seine Herzleistung der eines 80-Jährigen entspricht.

Viel zu viele Menschen müssen alleine mit ihrer Erkrankung klarkommen

Vielen Menschen merkt man ihre Erkrankungen nicht gleich an, schon gar nicht, wenn man sich nicht die Zeit nimmt oder aber Angst hat, genau hinzusehen. Doch sie verdienen genauso viel Aufmerksamkeit und einen Platz in der Gesellschaft, wie jene, bei denen man die Erkrankung schneller wahrnimmt. Wir müssen mehr über diese Erkrankungen sprechen und ein besseres Bewusstsein dafür bekommen – und genau deshalb habe ich meine Geschichte hier aufgeschrieben. Denn viel zu oft schauen wir lieber weg, wenn es unangenehm wird, und bilden um uns einen Kokon aus einer heilen Welt, die so gar nicht existiert.

Mein Appell an alle, die das lesen: Schaut nicht weg, wenn jemand Selbstgespräche führt oder sich in einer anderen Form „merkwürdig“ verhält. Viele Menschen müssen alleine mit ihrer Krankheit klarkommen, weil sich ihre Familie abgewendet hat oder Ehen daran zerbrochen sind. Dass wir es als Familie geschafft haben, zusammenzuhalten und weiterhin hinter meinem Vater zu stehen, war eine gemeinsame Leistung. Aber genau deshalb ist es so wichtig, dass wir lernen, nicht wegzusehen. Niemand sollte mit seiner Erkrankung alleine sein müssen.

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