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Andie: „Nach der Diagnose war klar: Ich bin gar nicht so abgefucked, das ist das ADHS“

Inwiefern wirkt sich ADHS auf den Alltag aus? Warum wurde es erst im Erwachsenenalter diagnostiziert? Und, was ist ADHS überhaupt? Wir haben mit betroffenen Frauen gesprochen – Andie Katschthaler ist eine davon.

 

Chaotische Gedankenwelt 

„Du hast in deinem Kopf vermutlich eine Autobahn mit drei Spuren. Ich hingegen habe im Kopf eine Autobahn mit acht Spuren in beide Richtungen und wahrscheinlich noch mit ein paar Abzweigungen“, so erklärt uns Andie Katschthaler, wie sich ADHS auf ihre Gedankenwelt auswirkt.

Mit 27 bekam sie die Diagnose, heute ist sie 32. Im Interview hat sie offen mit uns darüber geredet, welche Hindernisse sie durch ADHS im Alltag hat, inwiefern die Diagnose ihr Leben verändert hat und vor allem: wie sie gelernt hat, damit umzugehen.

Wer zuerst mehr über die Störung erfahren will, hier geht es zum Interview mit Dr. Eike Ahlers von der psychiatrischen Abteilung des Campus Benjamin Franklin in Berlin. 

Wie sah dein Alltag
vor der Diagnose aus?

„Wenn ich meinen Alltag rückblickend betrachte, war es eigentlich ziemlich eindeutig, dass ich ADHS habe. Ich frage mich auch, warum
das keiner vorher gemerkt hat. Ich war extrem chaotisch, vor allem mit Zeiteinschätzungen hatte ich schon als Kind große Probleme. Meine Mutter meinte immer, ich solle mir einen Zeitplan machen, dann würde das schon besser werden – von wegen. Mach mir den striktesten Plan und ich schaffe es trotzdem nicht, ihn einzuhalten.  

Aber ich war nicht nur chaotisch, sondern auch sehr
ungeschickt. Ständig hatte ich irgendwo blaue Flecken oder bin irgendwo reingelaufen. Und sozial gesehen war mein größtes Problem, dass ich komplett filterlos war – klassisch für ADHS, dass man alles
sagt, was einem in den Kopf kommt. Dadurch war mein Ziel eben öfter das Fettnäpfchen.“

Und das wurde von niemandem als verhaltensauffällig wahrgenommen? 

„Ich habe im Nachhinein mal mit einem
Lehrer geredet, der meinte, sie hätten alle gedacht, das wäre die Pubertät.
Meine Therapeutin hat gemeint, ich hätte mir keinen Gefallen getan, dass ich
relativ intelligent bin, weil ich die Defizite damit offenbar kompensiert habe. Ich war auf einer Schule für Begabte und bin da immer irgendwie durchgekommen – bei Sachen, für die ich mich wirklich interessiert habe besser, bei anderen schlechter.“

Wie kam es dann dazu, dass du mit 27 diagnostiziert wurdest? Gab es einen bestimmten Auslöser?

„Nachdem 2010 mein
Vater gestorben ist, bin ich relativ plötzlich und ziemlich stark zusammengeklappt. Die Tatsache, dass ich damals selbstständig gearbeitet habe und zwei Hauptkunden hatte, und damit jahrelang
energietechnisch Raubbau betrieben habe, hat meinem Körper sicherlich auch nicht gut getan. An diesem Punkt habe ich alles stehen und liegen gelassen und eine Therapie angefangen. 

Anfangs hieß es, das seien typische Anpassungsstörungen nach dem Tod meines Vaters. Ich habe dann zwar auch Antidepressiva genommen, aber das hat sich einfach nicht richtig angefühlt. Nachdem ich der Ärztin ganz klar gesagt habe, dass ich mich bei ihr nicht gut aufgehoben fühle, hat sie mich an meinen jetzigen Arzt weitergeleitet. Durch die Empfehlung musst ich zum Glück nicht die gewöhnlichen zwei Monate warten.“ 

Und bei ihm wurde die Diagnose dann gestellt?

„Ja, er hat sich sehr viel Zeit für mich genommen, viele Fragen gestellt und dann nach 90 Minuten vorsichtig gefragt: ,Naja, haben Sie denn schon mal von
ADHS gehört?‘ 
Als er diese Frage ausgesprochen hatte, dachte ich mir einfach nur: ,Jaaa, endlich’. Das war pure Erleichterung. Ich hatte auch schon öfter daran gedacht, dann aber auch schnell wieder vergessen – auch typisch für ADHS. Bei dem Test DSM-5, den wir zur Sicherheit noch mal gemacht haben, hatte ich neun von neun Punkten, deutlicher ging es wirklich nicht (lacht).“

Wie hast du dich nach der Diagnose gefühlt?

„Zu allererst war das natürlich einfach nur erleichternd, weil sich auf einmal alle Puzzleteile zusammengefügt haben. Aber das heißt nicht, dass der Prozess im Anschluss trotzdem kein langer war. Ich musste erst mal auseinander picken, wer ich wirklich war und was von den Erlebnissen aus den 27 Jahren meines Lebens mir selbst oder auch dem ADHS geschuldet war. Ich musste erst mal lernen, dass ich nicht komplett abgefucked bin, nur ein kleines Bisschen, und der Rest ist das ADHS.“

Deine Eltern sind aber nie auf die Idee gekommen, dass deine Probleme im Zeitmanagement und in der Aufmerksamkeit nicht nur jugendliche Macken sind, sondern gesundheitlich begründet sein könnten? 

„Nein, leider nicht. Dazu muss man aber auch sagen, dass mein Elternhaus eine
Katastrophe ist, meine Eltern sind viel zu selbstbezogen. Heute weiß ich, dass es nicht an mir persönlich lag, dass ich den Fuß einfach nicht still und den Zeitplan nicht einhalten konnte.“

Denkst
du, es hätte dir das Leben einfacher gemacht, wenn du es früher gewusst
hättest?

„Ich glaube schon, dass ich es sowohl sozial als auch beruflich um einiges leichter gehabt hätte. Reue war für mich früher ein großer Bestandteil meines Lebens. In der Zwischenzeit habe ich gelernt, damit zu leben. Schließlich haben mich all die Erfahrungen, die ich (auch noch ohne Diagnose) gemacht habe, zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Mit ADHS ist es
vermutlich einfacher als mit Depressionen zu sagen: ,Okay, this is me, this is
part of me‘.“

Inwiefern
wirkt sich ADHS auf deinen Alltag aus? Welche Lebensbereiche sind besonders
betroffen?

„Durch die Medikamente, die ich jetzt nehme, hat sich
alles sehr gebessert. Der einzige Punkt, der sich nicht geändert hat, ist
die Pünktlichkeit. Ich habe das große Glück, dass meine Leute das akzeptiert
haben und sagen, hey okay, das ist nicht, weil ich sie nicht respektiere,
sondern das liegt am ADHS. Zum Glück sagt mir niemand eine frühere Uhrzeit, damit ich pünktlich komme – Ich bin ja kein Kind.

Im Berufsalltag habe ich gemerkt, dass ich als Selbstständige am besten klarkomme. Ein Angestelltenverhältnis passt einfach nicht zu mir. Meine Beziehung, die ich aber schon vor der Diagnose hatte, hat definitiv nicht unter ADHS gelitten.“

Welche Medikamente nimmst du denn?

„In der Früh nehme ich eine nicht-retardierte Tablette, 10mg Medikinet, die Dosierung ist relativ gering. Das wirkt sofort, bringt mich aus dem Haus, sorgt dafür, dass ich nicht die Hälfte vergesse und nicht über meine eigenen Füßen fliege. Nach drei Stunden nehme ich die retardierten (einmal 20mg) nach, die halten circa acht Stunden und bringen mich über den Resttag.

Nur, wenn ich abends noch ein wichtiges Essen habe, bei dem ich auf keinen Fall filterlos sein sollte, nehme ich nochmal eine Nicht-retardierte nach. Die Kombination nehme ich jetzt seit circa zwei Jahren. Die rebound-Effekte, die ich bei meiner vorigen Ritalin und Concerta-Kombination hatte, habe ich bei meiner jetzigen Kombination zum Glück nicht mehr.“

Aber trotz Vergesslichkeit vergisst du nicht, deine Tabletten zu nehmen?

„Nein, nur sehr selten. Manchmal vergesse ich, die Retardierten nachzunehmen und dann merke ich es meistens daran, dass ich ungeduldig und total cranky werde. Und echt unleidlich. Das ist dann echt ein Fall für ,Sorry, sorry. Ich gehe schon meine Medikamente holen‘.

Ich habe auch gemerkt, dass sich PMS- und ADHS-Medikamente gegenseitig aufheben. Um Ruhe zu haben von dem starken PMS, das ich schon immer hatte, nehme ich die Pille jetzt einfach durchgehend. Der Arzt konnte mir bei solchen ,Frauen-Problemen‘ gar nicht weiterhelfen. Aber da findet man zum Glück in Online-Foren genug Leute, denen es genauso geht.“

Werden die Medikamente denn von der Krankenkasse übernommen?

„Eine Bekannte erzählte mir letztens, dass in Deutschland nur die Retardierten bezahlt werden und nicht die Nicht-Retardierten, je nach Medikament. Ich habe das Glück, dass beides bezahlt wird. Ich zahle pro Medikament eine Rezeptgebühr von 5,70 Euro. Von den Retardierten kriege ich drei Packungen, da besteht keinerlei Suchtgefahr, da gibt’s auch genug. Bei den Nicht-Retardierten ist die Krankenkasse ein bisschen strikter. Da gibt’s immer nur eine Packung.“ 

Fühlst du dich aus ärztlicher Sicht gut aufgehoben?

„Bei meinem Psychiater fühle ich mich sehr gut aufgehoben, der ist auch ein Spezialist für ADHS im Erwachsenenalter. Was aber oft ein Problem ist, dass man oft an andere Ärzte gerät, die sagen, dass es ADHS gar nicht gibt. Es sind nicht nur die Leute im Alltag, die wirklich einen Scheiß labern, sondern leider auch Ärzte und Psychiater.“

Hat es bei der Diagnose eine Rolle gespielt, dass du eine Frau bist?

„In meiner Kindheit kannte ich gar niemanden, der mit ADHS diagnostiziert wurde. Als Kind galt ich als ,hyperaktiv‘, das Wort habe ich schon oft gehört, aber weiter gedacht hat niemand. 

Ich habe gelernt, nicht mit meinem Fuß zu wippen, aber das Chaos in meinem Kopf habe ich nicht unter Kontrolle bekommen. Man kann sich das so vorstellen: Jemand, der kein ADHS hat, hat im Kopf eine Autobahn mit drei Spuren. Ein ADHS-Patient hat im Kopf eine Autobahn mit acht Spuren in beide Richtungen und wahrscheinlich noch mit ein paar Abzweigungen. Wenn du gelernt hast, nicht zu viel mit dem Fuß zu wippen oder zu viel zu wackeln, dann kehrst du das nach innen und dann sieht’s keiner mehr.“

Wie stehst du denn zu dem Vorwurf „Modekrankheit“ und wie beurteilst du die massive Steigerung im Bereich diagnostizierter Kinder und verschriebener Medikamente?

„Das macht mich meistens ziemlich aggressiv. Das sind einfach Leute, die keine Ahnung haben – weder sie selbst noch ihre Kinder haben ADHS, noch kennen sie irgendeinen. Das kann mir echt gestohlen bleiben

Das Problem ist nicht, dass man Kindern Ritalin gibt, sondern, dass man automatisch zu der Diagnose ADHS springt. Nicht jedes hyperaktive Kind hat ADHS, aber jedes Kind, das ADHS hat, sollte die Chance haben, entsprechende Medikamente zu kriegen, weil sie das Leben sonst unnötig schwer haben.

Ungesund wird es nämlich vor allem dann, wenn du deine Beziehungen kaputt machst, weil du keinen Filter hast – wenn du einfach keine Kontrolle hast über diese Dinge.

Ritalin wird schließlich dann zum Problem, wenn die Kinder dann mit 16 irgendeinen Blödsinn machen, weil sie den Adrenalin-Kick suchen. Natürlich sollte man den Leuten kein Ritalin, was de facto speed ist, geben, wenn sie nicht ADHS haben. Aber wenn sie es haben, bitte lasst es ihnen doch.“  

Gibt es aus deiner Sicht noch gesellschaftlichen Aufklärungsbedarf oder fühlst du dich mit deiner Diagnose ernst genommen und akzeptiert?

„Viele Leute haben keine Ahnung, was ADHS überhaupt ist. Es ist viel Nichtwissen und Fehlwissen vorhanden. Sehr oft sind das einfach Berührungsängste. Ich merke das aber bei allen Sachen, die mit geistiger Gesundheit zu tun haben oder Neurodiversität. Deswegen habe ich Taboola Rasa gestartet – ein Projekt, um das Tabu zu brechen.“

Das heißt, du gehst auch immer offen mit deiner Diagnose um?

„Ja, ich habe immer offen darüber geredet. Schließlich habe ich genug damit zu tun, selbst damit fertig zu werden. Wenn ich dann auch noch anfange, mir irgendwelche Geschichten auszudenken, ist mir das viel zu mühsam. 

Natürlich gibt es Leute, die auf meine Offenheit dann Sachen erwidern wie: ,Aufmerksamkeitsdefizit? Heißt das, dass du nicht genug Aufmerksamkeit bekommst?‘ – da muss man dann drüber stehen. 

Wenn man aber offen darüber spricht, vermittelt man den anderen das Gefühl, dass es okay ist Fragen zu stellen. Aufgrund meiner Offenheit mit dem Thema haben sich sogar manche Bekannte entschlossen, sich selbst austesten zu lassen und eine Bekannte wurde gar mit ADHS diagnostiziert.“

Kannst du der Diagnose auch positive Eigenschaften abgewinnen?

„Die Diagnose an sich hatte nur positive Eigenschaften. Ich war so erleichtert endlich zu wissen, was los war. 

Wir haben eine gewisse Begeisterungsfähigkeit, die andere Menschen nicht haben. Und dadurch, dass Stresssituationen Dopamin-Ausschüttungen anregen, funktionieren die meisten von uns hervorragend in Krisen-Situationen. Ich habe mal im Fernsehen und im Film als Aufnahmeleiterin gearbeitet – eine Live-Sendung im Fernsehen was das Beste, was du mir geben konntest. Mit längerem Stress kann ich nicht so gut umgehen, dafür mit kurzfristigen Adrenalin-Momenten umso besser.“

Welcher Tipp hat dir am meisten geholfen, den du gern weitergeben würdest?

„Routine und Sachen bewusst zu machen hilft. Früher hatte ich immer Angst, dass ich den Herd angelassen habe. Jetzt checke ich den Herd bewusst, bevor ich gehe und mache dann erst die Tür zu. Und morgens räume ich mir mehr Zeit ein, um in Ruhe aufzuwachen. Ich meditiere 20 Minuten, dann setze ich mich 30-60 Minuten hin zum Schreiben, weil da mein Filter noch nicht so rennt. Dann frühstücke ich und Termine lege ich mir erst für 10.30 Uhr. 

Es bringt nun mal nichts, den Kopf in den Sand zu stecken und es zu ignorieren. Man muss sich bewusst mit der Diagnose auseinandersetzen und sollte auch den Moment genießen, in dem einem klar wird, dass man nicht alles falsch gemacht hat, sondern, dass die meisten Dinge, die man sich permanent vorgeworfen hat, einen Grund hatten.“


Themenwoche: Frauen mit ADHS

Diese Woche widmen wir dem Thema ADHS. Neben Dr. Ahlers, der uns die medizinische Sicht erklärt hat, erzählen bei uns diese Woche sieben Frauen von ihrem Alltag mit ADHS. Andie ist die erste, weitere folgen. 

Dr. Ahlers: „Bei hyperaktiven Mädchen denkt man nicht gleich an ADHS!“. Weiterlesen

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