Jede zweite Mitarbeiterin in Deutschland gibt an, am Arbeitsplatz schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. Besonders in deutschen Start-Ups scheinen verbale und sogar körperliche Belästigung zur Tagesordnung zu gehören. In traditionellen Unternehmen seien es weit weniger. „Weit weniger“ ist immer noch viel zu viel. Wie kommt es dazu? Ein Versuch, Ursachen zu finden…
Anzügliche Witze, Blicke, Berührungen
Das Institut Innofact hat 200 Mitarbeiterinnen in Start Ups und 1000 in traditionellen Unternehmen zu ihren Erfahrungen mit sexueller Belästigung in den vergangenen 12 Monaten befragt. Die Ergebnisse sind erschreckend. Und auch wenn sie nicht repräsentativ sind, machen sie doch die Aktualität und Größe des Problems sehr deutlich. 54 Prozent der Befragten sind im vergangenen Jahr „Ziel anzüglicher Kommentare und Witze“ geworden. 44 Prozent waren „Ziel unangemessenen Starrens und anzüglicher Blicke“, gute 30 Prozent wurden „unerwünscht berührt oder umarmt“. 27 Prozent haben „unerwünschte und sexuell eindeutige Mails und Nachrichten“ erhalten. Ein Fünftel wurde gegen ihren Willen geküsst.
Nein, ihr müsst das nicht hinnehmen!
Geküsst! Mein Haltung zu sexueller Belästigung und Diskriminierung am Arbeitsplatz hat sich in gut zehn Jahren Berufstätigkeit grundlegend verändert. Dabei weiß ich heute, dass ich bis jetzt vergleichsweise glimpflich davon gekommen bin. „Geh schon mal in den Konferenzraum und mach dich frei“, kurz vor einem Kundengespräch. Ein Griff an den Hintern in der Mittagspause, unerwünschte Annäherungsversuche auf der Weihnachtsfeier …
Zu Beginn meiner Laufbahn dachte ich: „Das ist nun mal so. Starke Frauen lassen sich von so was nicht beeinträchtigen.“ Ich habe es für meine Aufgabe gehalten, damit klar zu kommen. Ich habe eine Kehrtwende hinter mir. Heute verstehe ich, dass unerwünschte Sprüche und Körperlichkeiten am Arbeitsplatz (und auch überall sonst) eine gravierende Verletzung meiner Intimsphäre und meiner Rechte sind.
Und da liegt schon das erste Problem. Viel zu viele Frauen glauben, dass sie anzügliche Bemerkungen, mehr oder auch weniger zufällige Berührungen und auch den Pin-Up Kalender in der Küche einfach hinnehmen müssen. Müsst Ihr nicht! Denn nicht nur die Moral, auch das Gesetz stehen auf eurer Seite. Sexuelle Belästigung ist zwar eine große zivilrechtliche Grauzone, aber im Arbeitsrecht gelten hier klare Gesetze. Und eines davon besagt, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, seine Arbeitnehmer vor verbalen und körperlichen Übergriffen zu schützen.
Warum passiert es trotzdem?
Warum sind sexuelle Übergriffe verbaler und physischer Art trotzdem so weit verbreitet – von der Baustelle bis zum Boardroom? Und warum werden Frauen mehr als dreimal so oft belästig, als anders herum?
Das fragte sich auch Shereen El Feki, Fellow bei Promundo, einer Organisation, die sich zum Ziel setzt, Gleichberechtigung von Mann und Frau durch Dialog zu fördern: „Wir wissen viel über Frauen und Mädchen aber vergleichsweise wenig über Männer und Jungen“ in Bezug auf sexuelle Belästigung. El Feki ist Co-Autorin eines Reports im Auftrag von Promundo und UN Women und weiß: Deshalb haben die Organisation Promundo und UN Women eine Studie über Männer beauftragt, in der nach Ursachen für sexuelle Belästigung geforscht wurde. Die Studie befragte 5.000 Männer im Mittleren Osten, wo sexuelle Belästigung Frauen mitunter stark im Alltag einschränkt.
Das überraschende an der Studie ist nicht etwa, dass zum Beispiel 64 Prozent der Ägypter angaben, schon einmal eine Frau sexuell belästigt zu haben. Nein, überraschend ist, dass besonders gut ausgebildete, junge Männer dazu neigen, Frauen zu belästigen. Die Wissenschaftler waren davon ausgegangen, dass Männer mit Bildung eine modernere, differenziertere Haltung gegenüber Frauen hätten als solche, die bildungsfern aufgewachsen sind.
Warum aber ist das nicht so? El Feki und ihr Co-Autor Gary Barker glauben, dass die schlechte wirtschaftliche Lage in Ländern wie Ägypten, dem Libanon und Palästina dafür verantwortlich ist. Männer fühlen sich trotz guter Ausbildung nicht in der Lage, die Erwartungen ihrer Familien zu erfüllen und lassen ihren Frust an Frauen aus. Sie weisen Frauen in ihre Schranken, damit sie sich besser fühlen. Kein Wunder, dass die Studie auch festgestellt hat, dass Frauen mit einer besseren Ausbildung auch deutlich häufiger mit sexueller Belästigung zu kämpfen haben.
Es ist ein Machtkampf
Nein, wir leben nicht im Mittleren Osten. Zum Glück sind wir hier in vielerlei Hinsicht schon viel weiter. Aber eben in mancher Hinsicht auch noch nicht. Denn auch Unternehmensberater Peter Modler, der sich seit Jahrzehnten mit dem Zusammenspiel von Frau und Mann in Betrieb beschäftigt, sagt: „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Machtkampf“. Es geht also auch bei uns vor allem darum, sein eigenes Ego zu boosten, indem man andere klein macht.
Männer unter sich; Boys will be boys … Aussagen, die auch der Promundo-Bericht zum Thema macht: Bis zu zwei Drittel der befragten Männer sind demnach überzeugt, Frauen mit sexueller Belästigung einen Gefallen zu tun, weil sie angeblich die Aufmerksamkeit genießen. Wow. Herzlichen Dank. Umfragen aus den UK und den USA bestätigen diese Haltung. Deshalb hat dieser Report auch für Mitteleuropa eine Relevanz. Denn egal, welchen (Stellen-)Wert Frauen im Mittleren Osten oder bei uns haben – welche Gefühle sexuelle Belästigung bei ihnen auslöst, ist den meisten Männern offenbar nicht bewusst oder sogar egal.
Wie viele Frauen mussten sich schon mal anhören „War doch nur Spaß!“, nachdem man sich gegen einen Griff an den Po gewehrt haben? Oder gegen einen Männerwitz in der Konferenz? Nein, Spaß ist das nicht. Niemand fasst mich ungefragt an. Basta. Und Diskriminierung gegen das andere Geschlecht hat am Arbeitsplatz nichts verloren. Punkt. Dass das auch für das Verhalten von Frauen gegenüber Männern gilt, versteht sich von selbst.
Wo setzen wir also an?
Kurzfristig müssen Arbeitgeber sich deutlich besser für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einsetzen. Wenn 70 Prozent der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer laut Innofact nicht wissen, an wen sie sich im Falle von Belästigung wenden können, muss das Thema deutlich besser kommuniziert werden.
Mittelfristig würde es sicher nicht schaden, wenn auch für Mitteleuropa verlässliche Daten gesammelt würden. Denn scheinbar reichen die persönlichen Erfahrungen der Hälfte aller weiblichen Arbeitnehmer nicht aus, um Veränderung zu bewirken.
Und langfristig? Während die einen noch forschen, können die anderen ja schon mal damit anfangen, die nächste Generation besser aufzuklären. Sexuelle Belästigung wird nicht nachlassen, wenn Frauen ihre Schultern bedecken oder bodenlange Röcke tragen, sondern erst dann, wenn Männer aufhören zu glauben, es sei eine Lappalie. Deshalb müssen wir Kindern uns Jugendlichen beibringen, dass Frauen keine Objekte sind. Unsere Söhne sind die zukünftigen Kollegen unserer Töchter. In ihrer Arbeitswelt darf kein Platz mehr für sexuell befeuerte Machtspiele sein.
Du bist selbst schon Opfer sexueller Belästigung geworden? Bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes bekommst du Unterstützung.
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