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Eine Recruiterin erklärt, warum sie Bewerber nicht mehr nach Stärken und Schwächen fragt

Die Frage gilt als Klassiker und taucht in jedem Ratgeber auf. Die Recruiterin Melanie Kaltenbach findet hingegen, man solle sie nicht mehr stellen – gerade dann, wenn man den Bewerber wirklich gut kennenlernen will.

 

Das moderne Bewerbungsgespräch

Wie man am besten auf die klassische Bewerbungsfrage nach den eigenen Stärken und Schwächen antwortet, ist noch immer Inhalt vieler Ratgeber-Texte im Netz und Coaching-Thema für Karriereberater. Ich mag es kaum glauben, dass in Bewerbungsgesprächen heute immer noch danach gefragt wird, es ist aber so. Ich kenne sie noch aus meinem ersten Buch, das ich in Vorbereitung auf ein Bewerbungsgespräch als Hilfskraft in einem wissenschaftlichen Institut aus der Stadtbibliothek ausgeliehen habe. Für mich ist sie daher eine antike Frage, ebenso wie die Antwortmöglichkeiten, die Bewerbern auch heute noch empfohlen werden.

Stärken sollen uns in einem guten Licht erscheinen lassen, aber auch nicht den Eindruck erwecken, wir seien größenwahnsinnig. Die Schwächen wiederum so sollen so gewählt werden, dass sie sich easy als Stärken interpretieren lassen, je nach dem, welche Schlüsselkompetenzen die jeweilige Stelle erfordert. Very tricky? Very oldschool!

Mal im Ernst: Wie authentisch kann die Antwort eines Bewerbers sein, wenn die Stärken-Schwäche-Frage seit fast 30 Jahren für keinerlei Überraschungseffekt mehr sorgt? Gar nicht, oder? Warum stellt man sie dann noch?

Interessante Fragen machen interessant

Die Themen Employer-Branding und Unternehmenskultur werden in der Personalbranche als immer wichtiger aufgefasst. Wer als Unternehmen für Bewerber interessant sein will, kann damit gleich beim Bewerbungsgespräch anfangen. Und zwar mit interessanten Fragen!
Warum fragen wir Personaler nicht einfach mal ganz anders? Fragen, die richtig spannende Antworten generieren? Zum Beispiel die nach dem größten persönlichen Erfolg, der gar nichts mit dem Beruf zu tun haben muss, sondern gerne auch das Privatleben betreffen darf. Und die nach der größten persönlichen Niederlage.

Ok, die sind jetzt erst mal nicht völlig neu. Nichtsdestotrotz liefern die Antworten auf diese beiden Fragen wesentlich mehr authentische Angaben zu den Stärken und Schwächen unseres Gegenübers, als die banale Frage aus den Achtzigern. 

Wissensdurst erzeugt prickelnde Informationen

Aber: Unser Wissensdurst ist ja noch lange nicht gestillt! Anschließend fragen wir den Bewerber oder die Bewerberin nämlich, wie genau sie es geschafft haben, diesen Erfolg für sich zu verbuchen bzw. diese Niederlage zu verzeichnen. Jetzt wird es spannend! Mit einer solchen Fragestellung erlange ich als Recruiter nämlich die Details zu den Stärken und Schwächen meines Gesprächspartners. Insbesondere bei der Niederlagen-Frage erfahre ich, wie reflektiert und lernbereit mein Gegenüber in Bezug auf seine Schwächen ist.

Noch mehr Informationen in Bezug auf das Reflexionsvermögens meines Bewerbers bekomme ich auf die Fragen: 

  • Wenn sie heute noch mal in der Situation ihres Erfolgs beziehungsweise Misserfolgs wären, was würden sie noch besser respektive anders machen.
  • Weiter geht es mit der Frage nach den jeweiligen Unterstützungssystemen. Also danach, welche Personen oder Instanzen für den Erfolg hilfreich beziehungsweise für den Misserfolg mitverantwortlich waren. Hier erhalten wir Aufschluss über die Eigenverantwortung unseres Bewerbers und marginal auch über seine Teamfähigkeit und seinen Umgang mit Kritik.

Aktives Zuhören schafft Vertrauen

Durch solche – anders gestellten – Fragen gewinnt man nicht nur eine Vielzahl wirklich relevanter Details über den Bewerber, es kann sich dadurch auch ein schönes und manchmal sogar vertrautes Gespräch entwickeln, weil der Bewerber ein wirkliches Interesse an seiner Person wahrnimmt. Es liegt in unserer Natur, dass wir Menschen es mögen, wenn sich andere aufrichtig für uns interessieren.
 Und wann immer wir dieses Gefühl des aufrichtigen Interesses an uns wahrnehmen, öffnen wir uns.

Genau das, ein aufrichtiges Interesse an der Person gegenüber, die eventuell Teil unseres Unternehmens und damit ein Kollege wird, ist die Hauptaufgabe des Recruiters. Dazu braucht es Techniken und Methoden des aktiven Zuhörens und der gezielten und kreativen Fragestellung. Standardfragen erzeugen bei Bewerbern jedoch das Gefühl, Massenware zu sein.

Ich habe meine Bewerber immer wieder mit meiner andersartigen Fragestellung überrascht, weil sie in keinem der klassischen Bewerbungsratgeber aufgeführt ist und man sich deswegen auch nicht auf solche Fragen vorbereiten kann.

Letztlich hat diese „andere“ Art von Fragestellung stets dazu geführt, dass ich in der kurzen, mir für das Gespräch zur Verfügung stehenden Zeit, ein Höchstmaß an persönlichen Informationen über den Bewerber erlangen konnte. Ohne unfair zu sein! Künstliche Stresserzeugung und unfaire Bewerberfragen sind nämlich mittlerweile ebenso oldschool wie die Frage nach den Stärken und Schwächen.

Warum man als Recruiter so genau fragen sollte

Als Recruiter müssen wir zudem einschätzen können, ob sich der Bewerber langfristig im Unternehmen wohlfühlen wird. Alles andere wäre reine Zeit-, Geld- und Energieverschwendung. Für beide Seiten. 

Wenn du Recruiter oder Personalentwickler bist, kann ich dich nur ermuntern, einfach mal ganz anders und kreativ zu fragen. Wer anders fragt, bekommt andere Antworten. Nämlich solche, die in keinem Ratgeber stehen. Und nur so weißt du am Ende des Bewerbungsgespräches, ob die Person in dein Unternehmen passt.

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