Die Berliner Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe spricht mit uns über die aktuellen Geschehnisse in der Türkei, die Verführungskraft des türkischen Staatspräsidenten Erdogan und warum sie keine Lust hat, in der Migrantenschublade zu landen.
Erdogans krude Vorwürfe
Die Berlinerin Cansel Kiziltepe ist 40 Jahre alt und sitzt seit 2013 für die SPD im Deutschen Bundestag, ihr Wahlkreis ist Friedrichshain-Kreuzberg. Die studierte Volkswirtin beschäftigt sich eigentlich vor allem mit Finanzpolitik, seit der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages bekommt sie zunehmend Drohungen. Ihr und den anderen zehn Bundestagsabgeordneten mit türkischen Wurzeln wurde Vaterlandsverrat vorgeworfen, der türkische Staatspräsident Erdogan sprach sich in einer kruden Rede für „Bluttests“ für türkischstämmige Bundestagsabgeordnete aus.
Seitdem ist Kiziltepe immer wieder unter Polizeischutz unterwegs, wenn sie Veranstaltungen in ihrem Wahlkreis besucht. Wir haben sie in ihrem Abgeordnetenbüro in Berlin zum Gespräch getroffen.
Sie sind Berlinerin, in Kreuzberg geboren und aufgewachsen, und Sie haben türkische Wurzeln. Nach der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages, in der die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord bezeichnet werden, wurde Sie und die anderen türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten massiv bedroht. Was macht das mit Ihnen persönlich?
„Ich habe die Reaktionen nach der Armenien-Resolution überhaupt nicht verstehen können. Ich bin deutsche Politikerin, ich mache deutsche Politik, Finanzpolitik, ich hatte schon immer Probleme mit diesem Schubladendenken – als Bundestagsabgeordnete werde ich natürlich oft von Medien zu Integrationsthemen angefragt; genau das wollte ich eigentlich nie, ich mag es nicht, in eine Schublade gesteckt zu werden. In diesem Fall in die Schublade mit Integrations- und Migrationsthemen, ich möchte nicht reduziert werden auf meinen Hintergrund. Ich bin keine Migrantin, ich bin in Kreuzberg geboren, meine Eltern sind als Gastarbeiter Anfang der sechziger Jahre nach Deutschland gekommen. Natürlich bin ich in dieser Kultur aufgewachsen, durch unseren Bekanntenkreis, durch meine Familie, aber ich wurde in Kreuzberg sozialisiert, ich fühle mich als Kreuzbergerin, als Berlinern, als Europäerin. Ich mache keine Politik, die die vermeintlichen Staatsinteressen der Türkei vertritt. Und deshalb haben mich die Reaktionen nach der Abstimmung zur Armenien-Frage im Deutschen Bundestag schon verwundert.“
Was sind die Gründe für solche Drohungen? Glauben Sie, dass Menschen in der Türkei oder mit türkischen Wurzeln denken, weil Sie auch diese Wurzeln haben, hätten Sie Verrat an der Türkei betrieben, oder was treibt diese Menschen an?
„Genau das ist das Problem – wir werden als Vaterlandsverräter gesehen. Wir hätten unsere Wurzeln vergessen, wo wir herkommen, und würden nicht im Sinne unserer türkischen Wurzeln in unserer politischen Arbeit agieren. Das ist die Haltung, die hinter den Drohungen steckt, und all das wird natürlich befeuert, wenn der Staatspräsident eines Landes genau das wiederholt. Unser Blut sei verunreinigt, solche Aussagen befeuern die Haltung dieser Menschen. Von einem Staatspräsidenten würde man sich anderes erwarten.“
„Die Türkei ist mittlerweile ein Gefängnis für Journalisten.“
Wenn man Ihnen auf Twitter folgt und auch sonst Ihre Äußerungen verfolgt, dann kann man daraus aber schon schließen, dass es Ihnen ein Bedürfnis ist, sich zu den aktuellen Geschehnissen in der Türkei zu positionieren.
„Ja. Ich sehe die Entwicklungen in der Türkei schon seit Längerem kritisch, aber was in den letzten Jahren und vor allem Monaten in der Türkei passiert, ist sehr besorgniserregend; die Türkei ist mittlerweile ein Gefängnis für Journalisten; ,Reporter ohne Grenzen’ hat dazu die aktuellen Zahlen, die Türkei ist jedenfalls das Land, in dem die meisten Journalisten weltweit im Gefängnis sitzen, die Meinungs- und Pressefreiheit ist fernab von dem, was man sich für ein europäisches, westliches Land wünschen würde; dazu kommt, dass die Rechte der Opposition beschnitten werden, dass Gesetze geschaffen werden wie die Anti-Terror-Gesetze, die dazu führen, dass es einfacher ist, Menschen aufgrund einer persönlichen Meinungsäußerung schnell festnehmen und anklagen zu können. Was Terrorismus bedeutet, ist in diesen Gesetzen sehr weit gefasst und ermöglicht den Behörden, schneller einzugreifen, wenn missliebige Meinungen geäußert werden. In der Türkei herrscht aktuell ein Zustand, in dem kein Mensch sich traut, irgendeine Meinung zu äußern, weil er befürchten muss, der gegnerischen Seite zugeordnet und dann auch belangt werden zu können. Eine solche Atmosphäre der Angst hat nichts mit einer Demokratie zu tun, im Fall der Türkei kann man momentan ohnehin nicht von einer Demokratie sprechen: Es gibt keine Gewaltenteilung, rechtsstaatliche Prinzipien werden nicht eingehalten, Richter werden abgesetzt; was dort gerade passiert, ist für uns hier wirklich unvorstellbar.“
„Erdogan gibt den Menschen in der Türkei, und hier in Deutschland, den Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, eine Identität.“
Sind Sie im Austausch mit Familie oder Freunden in der Türkei darüber, was dort gerade passiert?
„Ja, aber alle wissen auch, dass abgehört wird, alle sind vorsichtig. Eine Freundin zum Beispiel hat mir erzählt, dass Menschen auf den Straßen willkürlich angehalten werden, ihr Handy sofort beschlagnahmt wird, ohne Anlass, und geguckt wird, wie der- oder diejenige kommuniziert, welche Nachrichten über Whatsapp verfasst wurden, ob da kritische Äußerungen dabei sind. Völlig willkürlich und beliebig. Solche Dinge passieren dort, und wir erleben, dass die Erdoganisten aufgefordert werden, andere, die zum gegnerischen Lager gehören, zu melden, zu denunzieren; es wurde eine staatliche Behörde genannt, bei der man solche Leute melden kann, so werden schwarze Listen erstellt.“
Was für Außenstehenden unverständlich erscheint: Warum hat Erdogan so viele Anhänger, warum stehen so viele Menschen hinter jemandem, der diktatorische Züge trägt und autokratisch agiert? In allen Schichten und Bildungsmilieus hat Erdogan Anhänger. Wie kann man sich das erklären?
„Ich habe für mich eine Erklärung gefunden: Erdogan gibt den Menschen in der Türkei, und hier in Deutschland, den Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, eine Identität; er zeigt ihnen durch seine Art und Weise: Die Türkei ist stark, ihr müsst euch nicht kleinmachen, auch im Ausland nicht, ihr habt ein starkes, ein mächtiges Vaterland hinter euch. Das fällt natürlich auf fruchtbaren Boden bei Leuten, die seit Jahren und Jahrzehnten hier leben und immer noch nicht anerkannt werden, die in der Presse negativ dargestellt werden, die miterleben, wie Leute wie Buschkowsky oder Sarrazin sich zu Wort melden; diese Menschen denken ,Man, egal was wir machen, wir werden nicht anerkannt, wir sind nicht angekommen, und die Leute finden uns scheiße’. Diese Reaktion kann ich teilweise nachvollziehen. Ich selbst habe den Aufstieg über Bildung geschafft, ich bin in Kreuzberg zur Schule gegangen, andere Kinder aus meinem Umfeld mit vergleichbarem Hintergrund haben es nicht geschafft, sie bekommen heute Hartz IV. Ich habe hier studiert, aber solche Beispiele wie ich werden nie genannt, dabei gibt es viele wie mich. Man hat seit 50 Jahren viel verschlafen in der Integrationspolitik.“
Auch wenn Sie vorhin sagten, Sie wollten nicht in eine Schublade gesteckt werden: Das Thema Integration ist eines, zu dem Sie sich regelmäßig äußern.
„Ja natürlich, ich kann das nicht ablegen, ich habe schwarze Haare, man sieht, dass ich einen Migrationshintergrund habe, ich will benennen, was schiefgelaufen ist beim Thema Integration. Und selbstverständlich setze ich mich in meiner politischen Arbeit dafür ein, dass das besser wird.“
Sie sagten gerade, Sie hätten den Aufstieg durch Bildung geschafft, andere Kinder aus ihrem Umfeld mit ähnlichen Voraussetzungen nicht – was ist bei Ihnen anders gelaufen als bei diesen Kindern?
„Das ist tatsächlich eine spannende Frage…die Kinder mit einem ähnlichen Hintergrund wie ich, die ich heute immer noch treffe, die immer noch meine Freunde sind, haben Schulen in der Umgebung in Kreuzberg besucht; meine Eltern haben für uns damals eine Schule ausgesucht, die als Pilotprojekt Ganztagsbetreuung anbot; in dieser Ganztagsschule haben wir Hausaufgabenbetreuung, Hausaufgabenhilfe bekommen, was auch ich zu Hause wie die anderen Kinder nicht gehabt hätte. Der Unterschied war, dass es meinen Eltern wichtig war, dass wir eine Schule besuchen, die uns Chancen eröffnet.“
„Ich finde die Haltung der Bundesregierung bisher sehr zurückhaltend, Flüchtlingsdeal hin oder her.“
Würden Sie sagen, dass diese Euphorie für Erdogan, die auch hier in Deutschland unter Deutschtürken oder Menschen mit türkischen Wurzeln zu beobachten ist, eine Konsequenz aus mangelnder Integration ist? Weil er eben auf populistische Weise diese Menschen in ihrer Identität bestärkt?
„Ja, ich glaube, die verfehlte deutsche Integrationspolitik hat daran einen großen Anteil.“
Was wäre Ihrer Ansicht nach die richtige Reaktion der Bundesregierung auf die aktuellen Geschehnisse in der Türkei? Man hat das Gefühl, dass keine wirkliche kritische Positionierung erfolgt, weil man in der Flüchtlingsfrage auf die Türkei und den mit der Türkei geschlossenen EU-Flüchtlingspakt angewiesen ist?
„Ich finde die Haltung der Bundesregierung bisher sehr zurückhaltend, Flüchtlingsdeal hin oder her. Da müssen konkrete Grenzen gesetzt werden, es muss gesagt werden, dass das so nicht läuft. Man muss deutlich sagen, was nicht geht, zum Beispiel in der momentanen Diskussion über die Einführung der Todesstrafe in der Türkei. Anfang August gab es wieder eine von der AKP initiierte Veranstaltung in Istanbul, zu der sich fünf Millionen Menschen versammelt haben, dort hat Erdogan erneut gesagt, dass er die Todesstrafe einführen werden, wenn das Volk es so wolle – und er beruft sich darauf, dass es in vielen anderen Länder, wie den USA oder China, auch die Todesstrafe gibt.“
Die Argumentation liegt aus Erdogans Sicht ja leider nahe.
„Aber es ist mit unseren Werten, mit der Grundrechtecharta in Europa natürlich überhaupt nicht vereinbar. Hier muss sich die Bundesregierung deutlich positionieren!“
„Erdogan will alles, was gegen ihn geht, plattmachen.“
Was Sie persönlich betrifft: Seit der Armenien-Resolution und den Drohungen gegen Sie sind Sie teilweise mit Personenschützern unterwegs. Hat sich ihr Sicherheitsgefühl nochmal verschlechtert angesichts der Ereignisse in der Türkei nach dem Putsch?
„Ich habe den Personenschutz ein paar Mal für Veranstaltungen genutzt, bei denen ich mir nicht sicher war, wie die Lage dort sein würde; mein Wahlkreis ist Friedrichshain-Kreuzberg – in Kreuzberg versammelt sich die größte türkische Community, die türkischen Dachverbände sitzen hier, zum Beispiel der Ditib-Moscheen. Aus der türkischen Community wurde der Hinweis an mich herangetragen, ich solle mich eine Zeitlang nicht blicken lassen. Bei einer Veranstaltung in Kreuzberg war es auch tatsächlich richtig, die Personenschützer dabeizuhaben – plötzlich tauchte da eine Gruppe von Leuten auf, die sehr aggressiv waren. Bei der Veranstaltung ging es um die Wahlen in Berlin, und diese Leute fokussierten sich komplett auf das Armenien-Thema , das war sehr bedrohlich.“
Hat sich an Ihrer persönlichen Situation, durch Ihre kritischen Äußerungen zur aktuellen Lage nach dem Putsch, etwas geändert, zusätzlich verschärft?
„Jede kritische Meinung, jede Äußerung zur AKP sieht Erdogan als Bedrohung. Er will alles, was gegen ihn geht, plattmachen. Und natürlich äußere ich mich weiterhin kritisch zu den Entwicklungen – es kann passieren, dass man dadurch auf bestimmte Listen gerät. Das Auswärtige Amt jedenfalls hat uns Bundestagsabgeordneten mit türkischen Wurzeln davon abgeraten, derzeit in die Türkei zu reisen, weil unsere Sicherheit nicht gewährleistet sei. Zwei Vereinigungen in der Türkei haben Strafanzeige gegen uns, also alle elf Bundestagsabgeordneten mit türkische Wurzeln, erstattet nach der Armenien-Abstimmung, wegen Beleidigung des türkischen Staates und Vaterlandsverrat.“
Das heißt, bei einer Einreise in die Türkei könnten Sie verhaftet werden?
„Das könnte passieren. Das Verfahren ist nach meinem neuesten Stand bisher noch nicht eingeleitet.“
Betrifft Sie das in Ihrer persönlichen Lebensplanung?
„Ich bin regelmäßig in der Türkei, meine Eltern verbringen die Hälfte des Jahres dort, natürlich betrifft mich das – wenn ich mir vorstelle, dass irgendetwas passiert und ich nicht in die Türkei reisen könnte, um zu helfen, ist das schon schwierig.“
Wenn Sie in die Zukunft blicken: Wie wird sich die Lage Ihrer Meinung nach entwicklen? Könnte es sein, dass Sie nächstes Jahr wieder ohne Angst in die Türkei reisen?
„Ich sehe für die nächsten drei Jahre davon ab, in die Türkei zu reisen. Solange die Lage so repressiv ist. Aber ich hoffe natürlich, dass die Opposition sich endlich zusammenrauft, und die Menschen erkennen, was alles falsch läuft. Erdogan hat zwar die Hälfte der Wahlbevölkerung hinter sich – aber die andere Hälfte eben nicht, es ist ja nicht so, als würde er über 70 oder 80 Prozent Zustimmung verfügen.“
Nochmal zur deutschen Politik: Die SPD steht gerade nicht gerade glorios da. Auch viele jüngere Menschen haben ein sehr negatives Bild von Politikern. Was inspiriert Sie, diesen mühsamen Job zu machen? Was hat Ihr Leidenschaft dafür geweckt? Und was hilft dabei, sich nicht zermürben zu lassen?
„Es ist natürlich immer der Anspruch, ganz klassisch, etwas verändern zu wollen. Ich möchte aus meiner ganz persönlichen Biografie heraus anderen Menschen den Aufstieg durch Bildung ermöglichen, auch wenn sie von zu Hause nicht die Möglichkeiten dazu mitbekommen – durch Angebote des Staates, wie Kitas und Ganztagsschulen. Ich war lange ehrenamtlich in der SPD unterwegs, und ich habe gesehen, dass man etwas verändern kann, auch wenn es lange dauert, aber es funktioniert. Das ist dann nicht die hundertprozentige eigene Forderung, die man anfangs aufgestellt hatte, aber die Demokratie lebt nun mal von Kompromissen, man kann nicht immer nur meckern; man muss dann auch mal anpacken, das muss ja nicht in einer Partei sein, das kann in einer NGO sein…bei den Fragen der Freihandelsabkommen wie TTIP und CITA haben NGOs wirklich viel erreicht. Ich bin in die Politik gegangen, weil ich Sachen besser machen möchte – auch wenn sich das jetzt vielleicht klischeehaft anhört (lacht).“
Sie haben offenbar kein Problem damit, sich gegen die Meinung der eigenen Partei zu stellen, beim Thema Asylverschärfung haben Sie als einzige SPD-Abgeordnete mit Nein gestimmt. Waren Sie die einzige mit abweichender Meinung, oder die einzige, die sich getraut hat?
„Natürlich kenne ich viele Kollegen, die auch Probleme damit hatten. Die Asylfrage konnte nicht im Koalitionsvertrag auftauchen, weil das Thema damals noch nicht aktuell war. Es gibt Dinge, die ich mit meinem Gewissen als Sozialdemokratin nicht vereinbaren kann, dazu gehören Einschnitte in Grundrechte wie das Recht auf Asyl. Nur weil sich die Lage geändert hat, weil mehr Geflüchtete zu uns kommen, kann ich nicht das Asylrecht aushöhlen, ich mache doch keine Asylpolitik nach Lage. Ich verstehe zwar auch, dass andere Kollegen sagen, wie sind Regierungspartei, wir sind in einer Koalition und wir müssen die Fraktionslinie vertreten, aber ich kann ein solches Verhalten in bestimmten Fragen nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.“
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