Als Kinder entscheiden wir uns intuitiv für die Spielsachen und Aktivitäten, die uns am meisten Freude bereiten. Im Erwachsenenalter geben wir viele Hobbies von früher auf und verlernen oft, was uns wirklich Freude bereitet. Dabei sollten wir doch unser Leben als das gestalten, was es ist: als einen Spielplatz. Gefüllt mit den Dingen und Menschen, die wir lieben und mit denen wir Zeit verbringen wollen.
Wann haben wir verlernt, das zu tun was wir lieben?
Es ist ein klarer Wintertag und gleisendes Sonnenlicht strahlt durch das Fenster. Großartig, denke ich, denn in den letzten Tagen hatte ich es nicht zum Sport geschafft und meine Beine
schmerzten schon, wie um mir zu signalisieren, dass ich mich doch jetzt endlich
mal wieder länger bewegen könnte. Weiter als vom Fernseher zum Kühlschrank und
wieder zurück. Ok, heute habe ich keine Ausreden. Ich schlüpfe in meinen gelben
Parka, ziehe den grauen Schal um den Hals und setze meine rosa-orange
gestreifte Bommelmütze auf.
Ich bin bei meinen Eltern in der Heimat zu Besuch und um dem familiären Wahnsinn für ein Stündchen zu entgehen, laufe ich gerne eine Runde und schaue, was sich seit meinem letzten Besuch ringsum verändert hat. Auf dem Weg zu meiner liebsten Route über das Feld fällt mir der
neue große Spielplatz ins Auge, der nur ein paar hundert Meter von meinem
Elternhaus errichtet wurde. Wow, das nenne ich mal einen Spielplatz, denke ich.
Wo einst nur eine riesige Wiese war, stehen jetzt viele kleine Holzhäuser, die
durch Brücken miteinander verbunden sind. Es gibt mehrere Rutschen, ein
Klettergerüst, einen Sandkasten, eine Vogelnestschaukel, eine Wippe und zwei
Ziplines, die seitlich am Spielplatz vorbeiführen. Als Kind hätten mich meine
Eltern vor lauter Begeisterung gar nicht halten können. So ein Spielplatz
direkt um die Ecke meines Zuhauses. Wie aufregend! Ich hätte wahrscheinlich
vorgeschlagen, dass ich von nun an dort zelten würde, um noch mehr Zeit mit
meinen Freunden auf dem Spielplatz zu verbringen.
Doch jetzt ist da nur dieses Schmunzeln. Soll ich auf den Spielplatz gehen?, frage ich mich. Eine leise Stimme in mir wispert leise: was glaubst du, würden die Leute wohl sagen, wenn
du mit 26 Jahren nochmal rutschen würdest? Das ist doch ganz schön kindisch.
Schau mal, wer auf so einem Spielplatz spielt. Kinder, richtig. Bist du ein
Kind? Nein, du bist erwachsen. Also was willst du hier?
Vor ein paar Monaten hätte ich dieser Stimme Recht gegeben und die Augen wegen dieser vermeintlich kindischen Gedanken verdreht. Doch heute denke ich anders darüber:
Als Kind habe ich unheimlich viel Zeit draußen verbracht, habe mit meinen Freunden Baumhäuser gebaut, eine Bande gegründet und viele große und kleine Abenteuer erlebt. Ich wusste genau, was
mir Freude bereitete und wie ich meine Zeit gerne verbringen wollte. Wenn ich nicht
unterwegs war, dann malte, töpferte und bastelte ich begeistert. Am liebsten
mit einer Kassette im Hintergrund, die ich rauf und runter hörte.
Rückblickend kann ich gar nicht mehr genau sagen, wann das „Umdenken“ begonnen hat, wann ich aufgehört habe auf meinem Spielplatz zu spielen, umgeben von Dingen und Menschen, die ich mochte. Wahrscheinlich ist es wie bei vielen Menschen der Schulabschluss gewesen und
die Aussicht, dass dann etwas ganz Neues beginnen wird. Eine Ausbildung, ein
Freiwilligendienst oder ein Studium. Vielleicht sogar in einer anderen Stadt
oder in einem anderen Land. Bei mir war es ein Aupair Jahr und damit
Verantwortung für mehrere kleine Erdenbürger*innen zu übernehmen. Danach folgten
ein Studium im Ausland sowie mehrere Praktika und zusätzliche Auslandssemester.
Klar hatte ich auch während dieser Zeit Spaß, begegnete tollen Menschen und
durfte viele Ecken auf dieser Welt auf Reisen kennenlernen.
Doch ich merkte auch, dass mich diese Erfahrungen veränderten. Ich hatte immer weniger Zeit für Dinge, die ich als Kind gerne getan hatte. Malte kaum noch oder las ein gutes Buch. So sehr
war ich damit beschäftigt die Vorgaben im Studium zu erfüllen, bei Klausuren
gut abzuschneiden und tolle Praktikumsbescheinigungen zu erhalten. Außerdem
merkte ich wie ich ganz neue Anforderungen an mich stellte. Ich wollte immer
weiter. Ausruhen kam nicht infrage. Dazu der Vergleich mit den Kommilitonen.
Wer hatte die besten Noten? Wer ging weiter weg im Auslandssemester? Wer war
bei dem größten Konzern als Praktikant angenommen worden? Ich war schon immer
ein ehrgeiziger Typ gewesen, deshalb machte ich bei diesem „höher, schneller,
weiter“-Wettbewerb mit. Allein während des Studiums bin ich dafür 8 Mal
umgezogen.
Erst zum Ende meines Studiums spürte ich, wie viel ich mir und meinem Körper zugemutet und wie sehr ich mich selbst unter Druck gesetzt hatte. Wie sehr ich Dinge und Menschen
vernachlässigt hatte, die ich gerne mochte. Wie wenig ich in den letzten Jahren
auf meinem Spielplatz gespielt hatte.
Ein kluger Bekannter meines Vaters fragte mich eines Nachmittags, warum ich dieses Programm eigentlich so stoisch absolviert hatte. Fragend habe ich ihn damals angesehen, weil ich bisher immer Lob und Anerkennung, aber wenig kritische Fragen zu dieser Entwicklung erhalten
hatte. „Weißt du, meine Tochter hat auch im Bereich BWL studiert und einen Job
nach dem anderen angenommen, die sie jedes Mal unglaublich gefordert und Kraft gekostet haben. Ich muss diesen Job machen, um weiterzukommen, hat sie gesagt. Warum frage ich mich?
Warum denkt ihr, dass ihr irgendetwas tun müsst, das euch keine Freunde
bereitet? Ihr müsst gar nichts, nur das, was euch gefällt.“
Wummms! Das saß. So hatte ich das Ganze noch gar nicht betrachtet. War ich eine Gefangene des Systems gewesen, die der Anerkennung anderer Menschen wie ein Hund nachhechelte? Hatte ich
verlernt die Bremse zu ziehen, wenn es zu viel wurde? Hatte ich verlernt auf meinem Spielplatz zu spielen?
Vielleicht war dieser Satz der Funke, der in mir den Wunsch entzündete, dass ich etwas verändern wollte. In den darauffolgenden Monaten habe ich mich durch Literatur von
Persönlichkeitsentwicklung gelesen und so viele spannende Erkenntnisse
gefunden, dass ich mich wunderte, wie ich vorher noch nie davon gehört haben konnte.
Eines meiner liebsten Bücher ist von John Strelecky, der in seinem Buch „Wiedersehen im Café am Rande der Welt“ eine Frau beschreibt, die verlernt hatte, wie sie gerne ihre Zeit verbrachte
und was ihr Freude bereitete. Strelecky nutzt in diesem Buch die Metapher eines
Spielplatzes, um zu zeigen, wie wir als Kinder die Welt wahrnehmen und wie sie
sich für manche Erwachsenen verändert:
„Als Kinder wissen wir, wie wir
sind. Wir wissen, welche Bereiche auf dem Spielplatz uns begeistern. Wir
versuchen, jeden Tag so viel Zeit wie möglich dort zu verbringen. Manche Kinder
lassen ihren Spielplatz ihr Leben lang geöffnet. Möglicherweise spielen sie
später mit anderen Geräten, aber sie vergessen nie, dass sie ihr ganzes Leben
mit Spielen verbringen können.“
Ich finde diese Metapher großartig, denn bei der Vorstellung, dass mein Leben ein Spielplatz ist, verfliegen alle Ängste. Warum sollte ich mir Sorgen um die Zukunft machen, wenn ich doch
einfach selbst entscheiden kann, was mich begeistert und dem nachgehe. Was
könnte mich dann noch stoppen?
Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?
Und da stehe ich wieder im Sonnenlicht und beobachte die Kinder, die gerade auf den Spielplatz zulaufen und das Klettergerüst stürmen. Es kribbelt in meinen Fingern und ein Grinsen
erstreckt sich über mein Gesicht. Mit schnellen Schritten laufe ich über die
Wiese, die noch von Raureif bedeckt ist, auf den Spielplatz zu. Die Stimme, die
mich zu hindern versucht, redet immer schneller, doch ich schenke ihr keine
Beachtung mehr. Ich habe einen Plan: ich werde jetzt auf den Spielplatz gehen.
Es ist mir egal, ob mich jemand sieht. Sollen die Leute sich doch fragen, warum
ich das tue. Ich werde ihnen keine Beachtung schenken.
Die Zipline mochte ich immer besonders als Kind. Ich schnappe mir das Gerät und ziehe es auf eine Anhöhe hinauf. Mit beiden Händen umklammere ich das Seil, stoße mich kraftvoll vom Boden ab, springe auf den Sitz und sause den Hügel hinunter. Was für ein Moment! Ich gewinne an
Geschwindigkeit und bin so schnell, dass ich am Ende des Seils abgebremst und
hoch in die Luft geschleudert werde. Whoohooo! Ein starkes Glücksgefühl breitet
sich in mir aus und ich bin ganz im Moment. Bin im Jetzt! Meine Wangen sind
ganz rosig von der kühlen Winterluft und ich rücke meine Mütze zurecht, die mir
während der Fahrt ins Gesicht gerutscht ist.
Ich steige von der Zipline und blicke mich glücklich um. Die Kinder, die eben auf den Spielplatz gestümt sind, schauen mich verdutzt an. Ich grinse sie an und stapfe freudestrahlend über die
Wiese.
Als ich noch einmal zurück auf den Spielplatz blicke, denke ich: Von nun an werde ich meinen Spielplatz wieder aufbauen und all die Menschen und Aktivitäten integrieren, die ich liebe.