Foto: Bench Accounting | Unsplash

Eine Berlinerin verbesserte mit Minimalismus ihr Leben – und wir können von ihr lernen

Olivera Svrzic entrümpelte ihre Wohnung – und nach und nach auch ihr Leben. Ihr Wohlbefinden verbesserte sich dadurch erheblich. Ze.tt hat zusammengefasst, was wir von ihr lernen können.

Mehr Zeit für die wichtigen Dinge

Oliveras 75-Quadratmeter-Wohnung in Berlin Prenzlauer Berg wirkt spartanisch, aber nicht übertrieben leer. Sie lebt dort mit ihrem Freund und ihrem zweieinhalb Jahre alten Sohn in drei Zimmern. Die Regale sind aufgeräumt, an den Wänden hängen kaum Bilder. Trotzdem hätte ich mir ihre Wohnung leerer vorgestellt. Doch die 34-jährige Kommunikationsdesignerin sagt: „Es geht nicht darum, so krass wie möglich zu sein.“

Der Philosoph Jürgen Manemann vom Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover ergänzt: „Minimalismus heißt nicht Besitzlosigkeit.“ Die Maxime sei vielmehr „consume less, create more“. „Wer seinen Konsum reduziert, der erlangt mehr Unabhängigkeit, der kann durch äußere Leere innere Fülle erreichen.“

Genau das ist Olivera gelungen, seit sie vor vier Jahren Minimalistin wurde. „Ich habe mehr Zeit für Dinge, die mir wichtig sind“, sagt sie. Wie genau hat sie das gemacht und warum ist ihr Leben nun besser als früher?

Ihr Wandel begann damit, dass Olivera ständig gestresst und überfordert war. Sie arbeitete 40 Stunden die Woche und besaß eine Wohnung, in die sie und ihr Freund zwei gesamte Hausstände mitgebracht hatten. „Da waren sechs Beistelltische, fünf Kameras und einfach zu viel Zeug“, sagt sie.

Olivera schätzt, dass sie 70 Prozent dieser Gegenstände gar nicht nutzten. Auch im Privaten war es unübersichtlich. Sie fing Hobbys an, die sie dann doch wieder sein ließ und traf sich auch mit Leuten, mit denen sie sich nicht immer wohl fühlte. In ihr wuchs ein Gefühl der Unzufriedenheit.

Dann begann sie im Netz zu recherchieren. Von „tiny houses“, also Mini-Häusern, für die sich sich schon länger interessierte, war es ein kurzer Weg zum Minimalismus. „Was ich da las, ergab total viel Sinn“, sagt sie. Und Olivera begann, ihre Wohnung auszumisten.

Prozess der Selbsterkenntnis

Am ersten Tag füllte sie zwei komplette Mülltonnen. „Das hatte etwas Befreiendes.“ Nach und nach ging sie ihren Besitz durch. Sie stellte sich Fragen wie: „Was benötige ich wirklich? Warum habe ich mir das nochmal gekauft? Habe ich mehrere Dinge, welche dieselbe Funktion erfüllen, wie beispielsweise die fünf Kameras?“  So leerte sich ihre Wohnung nach und nach.

Gleichzeitig begann in ihr ein Prozess der Selbsterkenntnis, was nicht ungewöhnlich ist, wie der Philosoph Manemann erklärt. „Minimalismus hilft, sich mit der Sinnfrage auseinanderzusetzen.“ Das leuchtet ein, denn wer sich nur noch mit 50 Dingen statt mit 500 beschäftigt, hat mehr Zeit für sich selbst. Plötzlich treten Fragen wie „Wer bin ich? Was gefällt mir? Was möchte ich erreichen?“ in den Vordergrund.

Olivera mistete nicht nur ihre Wohnung aus. Sie traf sich auch eher mit Freund*innen, mit denen sie sich komplett wohl fühlt, sie liest weniger Nachrichten, kauft weniger und bewusster ein und reduzierte ihre Arbeitszeit auf 80 Prozent.

Dass ihr Freund kein Minimalist ist, stört dabei nicht. „Es wirkt ansteckend“, sagt sie. Manchmal sieht er, ein paar Tage nachdem sie ausgemistet hat, auch seine Pullover durch und sortiert aus. Sie würde ihn aber nicht dazu zwingen. Außerdem hat er ein eigenes Regal und einen eigenen Schreibtisch, die so aussehen, wie er es möchte – weniger minimalistisch als ihre.

Wo anfangen?

Philosoph Manemann ist überzeugt vom Minimalismus. Das Entrümpeln und Entmüllen unseres Hirns, die Konfrontation mit sich selbst, das Überdenken des permanenten Konsums – alles Dinge, die sich positiv auf unser Leben auswirken können. Aber warum handeln wir nicht alle so?

Auch Manemann lebt nicht minimalistisch, obwohl er die Geisteshaltung gut findet. „Überzeugung und Handlung stehen oft in einem Spannungsverhältnis. Psychologen sprechen hier von kognitiver Dissonanz“, sagt er. Wichtig sei, dass es nicht zu einer völligen Trennung kommt. Denn dann könnten wir nicht mehr in den Spiegel schauen. Selbstbetrug und Fatalismus wären die Folgen.

Wer schauen möchte, ob Minimalismus etwas für ihn ist, dem empfiehlt Olivera folgende Herangehensweise:

Konkrete Pläne

Olivera empfiehlt, mit einer Bestandsaufnahme zu beginnen – mit einer materiellen und einer immateriellen. Wie viele Stunden arbeite ich, macht mir mein Job Spaß? Wie verbringe ich meine Freitzeit? Sie empfiehlt, alles aufzuschreiben. Ähnlich sollte man mit der Wohnung vorgehen: Reicht mir der Platz, den ich habe? Will ich lieber die Sachen behalten und umziehen oder bleiben und ausmisten? Das sind meist Fragen, die man nicht in einer Stunde klären kann.

So ging es auch Olivera. Sie begann damit, Sachen auszusortieren und nach und nach fiel es ihr leichter, auch ihre übergeordneten Wünsche zu formulieren. „Je mehr ich losgegelassen habe, umso mehr habe ich über mich gelernt und konnte immer konkreter mein persönliches Ziel formulieren“, sagt sie.

Zeit einplanen

Zu Beginn setzte Olivera folgende Punkte um: „Weniger arbeiten, weil sie mehr Freizeit wollte und mehr Platz in der Wohnung, um sich freier zu fühlen.“ Für den Ausmistprozess benötigt man viel Zeit, sagt Olivera. „Was man über Jahre oder Jahrzehnte angesammelt hat, kann man nicht von heute auf morgen aussortieren.“

Sich auf das Wesentliche konzentrieren

Es geht nicht nur um das Loslassen, sondern auch um die Frage: Was soll bleiben? Olivera definierte für sich, was das absolute Minimum ist, etwa im Kleiderschrank oder der Handtasche. Das hilft ihr zum Beispiel morgens Zeit zu sparen, wenn das Kind in die Kita muss und sie zur Arbeit. Wenn sie früher 90 Minuten brauchte, um sich morgens fertig zu machen, sind es heute weniger als 30. Weil in ihrem Kleiderschrank und in ihrem Schminkschrank nicht dutzend verschiedene Dinge stehen oder liegen, sondern nur Sachen, die sie wirklich braucht und täglich benutzen kann.

Minimalismus. Und dann?

Nach einiger Zeit war Olivera gelungen, sich auf das Wesentliche zu reduzieren. Sie sagt aber auch, dass sie regelmäßig nachjustiert, weil sich das Leben ja ständig ändert. Wenn jetzt ein Küchengerät kaputt geht, kann es schon mal passieren, dass sie fast zwei Monate recherchiert, bis sie ein neues kauft – solange bis sie eines gefunden hat, das genau ihren Bedürfnissen entspricht.

Wer das Überflüssige entfernt hat und sich auf das Wesentliche konzentriert, hat den Raum, Zeit und Energie, sein Leben aktiv zu gestalten, sagt Olivera. „Man hat dann zum Beispiel Platz für einen Hobbyraum, das Geld für eine lange Reise, die Energie, um Sport zu machen – alles das, was für einen selbst am wichtigsten ist.“

Der Originaltext von Manuel Bogner ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen. 

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