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Alexandra Widmer: „Nur wegen der Kinder zusammenzubleiben, ist keine gute Lösung“

Alexandra Widmer ist als Psychotherapeutin Fachfrau und fühlte sich dennoch kaum darauf vorbereitet, als sie auf einmal alleinerziehend war. Aus der schmerzlichen Erfahrung hat sie ein Projekt gemacht, das anderen Müttern helfen soll, in die neue Rolle zu finden und gesund zu bleiben.

Erst alleinerziehend, dann ausgebrannt

Seit vier Jahren ist Alexandra Widmer für ihre Kinder vor allem allein zuständig – damit ist sie eine von etwa 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland. Und wie in den meisten Familien ist es auch bei ihr: Die Kinder sind bei ihr geblieben. Der Vater der beiden Töchter sieht seine Kinder seit der Trennung nur alle zwei Wochen. Nach dem Ende der Beziehung sah Alexandra, die selbst Psychotherapeutin und Neurologin ist, wie schnell man als Alleinerziehende in die Erschöpfung, in ein Burnout oder eine Depression rutschen kann. Beratungsangebote – gerade zu gesundheitlichen Aspekten – waren rar gesät.

Aus ihrer Perspektive als Ärztin stellte sie sich daher vor allem eine Frage: Warum gibt es so wenige Präventionsangebote, die alleinerziehende Eltern stärken? Ihr Projekt „Stark und alleinerziehend“ ist eine Anlaufstelle für getrennte Eltern, die sich Hilfe holen wollen, um mit der neuen Situation dauerhaft klarzukommen – ohne seelisch und körperlich krank zu werden. Sie gibt ihr Wissen über ihre Website, Podcasts und Coaching-Angebote weiter, ihr erstes Buch dazu erscheint im kommenden Jahr.

Wir haben mit Alexandra Widmer darüber gesprochen, was für Alleinerziehende wichtig ist und wie man das Leben neu ordnen kann, wenn die Familie sich verändert.

Wenn eine Frau erzählt, alleinerziehend zu sein, erntet sie vermutlich zuallererst mitleidige Blicke. Trägt das Vorurteil „Die ist ja ohnehin überfordert“ auch dazu bei, dass Alleinerziehende es tatsächlich schwerer haben?

„Viele sind natürlich überfordert mit der Menge an Belastungen, mit denen sie in kürzester Zeit zurechtkommen müssen. Das Problem dabei ist, dass die meisten erstens nicht wissen, was auf sie zukommt, und zweitens noch nicht die Fähigkeiten besitzen, um angemessen mit dieser Situation umzugehen. Wir sprechen ja kaum darüber, was es wirklich bedeutet, alleinerziehend zu sein, da es ein negatives Image hat. Das Vorurteil trägt also dazu bei, dass jeder irgendwie allein klarkommen soll.“

Ist denn schwer abzusehen, wie viel Arbeit das bedeutet?

„In der Zeit, als ich noch in meiner Partnerschaft war und der Vater meiner Kinder abends um 19 Uhr nach Hause kam oder er für vier Tage auf Geschäftsreise war, war ich alles andere als begeistert. Den ganzen Tag hatte ich allein mit meinen Kleinkindern verbracht und war am Abend erschöpft. Als er dann die Beziehung beendete und nie jemand kam, wurde mir bewusst, was das für ein Unterschied ist: Das war wirklich alleinerziehend.

Man rennt geradewegs in die Erschöpfung, wenn man denkt, man könne an bisherigen Verhaltensweisen und Einstellungen festhalten. Wenn eine Alleinerziehende sich sehr bewusst ist, worauf es ankommt, um gesund zu bleiben, dann ist sie viel seltener überfordert.“

Dein Projekt heißt „Stark und alleinerziehend“. Du bietest Coachings an für Alleinerziehende und teilst in deinem Blog und in Podcasts viel nützliches Wissen, um sich im neuen Leben zurechtzufinden, aber vor allem: um nicht auszubrennen. Woher kam die Idee zum Projekt?

„Nach der Trennung stellte ich mit Erschrecken fest, wie schnell auch ich trotz meines psychologischen Fachwissens an meine Grenze kam. Ich suchte nach Antworten auf Fragen wie: Wie haben andere Alleinerziehende diese Zeit gut bewältigt? Was mache ich mit meiner Wut und der Trauer? Wie gehe ich mit meinem schlechten Gewissen und der Angst um? Wo finde ich Vorbilder? Wo finde ich andere betroffene Frauen und Männer? Wie kann ich trotz der vielen Belastungen gesund bleiben?

Antworten zur psychischen Gesundheit von Alleinerziehenden fand ich nicht, was mich überrascht hat, denn laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts ist das Risiko einer Alleinerziehenden, an einer Depression zu erkranken, signifikant erhöht im Vergleich zu Frauen in „intakten“ Familien. Und das hat natürlich auch Konsequenzen für ihre Kinder. Daher kam dann die Idee, mein Fachwissen mit meiner persönlichen Erfahrung zu kombinieren, um andere zu unterstützen.“

Die Lebenssituationen von alleinerziehenden Eltern sind sehr unterschiedlich. Mehr und mehr Eltern versuchen, gemeinsam erziehend zu bleiben und Verantwortung zu teilen.

„Ich persönlich kann leider nicht feststellen, dass der Trend dahin geht. Wenn beide Elternteile sich verantwortlich fühlen, indem sie Zeit mit ihrem Kind verbringen, finde ich das richtig und wichtig. In meinen Beratungen sind zu etwa 95 Prozent die Kinder bei der Mutter geblieben, die deutlich mehr leisten muss. Die Anzahl der alleinerziehenden Väter steigt langsam.“

Was rätst du Menschen, die allein für ihre Kinder verantwortlich sind? Was sind die wichtigsten Dinge, die sie für sich tun können?

„Nach einer Trennung ist bei den meisten das Selbstvertrauen absolut im Keller – ganz egal, von wem die Trennung ausging. Am wichtigsten ist daher, Selbstvertrauen wieder aufzubauen und an sich zu glauben. Dazu braucht jeder Unterstützung. Auch ich habe mir zu Beginn wo es nur ging Hilfe geholt und habe mich beraten lassen. Es wird aber niemand kommen und dein Leben wieder richten. Deswegen ist es so wichtig, für sich selbst die beste Freundin zu werden und sich zu loben. Man muss jeden Tag drauf stolz zu sein, was man tut.“

Welche Denkmuster sollte man aufbrechen?

„Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass man beginnt, alte Überzeugungen zu hinterfragen, wie das Leben zu sein hat. Hält man daran fest, geht man unter. Zum Beispiel, wenn man denkt, dass Familie Mutter, Vater und Kind bedeutet und man ansonsten weniger wert sei. Stattdessen sollte man verinnerlichen, dass Familie da ist, wo Kinder sind und der Beziehungsstatus nichts mit dem Wert als Menschen zu tun hat.“

Was macht man mit verletzten Gefühlen?

„Wenn man von Wut, Trauer oder Angst überflutet ist, dann braucht man Wege, um gut mit diesen Gefühlen umgehen zu können. Daher sollte man Profi für die eigenen Emotionen werden und sie verstehen – das geht. Der Slogan meines Projektes ist: Nur wenn es mir gut geht, geht es auch meinem Kind gut. So logisch, und dennoch müssen viele daran erinnert werden. Gerade wenn sie alleinerziehend sind.“

Was ist die wichtigste Unterstützung für Alleinerziehende? Ist die gesellschaftliche Unterstützung schon stark genug? Hieltest du es für sinnvoll, wenn Krankenkassen zum Beispiel eine Burnout-Prävention bezahlen würden?

„Das ist eine komplexe Frage. Aus meinem Blickwinkel als Ärztin und Therapeutin finde ich es essentiell, die Alleinerziehenden ab Tag Null zu erreichen und zu sagen: ,Darauf kommt es an und das solltest du wissen, um nicht in eine Erschöpfung oder Depression zu rennen.’ Denn wenn das passiert, sind die Kosten für die Krankenkassen um einiges höher, als das Angebot der Prävention kosten würde – und der Familie geht es an diesem Punkt nicht mehr gut.

Die gesellschaftliche Unterstützung ist aktuell nicht stark genug. Meine These ist, dass diejenigen, die nicht wissen, was es bedeutet, rund um die Uhr über Jahre hinweg mit einem Kind allein zu leben, sich leider nur bedingt dafür einsetzen werden, dass mehr für Alleinerziehende getan wird. Eine finanzielle Sicherheit in der Lebenslage auf jeden Fall essentiell.“

Alleinerziehende sind besonders armutsgefährdet. Auf der anderen Seite ist es umso schwerer, Vollzeit zu arbeiten, wenn nur eine Person die Kinder in die Kita bringt und für sie Abendbrot macht. Hast du Ideen, wie die Arbeitswelt besser auf Alleinerziehende eingehen könnte?

„Sie sollten das Potenzial dieser Frauen erkennen. Früher oder später sind alle Alleinerziehenden sehr gut organisiert und können sehr gut filtern, was wirklich wichtig und was nur dringend ist. Sie sind zuverlässige Arbeitnehmerinnen. Außerdem ist es wichtig, ihnen flexible Arbeitszeiten anzubieten und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, was für sie individuell wichtig ist. Darüber hinaus sollte eine Frau nicht Angst um ihren Arbeitsplatz haben müssen, wenn sie bei ihrem kranken Kind zu Hause bleiben muss. Diese Angst haben leider viele.“

Du sagst: „Nur wenn es der Mutter gut geht, kann es auch dem Kind gut gehen.“ Meine Vermutung ist, dass die meisten Mütter zunächst anders handeln und sich vernachlässigen. Wie kann es gelingen, dass die eigenen Bedürfnisse ausreichend wahrgenommen werden?

„Genau, die meisten Mütter handeln anders und funktionieren erstmal sehr stumpf. Und dann folgt automatisch die Erschöpfung. Indem wir von Beginn an darüber aufklären, wie wichtig es ist, sich in den Mittelpunkt zu stellen, können die eigenen Bedürfnisse besser wahrgenommen werden. Bei einem Notfall im Flugzeug muss sich auch zuerst der Erwachsene die Sauerstoffmaske nehmen, bevor er seinem Kind hilft. Umgekehrt funktioniert es nicht. Soziale Beratungsstellen helfen in Krisen und dort bekommt man mehrere Gespräche, wenn es gut läuft. Doch das ist aus meiner Erfahrung nicht ausreichend. Viel besser wäre es natürlich, wenn Frauen ein Bewusstsein für ihre Bedürfnisse haben, bevor es zur Krise kommt.“

Nehmen auch Frauen, die in Partnerschaften leben, dein Angebot wahr, weil sie sich allein fühlen?

„Ab und an bekomme ich Mails von Frauen, die darüber nachdenken, sich zu trennen und deren Beziehung auf der Kippe steht. Viele lesen mit. Wenn sich eine Frau in der Beziehung allein fühlt, rate ich ihr, alles dafür zu tun, um mit dem Partner ins Gespräch zu kommen und gegebenenfalls eine Paartherapie zu machen.“

Verharren Frauen in Beziehungen, die sie unglücklich machen, aus der Angst davor, alleinerziehend zu sein?

„Ehrlich gesagt glaube ich das schon. Viele sind auch noch finanziell abhängig und ich kann ihre Angst auch sehr gut verstehen. Dennoch verliert man sich selbst dabei. Nur wegen der Kinder zusammenzubleiben, ist keine gute Lösung. Kinder können sehr wohl mit Trennungen umgehen. Es kommt nur darauf an, wie die Umstände sind. Sind sich Mama und Papa einig und es herrscht ein Konsens, ist das wunderbar. Leider ist dieser Konsens bei vielen zu Beginn nicht vorhanden. Mit einer Trennung werden bei allen Beteiligten zu viele alte Verletzungen und Emotionen aufgemischt. Es braucht viel Zeit und Selbstreflexion.“

Kann ein Leben als alleinerziehende Mutter auch ein besseres Leben bedeuten?

„Es gibt immer mal wieder Aussagen dazu, dass Frauen ohnehin lieber alleinerziehend wären. Ich kenne keine einzige, die gesagt hat: „Ich bekomme ein Kind und finde es klasse, das mein Leben lang allein großzuziehen. Ich würde sagen, es ist ein anderes, mal schönes und mal anstrengendes Leben. Ich hätte es meinen Kindern von Herzen gewünscht, mit beiden Eltern zusammen aufzuwachsen. Aber ich kenne auch genügend Alleinerziehende, die aus gewalttätigen Beziehungen kommen und denen es nun deutlich besser geht.“

Worauf kommt es an, damit das neue Leben gelingt?

„Man kann es als Katastrophe sehen und resignieren, oder man beginnt, darin die Chance zu sehen, wachsen zu können und sieht, welche Fähigkeiten man tatsächlich hat. Und dazu möchte ich unbedingt ermutigen.“

Was ist der Satz, den du jeder alleinerziehenden Mutter mit auf den Weg geben möchtest?

„Ich habe das Projekt „Stark und alleinerziehend“ genannt, weil ich zu einer neuen Stärke aufrufen möchte. Und zwar zu der Stärke, in dieser schwierigen Lebensphase den Mut aufzubringen, für sich und sein Kind Unterstützung zu suchen. Das ist der erste Schritt.“

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