Foto: Kerstin Kokoska/ FUNKE Foto Services

„Ich dachte: Hoffentlich ist der Attentäter kein Syrer“

Heba Alkadri (29) ist aus Syrien geflohen. Nach dem Attentat in Solingen fragt sie sich: „Können Geflüchtete wie ich wirklich jemals dazugehören?“

Als ich die Nachricht über den Messerangriff in Solingen las, legte ich die Hand auf meine Brust. Hoffentlich ist der Täter kein Syrer, war einer meiner ersten Gedanken. Seit Jahren ergreift mich immer dasselbe Gefühl, derselbe Gedanke, wenn ich von Vorfällen wie dem in Solingen höre: Hoffentlich war es kein Syrer. Ganz gleich, ob es um Messerstechereien, Gewalt oder unerlaubtes Grillen im Park geht.

Das hat nichts mit mir zu tun, sage ich mir dann immer. Doch leider glauben viele Menschen jetzt genau das: Dass alle Syrer wie der Terrorist sind, dass wir alle so denken und handeln. Dabei habe ich nichts mit dem Attentäter gemeinsam, außer die Herkunft. Ganz im Gegenteil: Wegen Extremisten wie ihm musste ich Syrien verlassen. Und wäre ich unter den Feiernden in Solingen gewesen, hätte er genauso auf mich eingestochen wie auf alle anderen.

„Deutschland und ich – das müsste doch passen, dachte ich“

Als erst die Revolution und dann der Krieg in Syrien ausbrachen, blieb ich im Land. Drei Jahre später hatten fast alle meine Freund*innen das Land verlassen. Jedes Mal, wenn ich mich von ihnen verabschiedete, wurde es mir schwer ums Herz. Ich sah zu, wie einer nach dem anderen floh. Wer würde bleiben, um etwas zu verändern? Dieser Gedanke ließ mich nicht los und hielt mich fest. Aber drei Jahre später konnte auch ich nicht mehr. Ich musste mir eingestehen, dass ich in Syrien nichts mehr bewirken konnte. Die Hoffnungslosigkeit war erdrückender als die Bomben und der quälende Hunger.

Ich hatte in Syrien viel Zeit zum Nachdenken – und zum Abschiednehmen. Ich traf eine Entscheidung: Ein neues Leben sollte beginnen, ein Leben in Deutschland. Ende 2016 bin ich hier angekommen. Ich wollte mehr, als mich bloß zu integrieren. Ich wollte dazugehören. 

Warum auch nicht? Mit den Menschen hier verbindet mich viel. Schon in Syrien habe ich deutsche Literatur gelesen und geliebt. Rilke war mein Lieblingsdichter, Kant mein Lieblingsphilosoph. Und die Werte in Deutschland sind die Werte, für die ich in meiner Heimat gekämpft habe: Freiheit, Gleichheit, Rechte. Deutschland und ich – das müsste doch passen, dachte ich.

Ich habe mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft, viele Freund*innen und eine Karriere, die ich mir aufbauen will. Aber ich fühle mich nicht als Teil der Gesellschaft, so sehr ich mich auch bemühe. Was fehlt mir? Was mache ich falsch?

Acht Jahre nach meiner Flucht hinterfrage ich alles und verstehe die Menschen, die mir schon damals gesagt haben: Du wirst niemals wirklich dazugehören. Sie erzählten mir von den vielen Migrantinn*innen, die vor Jahren ins Ruhrgebiet gekommen sind, inzwischen in der dritten Generation hier leben – und doch für viele immer noch „die Türken“ oder „die Anderen“ sind.

„Können wir wirklich dazugehören?“

Wir Geflüchteten fragen uns das oft: Können wir wirklich dazugehören? Ich sehne mich danach. Ich habe es versucht und versuche es immer noch. Ich will nicht aufgeben. Noch nicht. Aber es wird immer schwieriger, vor allem nach dem Vorfall in Solingen – und der Reaktion der Gesellschaft und der Medien darauf.

In den Medien werden Geflüchtete, Syrer*innen, Muslim*innen und der Täter oft allein aufgrund der gemeinsamen Herkunft in Verbindung gebracht. Dabei sind Geflüchtete wie ich doch eigentlich besonders von dem Attentat in Solingen betroffen. Einerseits sind wir vor genau den Menschen, die jetzt hier Terror verbreiten, geflohen. Andererseits kämpfen wir mit den Folgen von ihren Taten, politisch und gesellschaftlich.

Dass nun wieder über Abschiebungen diskutiert wird und darüber, keine Geflüchteten mehr ins Land zu lassen, war absehbar. Es fühlt sich an wie eine kollektive Bestrafung, wie ein zweiter Schlag ins Gesicht. 
In einem neuen Land haben wir von vorne begonnen – ohne Kontakte, ohne Sprachkenntnisse und ohne Vorbereitung. Aber alles, was wir uns über Jahre hinweg mühsam aufgebaut haben, kann in wenigen Sekunden zerstört werden.

„Wut bringt uns nicht weiter“

Ich verstehe den Zorn der Menschen. Auch ich bin wütend. Aber Wut ist die einfachste aller Emotionen. Sie bringt uns nicht weiter. Im Gegenteil, sie spaltet uns – und genau das ist es, wovon die Terroristen und Populisten träumen. 

Der Anschlag in Solingen erschüttert uns. Als ich die Schlagzeile las, hoffte ich heimlich, es war kein Syrer. Doch es war ein Syrer. Noch beunruhigender: Der Anschlag passierte kurz vor den Wahlen in Ostdeutschland.

Der Ausgang der Wahlen wird ganz Deutschland beeinflussen. Es geht dabei aber nicht um Menschen aus Syrien, Geflüchtete oder Flüchtlingsgesetze. Die Nationalität des Täters darf uns nicht ablenken. Mich besonders nicht. Es geht um Deutschland, um unsere Zukunft, um unsere Werte.

Dieser Text erschien erstmalig in der WAZ am 27. August 2024.

Volontärin Heba Alkadri im FUNKE Medien Office. Foto: Kerstin Kokoska/ FUNKE Foto Services

DIE AUTORIN
Heba Alkadri lebt in Essen und absolviert ein Volontariat bei der FUNKE Mediengruppe. Sie hat Medienwirtschaft und Journalismus in Deutschland studiert und macht derzeit parallel zu ihrem Volontariat einen berufsbegleitenden Master in Digitalem Journalismus an der Hamburg Media School.
Ursprünglich aus Syrien stammend, strebt Heba eine Karriere als Journalistin in Deutschland an, um den Stimmen derjenigen Gehör zu verschaffen, die sonst ungehört bleiben. Ihr Ziel ist es, ein Vorbild dafür zu sein, dass man auch mit grammatikalischen Fehlern und Akzent eine erfolgreiche journalistische Karriere aufbauen kann.

Anzeige