„Über den Hass hinweg“ ist ein bewegender Briefwechsel zwischen der in Tel Aviv lebenden Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru und dem iranischen Journalisten und Fotografen Sohrab Shahname, der Katharina im September 2022 seine erste Nachricht auf Instagram schrieb. Nach dem 7. Oktober intensivierte sich der Kontakt zwischen der Deutsch-Israelin Katharina und dem Iraner Sohrab, der eine ungewöhnliche, aber dringend nötige Verbindung zwischen zwei verfeindeten Nationen sichtbar macht.
Das kürzlich im Blessing Verlag erschienene Buch erzählt von persönlicher Annäherung, gegenseitigem Respekt und der Hoffnung, dass Dialog auch dort möglich ist, wo politisch längst die Fronten verhärtet scheinen. Wir haben mit der Autorin darüber gesprochen, wie sie das Leben in Israel erlebt, welche scheinbar unmögliche Ambiguitätstoleranz sie täglich aufbringen muss, wie man sich innerlich vor einer rechtsnationalen Regierung schützt – und was ihr trotz allem Zuversicht gibt. Was bleibt, ist eine leise, aber reale Chance: dass jenseits von Propaganda und Feindbildern die menschliche Verbindung weiterlebt.
Disclaimer: Wir haben dieses Gespräch wenige Tage vor Ausbruch des aktuellen Kriegs zwischen Israel und Iran geführt.
Liebe Katharina, wenn man an Israel und Iran denkt, denkt man oft zuerst an Feindschaft und politische Spannungen. Doch was verbindet die Menschen beider Länder auf einer tieferen, menschlichen Ebene?
„Es überrascht mich immer wieder, wie viele Menschen, die sich gut informiert fühlen, gar nicht wissen, dass Israel und Iran auch nach der Staatsgründung Israels enge und stabile Beziehungen pflegten – geprägt von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung. Heute scheint davon kaum etwas übrig: Was die beiden Länder aktuell am stärksten verbindet, ist eine tiefe, kaum nachvollziehbare Feindschaft. Dabei gibt es nicht einmal eine gemeinsame Grenze. Aus israelischer Perspektive stellt sich daher oft die Frage: Woher kommt dieser Hass?
Dass der Iran als Hauptfinanzierer von Gruppen wie der Hisbollah und der Hamas gilt, ist kein Geheimnis. Auf diese Weise führt das Regime seit Langem einen indirekten Krieg gegen Israel. Wer sich nüchtern mit den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auseinandersetzt, sieht vor allem eines: den Hass, der inzwischen beinahe automatisch mit den Namen Teheran und Tel Aviv verbunden wird. Doch genau dieses Narrativ wollen wir mit unserem Buch durchbrechen. Ich wünsche mir, dass die Leser*innen spüren, wie viel mich als Israelin mit meinem iranischen Briefpartner verbindet. Es ist weit mehr, als uns die politische Rhetorik glauben lässt – und es ist ein Anfang, um alte Feindbilder neu zu hinterfragen.“
Kannst du das an konkreten Erfahrungen verständlich machen?
„Was Sohrab und mich persönlich verbindet, ist vor allem die gemeinsame Liebe zu Geschichten – und zur Geschichte. Wir sind beide Geschichtenerzähler, auf unsere Weise. Uns interessieren die Menschen um uns herum, die Städte, in denen wir leben, die Vergangenheit, die uns geprägt hat. Es geht uns beiden darum zu verstehen, wie das, was war, unsere Gegenwart formt – und wer wir dadurch geworden sind. Für mich hat das Thema Freiheit durch meine Herkunft aus der DDR immer schon eine Rolle gespielt. Aber in den letzten eineinhalb Jahren hat dieser Begriff noch einmal eine viel tiefere Bedeutung für mich bekommen. Für Sohrab ist Freiheit ein noch schmerzhafteres Thema, weil sie für ihn konkret nicht existiert. Er lebt in einem Überwachungsstaat, in dem jedes gesprochene Wort Konsequenzen haben kann. Auch das kenne ich aus Erzählungen über die DDR – diesen Zustand, immer auf der Hut sein zu müssen, nie ganz frei zu sein.
So haben wir plötzlich viele unerwartete Gemeinsamkeiten entdeckt. Und auch unsere Texte kreisen immer wieder um die Frage: Was bedeutet Freiheit? Wie bewahrt man sie? Was ist man bereit dafür zu riskieren? Und dann gibt es da noch etwas: den gemeinsamen Widerstand gegen Fanatismus. Beide unsere Länder – Israel und Iran – kämpfen auf unterschiedliche Weise mit extremen politischen und religiösen Strömungen. Auch das hat uns verbunden: der Wunsch, diesen Stimmen nicht das Feld zu überlassen.“
Du bist Autorin, dein Schreibpartner Sohrab ist Fotograf: Welche Bilder über Freundschaft oder über Teheran hat er in dir erweckt?
„Als wir angefangen haben, uns Briefe zu schreiben, habe ich ihm als Einstiegsfrage gestellt: Was sind deine drei Lieblingsorte in Teheran? Und daraufhin hat er mir keine klassische Antwort gegeben, sondern drei kleine Geschichten geschickt, wie Kurzgeschichten. Ich hätte die Orte aus seinen Erzählungen nie einfach so gegoogelt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, sie zu suchen, wenn mir nicht jemand davon erzählt hätte – was dort mal war, wie es sich anfühlt, heute dort entlangzulaufen. Einer seiner Lieblingsorte war zum Beispiel ein Markt, zu dem er gerne geht, weil er für ihn so etwas wie die ‚Straße des Lebens‘ ist – ein Ort, an dem sich alles verbindet. Und ich dachte sofort: Ja, genauso fühle ich mich, wenn ich durch den ‚Shuk HaCarmel‘ (Anm. d. Red. Carmel-Markt) in Tel Aviv gehe.
Das war für mich ein Schlüsselmoment: Diese Parallelen, dieses gleichzeitige Staunen über das Fremde und das Vertraute. Zum Beispiel ist er inzwischen fasziniert von den U-Bahn-Linien in Teheran, kennt die Namen der Linien, weiß, wie sie verlaufen – ein bisschen wie ein kleiner Verkehrs-Nerd. Und umgekehrt hat er mich gleich am Anfang gefragt, wie viele U-Bahn-Linien es bei uns gibt.
Es war interessant zu merken, wie sehr sich die Politik unserer Länder mit dem jeweils anderen Land beschäftigt – fast obsessiv – und wie wenig wir als Menschen dennoch übereinander wissen. Er hatte kein Bild davon, wie Tel Aviv wirklich ist. Dass man dort mit dem Roller, dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist. Und ich wusste genauso wenig über seinen Alltag. Ich glaube, das war das wirklich Bewegende an unserem Austausch: dass wir uns gegenseitig in unsere Welten hineingeholt haben.“
Hat Sohrab durch den Austausch mit dir Ergänzungen für seine Sprache gefunden?
„Ich habe dazu das perfekte Beispiel aus unseren Briefen. Ganz am Anfang, als wir gerade begonnen hatten zu schreiben, habe ich ihm irgendwann geschrieben: ‚Danke für deinen Mut, dass du diesen Austausch mit mir führst.‘ Und was ich für eine nette, anerkennende Geste hielt, hatte bei ihm eine ganz andere Wirkung: Der arme Kerl in Teheran hat daraufhin einen halben Tag mit einer Panikattacke verbracht. Das Wort ‚Mut‘ hat ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er hat mir dann zurückgeschrieben: ‚Ich mag dieses Wort nicht. Bitte sag das nicht mehr‘. Ich war völlig überrumpelt. Ich dachte: Was habe ich denn jetzt gesagt? Für mich war es ein Zeichen von Respekt, aber für ihn war es bedrohlich. Und natürlich wurde mir in dem Moment schlagartig bewusst: So sehr wir auch Gemeinsamkeiten haben, ich lebe in einem freien Land – er nicht. Ich werde nicht mit der Todesstrafe bedroht, weil ich ihm schreibe – er schon. Ich kann das nachvollziehen, aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt wirklich verstehen.
‚Mut‘ ist für ihn gleichbedeutend mit Gefahr. Es hat alles in ihm ausgelöst – Angst, Druck, Unruhe. Er sagte: ‚Das ist Hölle, Hölle, Hölle – bitte sag das nie wieder.’ Und das hat mich tief berührt. Denn mir war vorher gar nicht klar, wie groß der Unterschied zwischen unseren beiden Realitäten in diesem einen Wort stecken kann. Und dann – am Ende des Buchs – passiert etwas Unglaubliches. Er verlässt tatsächlich den Iran, nur mit einem Rucksack, steigt in einen Bus nach Armenien, Richtung Jerewan. Heute bezeichnet er sich selbst als mutig. Fast wie ein Orden, den er sich jetzt stolz anheftet. Wenn wir sprechen, sagt er manchmal lachend: ‚Ich bin doch jetzt mutig, oder?‚
Das ist für mich wahnsinnig bewegend. Ich hatte dieses Wort damals einfach so hingeschrieben – fast beiläufig. Aber für ihn war es der Anfang einer großen inneren Entwicklung. Er wurde so lange nicht als jemand gesehen, der sich etwas traut. Dabei ist er ein unglaublich freier Geist – was umso bemerkenswerter ist, wenn man bedenkt, woher er kommt. Aus einem System, das enge Denkmuster vorgibt. Für ihn bedeutete Mut ursprünglich etwas anderes: das Risiko, vom Regime verfolgt oder sogar ermordet zu werden. Das war nie sein Ziel – er wollte einfach leben, schreiben, denken. Und ja, zwischendurch war er auch kurz davor, alles hinzuschmeißen. Es gibt Stellen im Buch, an denen er sagt: ‚Ich will das alles nicht. Ich will das Buch nicht machen. Es ist das Risiko nicht wert – das Geld, die Anerkennung, nichts davon.‘ Und trotzdem hat er es getan. Ich glaube, genau das ist am Ende wahre Stärke.“
Gerade im Ausland scheint das Interesse an der Spaltung zwischen Israelis und Iraner*innen oft größer zu sein als der Wunsch nach Verständigung – wie erklärst du dir diese Dynamik?
„Ich glaube, ein Teil der Erklärung liegt darin, dass negative Emotionen – Wut, Hass, Angst – bei Menschen oft viel schneller eine Reaktion auslösen als Liebe oder Mitgefühl. Die Zündschnur ist da einfach kürzer. Artikel, in denen Hass geschürt wird, werden häufiger gelesen, geteilt, kommentiert. Viel mehr als solche, in denen es um Verständigung oder Menschlichkeit geht. Dafür gibt es sicher psychologische Gründe, aber ich sehe das nicht nur auf das Verhältnis zwischen Israel und Iran bezogen. Wir erleben das gerade überall: Wer am lautesten schreit, wer am hasserfülltesten polarisiert, bekommt die meiste Aufmerksamkeit – und oft auch die meisten Follower*innen.
Das ist furchtbar, aber es scheint ein zutiefst menschlicher Reflex zu sein. Deshalb ist es so wichtig, sich bewusst dagegenzustellen. Für mich ist das auch eine der zentralen Botschaften unseres Buchs: Dass Verständigung möglich ist. Und dass diese Idee nicht nur für Israel und Iran gilt, sondern für jeden Konflikt, für jede Form der Spaltung. Sobald wir nur noch in Kategorien denken, wie ‚dieser Mensch ist so‘ oder ‚jene Seite ist schuld‘, verlieren wir jede Chance auf wirkliche Verbindung.“
Vielleicht ist die Beziehung, oder selbst die Idee einer echten Beziehung dieser beiden Länder einfach zu toxisch?
„Was wäre dann die Alternative? Dass sich jedes Land unter eine Glasglocke zurückzieht, niemand mehr rein oder raus darf, wir uns abschotten und nur noch Raketen austauschen? Das kann doch keine Lösung sein. Ich erinnere mich, dass ich selbst diesen Gedanken mal ernsthaft für Israel in Erwägung gezogen habe – einfach zumachen, abschließen, sich schützen. Aber es ist keine tragfähige Idee. Der einzige Weg ist der schwierige: reden, hinsehen, zuhören. Auch mir fällt es schwer, auszuhalten, dass Dinge nicht einfach sind. Dass es keine klare Wahrheit gibt.
Vielleicht fällt es mir etwas leichter, damit umzugehen, weil ich mit Meinungsverschiedenheiten aufgewachsen bin. Eine der wichtigsten Personen in meinem Leben hatte immer eine ganz andere Haltung als ich. Und dieses Spannungsfeld, dieses ständige Aushandeln, Aushalten, Übersetzen, hat mich geprägt. Ich habe früh gelernt, dass Menschen mit unterschiedlichen Wahrheiten leben können, ohne sich gleich zu verurteilen. Insofern ist das auch ein Teil meiner Lebensgeschichte.
„Wir könnten uns informieren, könnten unsere Freiheit nutzen – aber viele entscheiden sich für einfache Antworten und schnelle Urteile.“
Als jemand, der nicht als Jüdin geboren wurde, aber heute als Jüdin lebt, bin ich ohnehin oft in Zwischenräumen unterwegs. Israel ist sehr direkt, oft rau, aber auch sehr diskussionsfreudig. Hier wird nicht viel Rücksicht auf politische Korrektheit genommen. Was es manchmal hart macht, aber auch ehrlich. Und dann habe ich auf der anderen Seite Sohrab, der in einer echten Diktatur aufgewachsen ist – in einem System, in dem es gefährlich ist, Fragen zu stellen oder eine eigene Meinung zu haben.
Er hat mir erzählt, dass sie in der Schule jeden Morgen anti-israelische Parolen rufen mussten und dass er nie mitgerufen hat. Er hat nur die Lippen bewegt. Das fand ich bemerkenswert. Er hat damals schon gespürt: Das ist nicht meine Geschichte. Ich will damit nichts zu tun haben. Und das in einem Umfeld, in dem Abweichung lebensgefährlich sein kann. Umso absurder erscheint es mir, dass so viele Menschen im Westen, in demokratischen Gesellschaften, sich heute nicht mehr bemühen, Differenz auszuhalten oder sich wirklich mit Hintergründen zu beschäftigen. Es ist paradox: Wir könnten uns informieren, könnten unsere Freiheit nutzen – aber viele entscheiden sich für einfache Antworten und schnelle Urteile.“
In einem der letzten Briefe im Buch, geschrieben im Sommer 2024, spricht Sohrab von tief verwurzelten, patriarchalen Traditionen im Iran – etwa dem Sprichwort: „Traue selbst Freunden niemals.“ Wie lange hat es gedauert, bis zwischen euch echtes Vertrauen entstehen konnte?
„Ich habe Freundinnen hier in Israel von unserem Projekt erzählt – und besonders eine war sehr skeptisch. Sie ist grundsätzlich eher vorsichtig, vielleicht sogar etwas ängstlich im Leben unterwegs. Ihre erste Reaktion war: ‚Was, der könnte doch ein Spion sein!‘ Und natürlich klingt das erst mal paranoid, aber ein bisschen gesunder Menschenverstand und Bauchgefühl sind ja nie verkehrt, vor allem bei so einem sensiblen Projekt. Man fragt sich: Kann ich dieser Person wirklich vertrauen?
Und dann kam tatsächlich diese Phase, in der in Israel mehrere israelische – zum Teil jüdische – Männer als Spione für den Iran enttarnt wurden. Das hat mich kurz verunsichert. Ich habe mir absolut nichts zuschulden kommen lassen, aber in so einer Atmosphäre weiß man nie, was eine politische Dynamik auslösen kann. Trotzdem war mir klar: Solange er mich nicht nach Informationen fragt, bei denen alle Alarmglocken schrillen, sehe ich keinen Grund, ihm nicht zu vertrauen.
Natürlich hatte auch ich manchmal Zweifel. Nicht so sehr, ob er mir schaden will, sondern eher: Ist er wirklich der, für den er sich ausgibt? Lebt er tatsächlich im Iran? Man kann ihn zwar googeln, aber es kommt nicht viel dabei heraus. Ich fragte mich, wie er wirklich aussieht, wie sein Alltag aussieht. Aber er hat mir dann öfter Selfies geschickt – mit klar erkennbarem Hintergrund, und ich dachte: Okay, das ist Teheran. Das ist real. Das ist nicht Paris mit Photoshop. Da war ich dann irgendwann sicher: Er ist echt.“
Und Sohrab? Vertraut er dir?
„Ich glaube, dass das Thema für ihn noch viel zentraler war – fast existenziell. Er hatte immer wieder Angst, dass ich ihm nicht glaube, dass ich ihm misstraue, dass ich nicht wirklich mit ihm befreundet sein will. Und als er irgendwann sagte, er könne das Buchprojekt nicht mehr mittragen, hat er gleich dazu geschrieben: ‚Ich verstehe, wenn du jetzt nicht mehr mit mir befreundet sein willst.‘ Und da habe ich ihm geantwortet: ‚Weißt du was, ja – es nervt mich wirklich, dass du das Buchprojekt cancelst. Aber das hat mit unserer Freundschaft nichts zu tun.‘ Das war für ihn kaum verständlich.
In einem repressiven System aufzuwachsen, in einer autoritären, religiös geprägten Diktatur, das hinterlässt Spuren. Es macht etwas mit dem Vertrauen in andere und in die Welt. Wenn ich das mit meiner eigenen Lebensrealität vergleiche, dann komme ich wirklich aus dem Paradies. Es war für mich immer wieder eine Erinnerung daran, wie selbstverständlich wir in Freiheit denken, sprechen, zweifeln dürfen – und wie sehr das anderswo ein täglicher Kraftakt ist.“
Der Einfluss der rechtsnationalen Regierung Israels ist auch im israelischen Alltag spürbar. Was machst du, um offen für Begegnungen wie jene mit Sohrab zu bleiben. Was tust du, um vor dem Weltbild Netanjahus nicht „einzuknicken“?
„Das ist eine Frage, die ich mir tatsächlich selbst oft stelle – ob ich unter all dem Druck überhaupt noch klar erkenne, was ich denke und fühle. Der Einfluss der aktuellen Regierung ist massiv spürbar, aber wenn Raketen fliegen, wie zuletzt vom Libanon, und ständig von Langstreckenraketen und Bunkern die Rede ist, dann gerät man automatisch in diesen Ausnahmezustand. Ich habe das in Gesprächen mit Leuten gehört – Bürgermeister, Sicherheitsexperten. Und natürlich bin ich auch nur ein Mensch. In solchen Momenten ist der erste Reflex: Panik.
Das gilt auch für die Bedrohung durch den Iran. Teilweise ist die Angst berechtigt, teilweise wird sie auch durch Ungewissheit geschürt. Aber man fragt sich schon, ob ein Land wie Israel, das so viel Erfahrung mit Sicherheitsfragen hat, nicht besser vorbereitet sein müsste. Der 7. Oktober hat alles verändert. Ich hatte mich vorher trotz allem sicher gefühlt – obwohl bei mir in der Nähe in den letzten zwei Jahren drei Terroranschläge passiert sind. Aber dieser Tag hat alles verschoben. Plötzlich dachte man: Jetzt ist wirklich alles möglich. Die Normalität ist zerbrochen.
„Wir werden weiter angegriffen – aus dem Jemen, manchmal drei, vier Nächte hintereinander. Und wer Kinder hat, weiß, was es bedeutet, nachts plötzlich aufzuwachen, sie in den Schutzraum zu bringen, weiterzuleben mit dieser ständigen Anspannung.“
Was mir geholfen hat, ist etwas, das banal klingt: keine Nachrichten mehr schauen. Zumindest nicht ständig. Ich habe gemerkt, wie sehr ich durch permanente Alarmmeldungen innerlich aus dem Gleichgewicht gerate. Es gab eine Freundin, die mir in so einem Panikmoment ihre Angst fast übergestülpt hat, und ich merkte: Das geht nicht. Ich muss rauszoomen, mir selbst Raum schaffen, mir überlegen – was ist Fakt, was ist Angst?
Ich habe dieser Regierung nie vertraut. Ich war bei den ersten Demonstrationen gegen die Justizreform auf der Straße. Ich habe gesehen, wie die Polizei Blendgranaten geworfen hat, wie Leute blutend abtransportiert wurden. Schon Monate vor dem 7. Oktober hatten wir ein Gewaltlevel in der Gesellschaft, das ich in Israel noch nie erlebt habe. Ich mache mir keine Illusionen darüber, wofür diese Regierung steht. Ich halte sie für gefährlich – für die Demokratie und für das Land. Und ich verstehe ehrlich gesagt nicht mehr, was gerade in Gaza passiert. Was ist das Ziel? Gibt es überhaupt noch eine Strategie? Ich habe das Gefühl, es wird uns nicht klar gesagt – oder schlimmer: Die wissen es selbst nicht.
Das alles ist eine enorme mentale Herausforderung. Jeden Tag. Wir werden weiter angegriffen – aus dem Jemen, manchmal drei, vier Nächte hintereinander. Und wer Kinder hat, weiß, was es bedeutet, nachts plötzlich aufzuwachen, sie in den Schutzraum zu bringen, weiterzuleben mit dieser ständigen Anspannung. Ich konzentriere mich auf meine kleine Insel: meine Kinder, meine Beziehung, meine Freunde. Ich bin auch auf Instagram wieder mehr in meiner Bubble. Ich poste Blumen, Meer, Tel Aviv bei Sonnenuntergang – weil ich das Krieg-Krieg-Krieg einfach nicht mehr aushalte. Das ist ein Stück Selbstschutz. Ich weiß, dass das ein Privileg ist. Ich sitze nicht in Gaza. Ich habe keinen Mann im Reservedienst, kein Familienmitglied unter der Erde in Geiselhaft. Das ist mein Glück, mein Schutzraum. Aber wenn ich in Israel eines gelernt habe, dann: Resilienz. Resilienz. Resilienz. Leben. Leben. Leben. Immer wieder. Gegen alle Widerstände.“
In einer Zeit, in der Meinungen oft verhärtet sind und gesellschaftliche Lagerbildung zunimmt, können persönliche Begegnungen Brücken bauen. Aber wie gelingt es im Alltag, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen und sich nicht von Ablehnung oder Feindbildern leiten zu lassen?
„Ich kann mir nicht leisten, das ganze Elend in seiner Gesamtheit zu tragen. Ich habe zwei Kinder, unser Leben muss weitergehen. Und genau darum bemühe ich mich – trotz all des Wahnsinns, der hier passiert. Im Namen unserer Regierung, aber auch durch unsere Feinde. Natürlich kritisiere ich vieles, aber ich versuche trotzdem, handlungsfähig zu bleiben.
Zwischenmenschliche Begegnung ist vielleicht das wirksamste Gegenmittel gegen Hass. Aber gerade in der Diaspora, wo man ständig mit Schlagzeilen, Parolen und Erwartungshaltungen konfrontiert ist – auf welcher Seite man zu stehen hat, was man fühlen und sagen soll – wird es schwer, bei sich zu bleiben. Und ich glaube, von Juden in der Diaspora, aber auch von Israelis, wird viel verlangt: das eigene Leid zu verarbeiten und gleichzeitig empathisch das Leid der anderen anzuerkennen. Das ist der Idealzustand, ja. Aber wenn du gerade selbst im Ausnahmezustand bist, im Flucht- oder Überlebensmodus, ist es kaum möglich, innezuhalten und zu fragen: Wie geht es eigentlich der anderen Seite? Das ist menschlich sehr herausfordernd.
„Mein erstes Ziel ist nicht, die Welt zu retten, sondern sie zu erzählen.“
Ich habe zum Beispiel selbst darüber nachgedacht, wie es wäre, ein solches Buch mit einem Palästinenser zu schreiben. Aber ich glaube, man muss auch akzeptieren, wenn das in bestimmten Momenten einfach nicht geht. Und ehrlich gesagt: Ich habe ja auch nicht aktiv nach einem iranischen Briefpartner gesucht. Das war kein gezielter politischer Akt. Ich bin keine Aktivistin. Ich bin Autorin. Ich erzähle Geschichten. Und wenn diese Geschichten dann bei jemandem etwas auslösen – toll. Aber mein erstes Ziel ist nicht, die Welt zu retten, sondern sie zu erzählen.
Dass es Sohrab wurde, war zum Teil Zufall, zum Teil Fügung. Aber als diese Begegnung möglich war, war es für mich selbstverständlich, sie ernst zu nehmen. Und ja, ich habe sehr darum gekämpft, dass dieses Projekt nicht scheitert – obwohl er mehrfach kurz davor war, es abzubrechen. Und das war für mich nicht leicht: Wir leben seit anderthalb Jahren in einem Ausnahmezustand, in einem Krieg, ich habe genug um die Ohren, und dann soll ich neben allem noch meinen Briefpartner auffangen, der regelmäßig Panikattacken hat, weil er zurecht Angst um sein Leben hat? Das hätte ich mir nicht ausgesucht. Aber ich konnte ihn auch nicht einfach fallen lassen. Und ich habe gespürt: Dieses Projekt steht für etwas Größeres.
Nach all den Einblicken in einen Großteil deiner Identitäten – Autorin, Geschichtenerzählerin und Kind der DDR: Welche Botschaft eures gemeinsamen Buches möchtest du abschließend als Jüdin mit deutschen Wurzeln, die in Israel lebt, vermitteln?
„Natürlich kann man beobachten, dass Hass oft mit bestimmten Religionen, Kulturen oder politischen Strukturen korreliert. Aber ich sehe mich selbst ja auch als Teil einer Religion – des Judentums – das im Moment von vielen instrumentalisiert wird, um Hass zu rechtfertigen. Und genau das ist nicht mein Judentum. Mein Judentum steht für Verbindung, für Dialog, für Verantwortung, nicht für Spaltung.
Für mich geht es im Kern um Haltung. Um das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Um eine Form von Liebe – nicht im romantischen, deutschen Sinne, wo ‚Ich liebe dich‘ eine riesige Sache ist. Sondern in einem weiteren, offeneren Sinne: als Haltung der Zugewandtheit. Der Bereitschaft, sich nicht zu verschließen. Auch nicht gegenüber dem, was einem fremd erscheint. Auch nicht gegenüber jemandem aus einem ‚feindlichen‘ Land.
Und nein, ich will nicht idealisieren. Israel ist nicht ‚so toll‘. Genauso wenig wie Deutschland ‚so toll‘ ist. Aber das ist auch gar nicht die Ebene, auf der ich arbeite oder erzählen will. Es geht nicht um Nationalmythen oder um Schuldzuschreibungen. Es geht um Begegnung. Um Empathie. Und darum, sich der Komplexität nicht zu verschließen.“
Infokasten: Die jüdisch-iranische Verbindung
Die Geschichte der Jüdinnen und Juden im Iran reicht über 2.500 Jahre zurück – sie ist eine der ältesten und reichsten der jüdischen Diaspora. Doch mit der Gründung des Staates Israel 1948 begannen viele von ihnen, das Land zu verlassen. In mehreren Wellen, vor allem nach 1948 und erneut nach der islamischen Revolution 1979, flohen Zehntausende nach Israel – aus Angst vor wachsendem Antisemitismus, politischem Druck und dem Gefühl, in ihrer Heimat nicht mehr sicher zu sein.
Dabei waren Iran und Israel einst eng miteinander verbunden: Bis zur Revolution 1979 pflegten beide Länder enge diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen. Erst mit der Machtübernahme durch Ayatollah Khomeini änderte sich alles – Israel wurde zum Feind erklärt, der Austausch brach abrupt ab. Trotz dieser politischen Eiszeit leben heute rund 250.000 Menschen mit iranischen Wurzeln in Israel. Sie tragen ihre Geschichte, ihre Kultur und ihre Erinnerungen weiter – als Brücke zwischen zwei Welten, die einst näher beieinander lagen, als es heute scheint.
Und auch wenn die Regime beider Länder heute mit Hassbotschaften gegeneinander arbeiten, gilt das nicht automatisch für ihre Völker. Viele Iraner*innen – besonders aus der Diaspora, aber auch im Land selbst – lehnen die offizielle Haltung gegenüber Israel ab. Ebenso gibt es in Israel Stimmen, die zwischen Regierung und Menschen im Iran unterscheiden.