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Sich von 482 Freunden verabschieden? Klar, warum nicht!

Wir sammeln Kontakte wie Münzen und vernachlässigen die Menschen, denen wir wirklich etwas bedeuten. Schluss damit!

 

Ich will echte Freunde, keine Kontakte

Bist du sicher, dass du dein Konto deaktivieren möchtest? Deine 482 Freunde können dann nicht mehr in Kontakt mit dir bleiben. Für einen kurzen Moment zögere ich. Meine italienische Austauschschwester, ehemalige Klassenkammeraden aus der Grundschule, Kontakte zu Kommilitonen aus anderen Fachbereichen von denen ich dachte: irgendwann wird Vitamin B vielleicht mal sinnvoll sein – nein, ich habe mich bereits entschieden. Ich scrolle hinunter und klicke auf den Button „Konto deaktivieren“.

Es mag viele Gründe geben, weshalb wir uns in sozialen Netzwerken im Internet bewegen. Und sicher auch viele dort zu bleiben. Für mich war jedoch keiner dieser Gründe überzeugend genug. Schon vor Jahren kam mir in den Sinn: diese Netzwerke sind eigentlich unnötig. Als ich kleiner war gab es sie nicht einmal. Und auf wundersame Weise funktionierte unsere Gesellschaft trotzdem. Zeit dachte ich mir, sich endlich etwas mehr damit zu beschäftigen.

Geht es hier um Freundschaften oder um Anerkennung?

Gesellschaftliche Anerkennung durch viele Kontakte und Bekanntschaften ist keine Erfindung unserer Zeit. Doch hier müssen wir ganz klar unterscheiden, zwischen Menschen die wir irgendwann einmal getroffen haben und denen, die wirklich unsere Freunde sind. Wir neigen dazu, Kontakte zu sammeln wie Münzen oder Briefmarken. Manchmal ist es nett, wenn man wieder von jemandem hört, den man lange nicht gesehen hat. Nett. Ganz genau, aber in wenigen Fällen mehr. Und manchmal wird es dann sogar anstrengend, wenn wir von jemandem kontaktiert werden und antworten müssen. Und dann schreibt derjenige aufs Neue. Und wir müssen unhöflich werden und seine Nachricht ignorieren, oder wieder antworten. Früher begegnete man sich auf der Straße, tauschte zwei oder drei Sätze aus und jeder ging weiter. Das Internet lässt uns keine Rückzugsmöglichkeiten. Eigentlich sind wir im Dauergespräch.

Die Frage die sich mir stellte: Gewinne ich etwas dazu, je mehr Kontakte ich habe oder verliere ich dabei etwas, ohne es zu bemerken? Denn auf den ersten Blick sieht es so aus, als könnte ich nur davon profitieren – Vitamin B ist schließlich wichtig und die Freunde im Netz sind alle sympathisch, sonst wären wir dort ja nicht befreundet. Nachdem ich länger darüber nachdachte, wurde ein Gedanke immer größer. Eigentlich kenne ich diese Menschen nicht. Ich sehe was sie zum Mittag essen oder wohin sie gerade reisen. Ich werde an ihren Geburtstag erinnert obwohl sie mich nie einladen würden. Warum räume ich ihnen dennoch so viel Platz in meinem Leben ein? Platz, den ich mit den Menschen füllen sollte, denen ich wirklich etwas bedeute.

Soziale Netzwerke sind nicht von Grund auf schlecht. Aber sie sollten dazu dienen uns zu verabreden, nicht unser Leben in eine virtuelle Welt zu verschieben. Ich habe festgestellt, für mich ist der Anspruch beidem gerecht zu werden zu hoch. Einen Abend für zwei Stunden mit einer Freundin zu telefonieren macht mich glücklicher, als vor dem Fernseher zu sitzen und parallel mit fünf verschiedenen Leuten in einem Chat zu schreiben. Ich gehe einen Schritt zurück. Zum Festnetztelefon, zu Verabredungen auf einen Wein und zu einem Freundeskreis, den ich an einer Hand abzählen kann – aber für den ich alles gebe und genau weiß, diese Menschen geben auch alles für mich.

Dieser Text ist zuerst auf auf www.tantemomo.wordpress.com erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.


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