Ein Weizenfeld in der Ukraine unter blauem Himmel.
Foto: Polina Rytova | Unsplash

Angriffskrieg und Ernährungsunsicherheit: Krisen hängen zusammen

Wenn mehrere Krisen gleichzeitig stattfinden, werden sie schnell gegeneinander aufgewogen – dabei sind sie oft nur zusammen lösbar. Unsere Autorin zeigt deutlich, wie sich die russische Invasion der Ukraine auf Afrika auswirkt.

Seit dem 24. Februar forderte der Krieg Tausende Leben, zwang mehr als vier Millionen Ukrainer*innen zur Flucht in Nachbarländer und begann, sich global auszuwirken: Krieg in der Ukraine bedeutet Hunger in Afrika. Dieser Hunger erhöht das Konfliktpotenzial und gefährdet das Erreichen nachhaltiger Entwicklungsziele. 

Krieg in der Ukraine bedeutet Hunger in Afrika

Eine der folgenschwersten Auswirkungen des Krieges entsteht durch die Nahrungsmittelabhängigkeit. Russland und die Ukraine werden oft als „Kornkammer der Welt“ bezeichnet. Sie machen zusammen etwa ein Drittel (circa 30 Prozent) des globalen Weizen- und 15 Prozent des Maisangebots aus. Die Ukraine kommt außerdem für 40 Prozent der weltweiten Sonnenblumenölexporte auf. Der russische Angriffskrieg wirkt sich entscheidend auf diese Exporte aus: Bereits Anfang März waren die Kosten für Weizen 80 Prozent höher als sechs Monate zuvor. Einer der vielen Gründe für die Preissteigerung ist, dass sich der Weizenanbau in den Regionen der Ukraine konzentriert, die nahe des Epizentrums der Besetzung durch russische Streitkräfte liegen. Viele afrikanische Länder verfügen nicht über die Möglichkeiten, ihre Bevölkerung mit Lebensmitteln aus der Region zu versorgen und sind stark abhängig von Weizen-, Mais- und Speiseöl-Importen aus Ländern wie Russland und der Ukraine, um Hungersnot vorzubeugen. Ostafrika etwa importiert 84 Prozent seines Weizens und 90 Prozent davon stammen aus Russland und der Ukraine.

Schon vor dem russischen Angriffskrieg stiegen die weltweiten Lebensmittelpreise durch die anhaltenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und zunehmend volatile Klimabedingungen massiv: Ende 2021 und Anfang 2022 befanden sie sich erstmals seit 2011 auf einem Rekordhoch. Laut Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind aber Konflikte die Hauptursache für Nahrungsmittelknappheit. 

„Im Jahr 2021 war die Ukraine der größte Nahrungslieferant für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen.“

Bereits heute leiden knapp 855 Millionen Menschen unter Ernährungsunsicherheit; die russische Invasion verschärft also eine hochkritische Lage. Ganze Regionen in Afrika stehen aktuell am Rande einer Hungersnot und viele Länder wurden von den Vereinten Nationen als Hunger-Hotspots identifiziert, unter anderem Äthiopien, Tschad und Burkina Faso. Sie sind nicht nur durch die Import-Abhängigkeit extrem gefährdet, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass Hilfsorganisationen zur Linderung der Hungersnot auf Weizen und Getreide angewiesen sind. Im Jahr 2021 war die Ukraine der größte Nahrungslieferant für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. Der Konflikt in der Ukraine verstärkt also die Nahrungsunsicherheit in den bereits vulnerablen Staaten Afrikas.

Konflikte führen zu Hunger und Hunger führt zu Konflikten

Die Forscher*innen Jasmien de Winne und Gert Peersman fanden heraus, dass der Anstieg der Lebensmittelpreise aufgrund von Ernteausfällen außerhalb afrikanischer Länder Gewalt innerhalb der Länder verstärken. Unruhen und Instabilität durch steigende Lebensmittelpreise entstehen unter anderem dadurch, dass Ungerechtigkeiten noch deutlicher werden als zuvor; beispielsweise wenn Lebensmittel verfügbar sind, ärmere Bevölkerungsschichten jedoch nicht genug Mittel haben, um sie zu kaufen. Beispiele dafür sind die sogenannten Brotaufstände im Jahr 2008 in Burkina Faso, Kamerun, Ägypten und Haiti. Sie verdeutlichen, wie Hunger und Instabilität zusammenwirken. Im schlimmsten Fall können die Preiserhöhungen zu Konflikten jenseits der Grenzen der Ukraine in Ländern beitragen, die auf ihre Getreideimporte angewiesen sind. Afrika erlebte bereits vor dem Krieg einen Anstieg von Putschen und Unruhen etwa in Burkina Faso, im Sudan und in Mali. Auch hier wird sich also eine bereits prekäre Situation verschärfen – Hunger bedeutet (noch) weniger Stabilität. 

„Entwicklungspolitik von heute ist die Friedenspolitik von morgen.“

Willy Brandt

Wenn mehrere Krisen gleichzeitig stattfinden, werden sie schnell gegeneinander aufgewogen – die eine Krise sei wichtiger als die andere – dabei sind sie oft nur zusammen lösbar. Auch in Bezug auf Entwicklungsgelder droht aktuell ein solches Aufwiegen. Geberländer können die Ausgaben für die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine als sogenannte In-Donor-Refugee-Costs (IDRC) als Teil ihrer Entwicklungsausgaben (Official Development Assistance, ODA) rechnen. Diese Kosten könnten sich auf 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr belaufen; das entspricht den gesamten bilateralen Geldern für den afrikanischen Kontinent im Jahr 2020. Wenn In-Donor-Refugee-Costs nicht zusätzlich, sondern anstatt von bilateralen ODA-Ausgaben gerechnet werden, bedeutet das, dass global insgesamt weniger bilaterale Entwicklungsgelder ausgegeben werden. Dabei erkannte bereits der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt: „Entwicklungspolitik von heute ist die Friedenspolitik von morgen“. 

Es darf kein Aufwiegen zwischen globalen Krisen im Sinne eines Entweder-oders geben. Nur ein solidarisches Sowohl-als-auch ist akzeptabel. Die Entwicklungsorganisation ONE fordert deshalb, sicherzustellen, dass In-Donor-Refugee-Costs nicht mit den bestehenden ODA-Ausgaben für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen verrechnet werden. Es ist intellektuell und emotional herausfordernd, die Parallelität multipler Krisen von Krieg über Hunger bis hin zur Pandemie mitzudenken und auszuhalten; doch nur so können sie nachhaltig überwunden werden.

Krieg gefährdet das Erreichen der nachhaltigen Entwicklungsziele

Ob Hunger oder Instabilität – die Auswirkungen des Krieges auf Afrika lassen sich am besten durch die Auswirkungen auf die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der Agenda 2030 zusammenfassen: Laut Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) werden die finanziellen Folgen des Krieges die ohnehin schon enorme Finanzierungslücke von 17,9 Billionen US-Dollar für den Zeitraum 2020-2025 (die zur Erreichung der SDGs benötigt werden) vergrößern. Vor allem das Beenden von Armut und Hunger weltweit (SDG 1 und 2) rückt aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen und Preissteigerungen in weite Ferne. 

„Der Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung ist entscheidend dafür, dass Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen.“

Die Auswirkungen des Krieges auf die Weltwirtschaft bedeuten außerdem risikoaversere Finanzmärkte, steigende Zinssätze und eingeschränkter Zugang zu Krediten – was wiederum dazu führt, dass Regierungen, die Kredite benötigen, um ihre ohnehin enorm hohen Schulden zu bedienen, sehr viel mehr ausgeben müssen. Dadurch bleibt noch weniger Geld, um in Gesundheitsversorgung (SDG 3), Bildung (SDG 4) oder Infrastruktur (SDG 9) zu investieren. Ersteres ist besonders prekär, zumal die Pandemie weiter wütet und auch Anfang April 2022 nur 15,4 Prozent der afrikanischen Bevölkerung vollständig geimpft sind. Hinzu kommt, dass pandemiebedingte Mittelkürzungen den Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung für viele Frauen bereits eingeschränkt haben, was sich nun verschärfen wird. Dieser Zugang ist entscheidend dafür, dass Frauen ein selbstbestimmtes Leben (SDG 5) führen. Der Krieg verdeutlicht, wie untrennbar die einzelnen SDGs miteinander verwoben sind und stellt die globale Tragweite der russischen Invasion heraus.

Eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik ist die einzige Lösung

Wir haben uns die Realität konvergierender Krisen nicht ausgesucht. Die Frage ist, wie wir ihr begegnen und ob wir sie als Moment begreifen, um bestehende Strukturen aufzubrechen und neu zu denken. Feministische Außen- und Entwicklungspolitik kann einen inklusiven, intersektionalen Rahmen für solch eine Strukturtransformation bieten. Sie ermöglicht es, kurzfristig auf akute Notlagen zu reagieren, beispielsweise durch gezielte Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung der Ukrainer*innen. Langfristig geht sie über die bloße Reaktion auf den Status Quo hinaus ins proaktive Agieren – unter anderem durch Abrüstung. Sie schafft Strukturen, die den Status Quo überwinden und setzt auf das Recht aller Menschen – mit einem besonderen Fokus auf marginalisierte Gruppen, auf ein Leben in Freiheit und Würde, frei von Armut, Angst und Not und mit gleichen Chancen, alle ihre Rechte auszuleben und ihr Potenzial voll zu entfalten zu können.

Die Autorin Antonia Baskakov arbeitet im Projektmanagement zum Thema Impfgerechtigkeit und der deutschen G7-Präsidentschaft bei ONE, einer internationalen NGO zur Bekämpfung extremer Armut. Zuvor leitete sie als Strategic Advisor to the Executive Director beim Centre for Feminist Foreign Policy Projekte zu Völkerrecht, transatlantischen Beziehungen, Frieden und Sicherheit. Sie arbeitete in einer Vielzahl menschenrechtsbezogener Bereichen, u.a. in der Rechtsforschung mit einem Schwerpunkt auf Genozidprävention an der Berkeley Law School und Stanford Law School und bei der United Nations International Telecommunication Union. Sie schreibt über feministische Außen- und Entwicklungspolitik und Menschenrechte.

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