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Ist nichts passiert? Oder: Wo fängt sexuelle Belästigung genau an?

Wann sollen wir von sexueller Gewalt sprechen? Wirklich erst, wenn etwas passiert ist – wenn bleibende Schäden angerichtet worden sind? Der Versuch, eine Antwort zu finden.

 

Nichts passiert – außer Belästigung?

Auf dem Nachhauseweg von einer Party. Nachts. Bus verpasst.
Der Bahnhof ist wie leer gefegt. Ein junger Mann ist auch dort. Er kommt auf
mich zu. Spricht mich an. Kommt mir sehr nah. Folgt mir. Ich sage ihm, dass er
mich in Ruhe lassen soll. Er macht weiter. Ich habe Angst. Ich schreie ihn an.
Wieder passiert nichts. Angst.

Letztendlich
lässt er mich in Ruhe. Hört auf, mir zu folgen. Erleichterung. Nichts ist
passiert. Ist nichts passiert?

Ein Erlebnis in Gedichtform. Irgendwie abstrakt. Unpersönlich.
Doch für mich war es nicht abstrakt, als es passiert ist. Sehr persönlich. Ich
hatte große Angst. Nicht zum ersten Mal.

Doch auch
unpersönlich, allgemein – denn viele Frauen* finden sich in dieser Schilderung
wieder. Fast jede Frau wurde schon einmal belästigt oder kennt die Angst, sich
nachts in menschenleeren Straßen aufzuhalten.

Freundinnen,
denen ich von meinem Erlebnis erzählte, fühlten mit mir. Auch sie hatten schon
einmal ähnliches erlebt. Kannten die Angst und die Wut. Die Hilflosigkeit.
Freunde waren besorgt oder gaben mir das Gefühl zu übertreiben. Es war ja
nichts passiert. Nicht jeder, der durch Worte belästigt, wäre gleich ein Täter.
Übertreibung wäre nicht hilfreich.

Wenn doch nichts
passiert war – warum fühlte ich mich dann so hilflos, so wütend? Aus einem ganz
einfachen Grund: weil es offensichtlich „normal“ ist, nachts (oder auch
tagsüber) belästigt zu werden. Solange „nichts“ passiert, soll man sich doch
bitte auch nicht schlecht fühlen. Letztendlich hat dieser Mann* mich nicht
angefasst, mir keinen bleibenden körperlichen Schaden zugefügt. Warum also
dieses schlechte Gefühl?

Belästigung und Vergewaltigung: im Bereich des Möglichen

Ich verabscheue
es, in einer Gesellschaft zu leben, in der eine solche Geschichte zur
Lebenswirklichkeit
der meisten Frauen gehört. Ich verabscheue es, mich macht-
und hilflos fühlen zu müssen. Ich hasse es, dass sich meine Stimme überschlug
und die Angst deutlich zu hören war, als ich ihm sagte, dass er mich in Ruhe
lassen soll. Ich hasse es, dass einige Menschen eine rape culture in Deutschland leugnen. Ich verabscheue es, mir immer
bewusst sein zu müssen, dass Belästigung und Vergewaltigung im Bereich des
Möglichen liegen.

Zuhause machte ich mir Gedanken, was ich beim nächsten Mal anders machen könnte. Nicht den Bus
verpassen? Zufall beziehungsweise Pech. Mich weniger aufreizend kleiden? Ich trug eine
dicke Winterjacke, Mütze und lange Hose. Selbstsicherer „nein“ sagen? Ich hatte
Angst.

Spielt es
überhaupt eine Rolle, was ich tue, was ich anhabe? Nein. Niemand hat das Recht, mich zu belästigen. Es ist egal, wie ich aussehe. Was ich trage, wann ich
unterwegs bin. Folgt man dieser Gedankenkette, ergibt sich, dass es in keiner
Situation die Garantie auf Sicherheit gibt. Es ist erschreckend, wie sehr
Frauen die Strukturen von victim blaming
verinnerlichen, sich selbst verurteilen.

Es ist niemals
die Schuld des Opfers. Und es sollte sich niemals die Frage stellen, ob jemand
übertreibt. Ich habe schon die schlimmsten Geschichten gehört, in denen Frauen direkt im Anschluss betonten, dass es gar nicht so schlimm war. Doch. Es. Ist.
Schlimm. Dafür muss nicht erst eine Handgreiflichkeit passieren. Auch Belästigung
und sexualisierte Aussprüche sind schlimm. Es ist sehr ernst, in einer
Gesellschaft zu leben, in der eine solch bedrohliche Lage Realität ist. Warum
sind es immer noch die Opfer, die die Verantwortung übernehmen sollen, indem
sie sich besser schützen?

Keine Frau ist sicher

Früher dachte
ich immer, dass diese Angst mit dem Alter nachließe. Nun bin ich fast 30 Jahre
alt und die Angst bleibt. Vor Belästigung und Vergewaltigung ist keine Frau sicher. Ob als Mädchen oder als alte Frau. Es geht nicht um Sexualität oder
Anziehungskraft, es geht alleine um Macht und Unterdrückung. Und davor ist
keine Frau sicher.

Ich möchte weder davon abhängig sein,
dass mich ein ‚starker Mann‘ nach Hause begleitet, noch möchte ich, dass meine
Ängste verharmlost werden. Das Problem ist diese kranke Gesellschaft, nicht
ich. Ich möchte nicht, dass mich jemand entmündigt, indem er mir gut gemeint
seine Begleitung aufdrängt. Ich entscheide selbst. Und doch werde ich oft
belästigt
oder eingeschüchtert und wünsche mir, nicht alleine sein zu müssen.
Dies ist kein Paradox. Dies liegt nicht an mir oder meinem Charakter, sondern
an der Gesellschaft. Es ist kein Paradoxon, wenn ich an einem Abend meinen
Partner oder einen Freund bitte, mich abzuholen und das nächste Mal seinen gut
gemeint aufgedrängten Abholservice ablehne. Ich möchte trotz aller Umstände
mündig bleiben. Und dennoch siegt manchmal die Furcht, wenn mir mal wieder
bewusst wird, welchen Gefahren Frauen ausgesetzt sind.

Diesen Artikel
zu schreiben, gibt mir ein bisschen meiner Macht zurück. Doch was bleibt, ist
diese kranke Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der Männer uns Frauen anbieten, uns nach Hause zu begleiten. In der wir aus Angst vor Übergriffen
dieses Angebot viel zu häufig annehmen müssen. In der wir hilflos auf andere
Menschen angewiesen sind, entmündigt werden, weil alleine der Weg nach Hause
eine Gefahr darstellt. In der wir immer wieder abschätzen müssen, ob wir uns in
eine gefährliche Situation bringen.

Eine
Gesellschaft, in der man viel zu oft hört, dass kein Feminismus mehr gebraucht
würde. Ein Patriarchat gäbe es nur in anderen Kulturen. In Deutschland wäre
alles anders.

Ich kann dem
nicht zustimmen. Für mich ist eine Gesellschaft krank, solange sich die Hälfte
der Gesellschaft schwach und hilflos fühlen muss, wenn sie im Dunkeln alleine
nach Hause geht. Hier wird nicht nur Feminismus benötigt, sondern eine
Revolution. Das alte Denken muss umgestoßen werden, damit sich in dieser
Gesellschaft auch die „andere Hälfte“ sicher fühlen kann, egal ob im Dunkeln
oder im Hellen, in einsamen Gassen oder auf menschenüberfüllten Plätzen, auf
einer Party oder zu Hause, alkoholisiert oder nüchtern, in einer Beziehung oder
mit Bekannten…


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