In Folge 58 unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“ sind Katrin Chodor und Chris Selle von „Beyond Labels“ zu Gast – einem ganz besonderen Foto- und Videoprojekt, das Sichtbarkeit für maskuline Frauen schafft.
In der Podcastfolge sprechen die beiden unter anderem darüber, warum die Perspektiven maskuliner Frauen in unserer Gesellschaft und auch innerhalb der queeren Community oft untergehen, wie viel Mut es kostet, sich selbst treu zu bleiben, und welche Rolle Kleidung, Sprache und Gemeinschaft dabei spielen.
In dem Gespräch geht es um Alltagsdiskriminierung, um Missverständnisse – aber auch um Stärke, Verbundenheit und Empowerment. Eine intensive und wichtige Folge mit zwei beeindruckenden Menschen. Reinhören lohnt sich!
Die ganze Podcastfolge hörst du über einen Klick ins Titelbild oder eingebettet unten im Artikel und natürlich überall dort, wo es Podcasts gibt. Einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Katrin Chodor und Chris Selle liest du hier.
Wie sieht die Resonanz auf „Beyond Labels“ bisher aus?
Chris Selle: „Fantastisch. Unser erstes Video auf Instagram hat mittlerweile über 55.000 Aufrufe. Allein in der ersten Woche haben wir auf Instagram über 1.000 Follower*innen gewonnen.
Wir waren anfangs ehrlich gesagt ein bisschen überfordert, weil alles so schnell ging. Wir haben uns gefragt: Wie reagieren wir darauf? Was machen wir jetzt? Gleichzeitig hat uns das aber auch gezeigt, wie wichtig das Thema ist.
Es haben sich viele Menschen bei uns gemeldet, die gesagt haben: ‚Ich bin genauso wie ihr. Danke, dass ihr da seid. Danke, dass ihr uns eine Stimme gebt.‘“
Katrin Chodor: „Dass dieser Bedarf so stark da ist, merkt man wirklich von Tag zu Tag mehr. Wir wussten natürlich, dass es ein wichtiges Thema ist – das haben wir selbst gespürt. Aber dass es dann so viel Anklang findet, hat uns wirklich überrascht.“
Es ist immer schön, wenn Projekte von Menschen ins Leben gerufen werden, die selbst betroffen sind. Wann habt ihr denn zum ersten Mal gemerkt, dass ihr irgendwie „aus der Reihe fallt“?
Katrin Chodor: „Im Gespräch haben ich und Chris relativ früh festgestellt, dass es bei uns zwei verschiedene Seiten gibt: Zum einen die inneren Konflikte, zum anderen den Einfluss von außen.
Bei mir haben vor allem innere Konflikte eine Rolle gespielt. Meine sexuelle Orientierung habe ich eigentlich nie infrage gestellt – ich wusste schon früh, dass ich auf Frauen stehe. Es ging eher um mich selbst: Ich habe mich mit langen Haaren einfach nicht wohlgefühlt. Auch diese pinken Klamotten, die man früher – vor allem in den 90ern – automatisch bekommen hat, waren überhaupt nicht meins.
Sich davon zu lösen und zu sagen: ‚Okay, ich glaube, ich möchte ein bisschen maskuliner aussehen. Ich mag diese Attribute an mir. Ich mag, dass ich eher ein breites Kreuz habe. Ich finde es nicht schlimm, dass ich keine großen Brüste habe – im Gegenteil. Ich finde es eher nervig, dass ich ein breites Becken habe, weil mir die Hosen, die ich mag, nicht richtig passen‘, ist gar nicht so leicht. Solche Dinge muss man erst mal für sich annehmen – und dann auch den Mut aufbringen, sie nach außen zu zeigen.
Zuhause war es auch nicht immer einfach: Meine Eltern gehören zu einer älteren Generation – ich bin ein Nachzüglerkind, meine Mutter war 42, als sie mich bekam. Sie stammen aus einem kleinen Dorf in Polen – da offen mit solchen Themen umzugehen, war nochmal eine ganz andere Hausnummer.
Viele Dinge haben mich damals klein gehalten und den Moment meines Outings hinausgezögert.“
Chris, bei dir war das ein bisschen anders. In deinem Vorstellungsvideo bei „Beyond Labels“ hast du gesagt: „Ich wusste immer, wer ich bin. Ich wusste immer, was ich will.“ Aber ich kann mir vorstellen, der Druck von außen hat dich auch nicht kalt gelassen, oder?
Chris Selle: „Absolut. Bei mir war relativ früh klar, dass ich eher in die maskuline Richtung gehe. Als ich vier Jahre alt war, wurden ich und meine Schwester auf einer Hochzeit als Blumenmädchen engagiert. Ich musste ein Kleid tragen – wollte aber schon damals viel lieber einen Anzug – und habe bitterlich geweint.
Natürlich stellte sich dann irgendwann auch die Identitätsfrage: Will ich ein Junge sein? Aber damals gab es eben noch kein ‚Dazwischen‘. Für mich war klar: Ich will kein Mann sein, aber ich identifiziere mich auch nicht wirklich als Frau. Ich bin einfach ich. Ich möchte mich in keine Schublade stecken. Ich weiß, dass Labels für viele wichtig sind, aber für mich sind sie es nicht.
Ich bin froh, dass es heute die non-binäre Möglichkeit gibt – da würde ich mich vielleicht am ehesten zuordnen. Aber eigentlich bin ich fein mit mir, so wie ich bin.“
Welche Formen der Diskriminierung hast du erlebt?
Chris Selle: „Dadurch, dass ich schon früh wusste, was ich will – kurze Haare, maskuliner Style, Kleidung aus der Männerabteilung – habe ich auch schon früh sehr viel Diskriminierung erfahren.
In der Schule wurde ich ‚Miss Man‘ genannt, mir wurde ein Messer an den Hals gehalten, ich wurde auf den Boden geworfen, in den Bauch getreten, bespuckt. Das letzte Mal hat mir jemand vor zwei Jahren mit der Faust ins Gesicht geschlagen – einfach, weil ich so aussehe, wie ich aussehe. Diese Gewalt hat mir gezeigt, wie schwer es maskuline Frauen haben.
Ich habe auch sexuelle Übergriffe erlebt – zum Beispiel auf der Arbeit, wo mir auf den Hintern gehauen wurde oder man mich einfach an sich gezogen hat. Und ich weiß: Ich bin nicht die Einzige.
Am Kölner Flughafen habe ich mitgehört, wie zwei Leute darüber gewettet haben, ob ich ein Mann oder eine Frau bin. Als ich sie darauf angesprochen habe, wurde das Ganze einfach nur abgetan und belächelt.“
Wie bist du damit umgegangen?
Chris Selle: „Da war für mich klar: So geht das nicht. Ich habe ein Video über Alltagsdiskriminierung gemacht – das ging viral. So viele Frauen haben mir geschrieben, viele auch mit Geschichten bis hin zur Vergewaltigung. Und ich dachte: Wie kann es sein, dass wir so viel erleben und niemand darüber spricht?
Wir sind in den Medien kaum sichtbar – besonders maskuline Frauen. In Datingshows oder TV-Formaten sieht man fast nur bestimmte, oft feminine Typen. Natürlich haben es auch feminine Frauen schwer, weil ihre Sexualität oft nicht ernst genommen wird. Aber maskuline Frauen erleben beides: Gewalt und Sexualisierung. Viele denken da nicht drüber nach.“
Wie haben Außenstehende auf dein Video reagiert?
Chris Selle: „Ich habe Nachrichten bekommen wie: ‚Danke, dass du das teilst – mir war das gar nicht bewusst. Ich habe selbst eine maskuline Freundin, und ich wusste nie, wie schwer das für sie ist, einfach nur auf eine öffentliche Toilette zu gehen.‘
Und genau deshalb gibt es „Beyond Labels“ – um Sichtbarkeit zu schaffen, aufzuklären und das Schweigen zu brechen.“
Maskuline Frauen sehen sich auch mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Welche sind das genau?
Katrin Chodor: „Wir gelten als aggressiv, laut, prollig und ‚nicht feminin‘. Und diese Zuschreibungen werden einem so oft übergestülpt, dass man sie irgendwann selbst übernimmt. Man beginnt zu glauben, dass das einfach zu einem gehört – obwohl es von außen kommt.
Gerade wenn man noch jung ist und zum ersten Mal in einer Beziehung, wird einem schnell die Rolle des ‚Mannes‘ in der Beziehung zugewiesen. Dann denkt man: ‚Okay, ich bin jetzt die starke Schulter. Ich bin nur die, die in den Arm nimmt. Bloß nicht selbst in den Arm genommen werden.‘ Man verinnerlicht eine Form von toxischer Männlichkeit, die unter maskulinen Frauen wirklich stark verbreitet ist.
Und weil es kaum offenen Austausch gibt, entsteht oft Konkurrenz statt Gemeinschaft. In Clubs oder auf Partys sind andere maskuline Frauen plötzlich eine Art Bedrohung, als wäre kein Platz für mehrere von uns.“
Hattest du, bevor du Chris kennengelernt hast, auch länger keinen Kontakt zu anderen maskulinen Frauen?
Katrin Chodor: „Chris ist tatsächlich die erste maskuline Frau seit Langem, mit der ich in einen echten, offenen Austausch gehe. Das gab es vorher für mich nicht, weil ich immer das Gefühl hatte, dass die Bereitschaft dafür fehlt.
Aber genau das wollen wir jetzt ändern. Wir wollen Brücken schlagen, gemeinsam eine Stimme finden, uns gegenseitig austauschen und vielleicht sogar eine Community innerhalb der Community aufbauen.“
Diskriminierung kommt nicht nur von außen, sondern passiert auch innerhalb der queeren Community. Was erlebt ihr da so?
Chris Selle: „Ich habe da schon einiges erlebt – zum Beispiel Kommentare wie: ‚Warum sollte ich mit einer Frau zusammen sein, die ein Mann sein will? Ich stehe schließlich auf Frauen.‘ Aber ich will ja gar kein Mann sein. Ich bin einfach ich. Ich kleide mich nur so, wie ich mich wohlfühle. Und trotzdem habe ich weibliche Seiten – auf die ich auch stolz bin.
Man wird einfach automatisch in eine bestimmte Rolle gedrängt. Und das ist eigentlich das Traurige daran: Gerade innerhalb der Community, die ja eigentlich unser Safe Space sein sollte, sollten wir uns doch gegenseitig unterstützen. Wir brauchen Verbündete – nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb unserer eigenen Reihen. Wir müssen zeigen dürfen, dass wir auch weich sein können – aber genau das ist leider oft schwierig.
Auch unter maskulinen Frauen werden gerne die Ellenbogen ausgefahren. Ich erinnere mich an Situationen, in denen ich an der Bar einfach angesprochen wurde, und dann kam direkt die Freundin mit aggressivem Ton: ‚Was machst du da mit meiner Freundin?‘ Und ich dachte nur: ‚Sie hat mich angesprochen, ich habe geantwortet – warum dieser Stress?‘ Warum bekriegen wir uns untereinander, anstatt zusammenzuhalten? Wir alle gehen doch durch ähnliche Erfahrungen.“
Katrin Chodor: „Und das Ding ist ja: Auch innerhalb der Community gibt es ganz unterschiedliche Spektren – und auch Spannungen. Heute auf unserem Account haben wir das wieder deutlich gemerkt: Plötzlich tauchen jede Menge Leute auf, die etwas Negatives zu unserem Projekt zu sagen haben.
Oft kommen diese Kommentare von weißen homosexuellen cis Männern, vielleicht auch aus älteren Generationen. Da heißt es dann: ‚Wegen euch geht alles kaputt, was wir uns über die letzten Jahrzehnte aufgebaut haben.‘ Und da spürt man: Innerhalb der Community existiert auch ein Generationenkonflikt.
Man hört dann zum Beispiel: ‚Ich bin ein schwuler Mann, aber ich bin nicht queer.‘ Da fängt es schon an – mit den Hierarchien innerhalb der Community.
Und ich glaube, weil wir eben nicht dem typischen Bild einer Frau entsprechen, werden wir selbst innerhalb der Community – gerade von Menschen, die äußerlich eher der heteronormativen Norm entsprechen – oft in eine Ecke gedrängt. Und das tut weh.“
Wie geht ihr damit um, wenn ihr mit dem falschen Pronomen angesprochen werdet?
Chris Selle: „Ich glaube, das kommt immer darauf an, wie es passiert. Fehler können jedem mal passieren – vor allem, weil sich unsere Sprache gerade im Wandel befindet. Man hat es eben nicht immer sofort auf dem Schirm. Aber wenn jemand dann sagt: ‚Entschuldigung, das war nicht so gemeint, ich bemühe mich wirklich, daran zu denken‘, dann ist das für mich in Ordnung.
Gerade wenn jemand gar keine Pronomen nutzt oder they/them bevorzugt, kann im Eifer des Gefechts mal etwas schiefgehen. Aber wenn sich jemand dann ehrlich entschuldigt und sichtbar daran arbeitet, respektvoll mit Menschen umzugehen, dann passt das.
Ich finde, auch die betroffene Seite sollte ein bisschen Nachsicht zeigen – nicht direkt auf Konfrontation gehen, sondern sagen: ‚Hey, kein Ding – aber bitte denk das nächste Mal dran. Das ist mir wichtig. Das bin ich.‘“
Fällt euch eine Situation ein, in der jemand nicht gut damit umgegangen ist?
Katrin Chodor: „Ich stand mit meinem besten Freund im Supermarkt an der Kasse. Ein älterer Mann hinter uns meinte: ‚Na, macht ihr Jungs euch heute einen coolen Zockerabend?‘ Ich sagte: ‚Nicht ganz, ich bin eine Frau.‘ Und trotzdem spielte sich das Ganze noch fünfmal ab – immer wieder: ‚Jungs‘, ‚Männer‘, ‚junger Mann‘. Und da dachte ich mir irgendwann: Du willst es einfach nicht verstehen.
Und das ist für mich der entscheidende Punkt: Fehler passieren – das ist okay. Aber wenn man merkt, jemand will es nicht verstehen oder entschuldigt sich nicht mal – dann ist es einfach respektlos.“
Was würdet ihr anderen maskulinen Frauen mit auf den Weg geben, die noch ganz am Anfang ihrer Selbstfindung stehen?
Katrin Chodor: „Gerade wenn man jung ist, rutscht man leicht in diese Rolle der toxischen Maskulinität – man übernimmt bestimmte Muster, weil man denkt, das gehört sich so. Ich würde raten, sich früh zu öffnen und den Austausch zu suchen.
Was mir persönlich gefehlt hat, war genau das: der Kontakt zu anderen, die ähnlich fühlen oder denken. Ich hatte zwar immer viele Freund*innen, die mich so angenommen haben, wie ich bin – aber so richtig verstanden haben sie es nicht.
Da sind Freundinnen dabei, die kenne ich seit 10, 15 Jahren – und als ich ihnen jetzt von dem Projekt erzählt habe, kam: ‚Echt jetzt? Sowas passiert dir immer noch?‘ Sie hatten das gar nicht auf dem Schirm.
Deshalb finde ich es so wichtig, Brücken zu bauen – offen auf andere maskuline Frauen, Butches, Dykes zuzugehen und den Austausch zu suchen. Das kann einem viel Halt geben. Einen Halt, den ich vor zehn oder 15 Jahren noch nicht hatte.“
Du willst mehr über das Thema erfahren?
Noch mehr Einblicke geben Katrin Chodor und Chris Selle in Folge 58 unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Reinhören lohnt sich!
Neue Folgen von „Echt & Unzensiert“ gibt es alle zwei Wochen immer freitags auf editionf.com oder bei Spotify, Apple Podcasts & Co!
Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!
Weitere spannende Themen bei „Echt & Unzensiert“:
Schönheitsideale und ihre Folgen: Dein Weg zu mehr Körperakzeptanz mit Dr. Julia Tanck
Kann man People Pleasern vertrauen? – Psychologin Stefanie Stahl im Interview
Wie genderlose Mode Grenzen sprengt: Designer Jonas Stickann im Interview