Protest in Solidarität mit den Menschen im Iran, die gegen das Mullah-Regime auf die Straße gehen. Foto: David Vujanovic | Getty Images

„Jin, Jiyan, Azadî – Das Regime wird fallen, es muss fallen“

Vor einem Jahr starb Jina Mahsa Amini. Ihr Tod löste weltweit Entsetzen über das iranische Regime aus – und führte zu riesigen Protestwellen. Doch was ist seither geschehen und wie ist die Situation in dem Land? Eine Analyse.

Zwei Tage vor dem Jahrestag des Todes von Jina Mahsa Amini erschießen Regimekräfte Hamed Ghaberi. Weil er dazu aufgerufen hatte, am Jahrestag an Protesten teilzunehmen. In einem freien Land ist das politisches Engagement; im Iran ein Todesurteil. Hamed Ghaberi war Kurde, so wie Jina Amini. Nichts soll ein Jahr nach dem Tod von Jina Amini daran erinnern, dass in der Islamischen Republik Iran nichts ist wie zuvor – so will es das Regime.

Am 13. September 2022 war die 22-jährige Jina Mahsa Amini in Teheran mit ihrem Bruder unterwegs. Jina stammte aus Kurdistan. Jina war ihr echter, kurdischer Name; Mahsa der vom nationalistischen Regime aufgezwungene Name. Die sogenannte Sittenpolizei – bewaffnete Regierungskräfte bestehend aus Männern und Frauen, die im ganzen Land die Kleidervorschriften durchsetzen – hielt Jina Amini an. Sie soll ihren Hijab nicht „richtig“ getragen haben. Die Polizei nahm sie mit. Dann wurde die junge Studentin von den Moralwächtern so stark geschlagen und misshandelt, dass sie auf der Polizeistation zusammenbrach. Jina Amini fiel ins Koma und starb drei Tage später.

Das Bild von Jina Mahsa Amini ging nach ihrem Tod um die Welt. Foto: Safin Hamid | Getty Images

Traurige Berühmtheit 

Ihre Familie war zu diesem Zeitpunkt in Teheran. Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, das traurige Berühmtheit erlangte: Es zeigt die Mutter und den Vater von Jina Amini; sie stehen im Flur des Krankenhauses, in dem ihre Tochter lag. Sie umarmen einander, und man sieht den tiefen Schmerz von Eltern, die ihr Kind verloren haben. Aufgenommen wurde das Foto von der Journalistin Niloufar Hamedi. Wenige Tage später wurde Niloufar festgenommen und angeklagt wegen Spionage. Zum Zeitpunkt des Jahrestags wartet sie noch auf ihr „Urteil“.

Von Urteilen im juristischen Sinne kann im Iran allerdings keine Rede sein. Urteile werden aus den Reihen der Revolutionsgarden – eine ideologisch-militärische Truppe, die die größte Macht im Staat ist – bestimmt. Sogenannte Richter, die keine juristische Ausbildung haben, sprechen diese vorgefertigten Strafen dann aus. Seit dem Tod von Jina Amini sind besonders viele solcher Urteile gefällt worden. In nur einem Jahr wurden mindestens 20.000 Menschen festgenommen – weil sie an Protesten teilgenommen haben. Proteste, die durch die Ermordung von Jina Amini ausgelöst wurden.

Jin, Jiyan, Azadî

Die Proteste begannen am 17. September, dem Tag ihrer Beerdigung, in ihrer Heimatstadt Saqqez. In Kurdistan gibt es eine lange Tradition des zivilen Widerstands, der sich an diesem Tag zeigte. Frauen zogen kollektiv ihre Kopftücher ab und schwenkten sie in der Luft. Dabei riefen sie: Jin, Jiyan, Azadî. Frau, Leben, Freiheit. Das Kopftuch, im Iran das Symbol für die systematische, staatliche Unterdrückung von Frauen, wurde zum Symbol der Befreiung.

Die Menschen im Rest des Landes folgten dem Beispiel der Kurd*innen. In allen Regionen brachen Proteste aus. Die sozialen Medien waren geflutet von Videos und Bildern von Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen, die tanzen, die singen, die rebellieren. Männer, Frauen, die LGBTIQ-Community, alle protestierten gemeinsam. Sie riefen Parolen wie „Frau, Leben, Freiheit“ und „Kurdistan – Auge und Licht des Iran“. Die jahrzehntelange Strategie des Regimes, die Menschen zu spalten, die Geschlechter, die Ethnien, hat nicht gefruchtet.

Schülerinnen ließen sich ohne Kopftücher fotografieren, wie sie Porträts der Revolutionsführer den Mittelfinger zeigen, Studierende rissen die Geschlechter-Trennwände in den Universitätsmensen herunter. Das Bild einer Bevölkerung, die sich der religiös-ideologischen Machtriege beugt, es wurde zerstört. Das Fundament der Islamischen Republik wurde eingerissen: Die Unterdrückung der Frauen und die rassistische Unterdrückung der ethnischen Minderheiten.

Die Proteste endeten, der Widerstand ging weiter 

Doch das Regime schlug mit aller Härte zurück. In diesem ersten Jahr der Frau, Leben, Freiheit-Protestbewegung hat es alle Instrumente der Gewalt genutzt, die es hat. Sexualisierte Gewalt in den Haftanstalten, an Frauen, an Männern, an LGBTIQ-Personen und an Kindern; schwerste Folterungen; Zwangsgeständnisse; Sippenhaft; Hinrichtungen; Ermordungen. Mindestens 520 Menschen sind in Zusammenhang mit den Protesten ermordet worden. Sieben Protestierende wurden hingerichtet. Tausende inhaftiert, gefoltert und vergewaltigt. Dutzende von ihnen starben im Frühjahr in einer Hinrichtungswelle, die allein dem Zweck dienen sollte, Angst zu verbreiten, um die Menschen von jeglichem Widerstand abzubringen.

Die täglichen Proteste endeten im Dezember nach den ersten Hinrichtungen. Doch der Widerstand ging weiter. Angeführt von Frauen. Sie spielen in diesem fortwährenden Protest eine wichtige Rolle. Wer dieser Tage mit Menschen im Iran spricht, hört, dass die Position der Frau sich in der Gesellschaft verändert habe. Frauen haben mehr Selbstbewusstsein, sie fühlen sich respektierter. Sie fühlen sich stark. Sie trotzen weiter dem Verschleierungszwang, egal, wie sehr das Regime droht und bestraft.

Kraft aus Zusammenhalt

Seit Monaten versuchen die Machthaber, die Frauen wieder unter das Kopftuch zu bringen. Hohe Geldstrafen, Gefängnisstrafen, Ausreisesperren: Nichts hat gewirkt. Hunderte Geschäfte und Restaurants im ganzen Land wurden geschlossen, weil dort Frauen ohne Hijab bedient wurden. Autos wurden einkassiert, wenn Frauen ohne Kopftuch darin saßen; Kameras und Gesichtserkennung, nicht ließ das Regime unversucht. Ein Jahr später gehören Frauen ohne Kopftuch – und Männer, die Shorts tragen, in Solidarität mit den Frauen, denn auch das ist verboten – zum normalen Stadtbild.

Das Land ist in diesem einen Jahr seit Jina Aminis Tod enger zusammengerückt. „Unser Herz ist eins geworden“, so drückt es eine 18-jährige Protestierende aus Teheran aus. Die Menschen wissen, dass ihre einzige Kraft aus ihrem Zusammenhalt kommt. Denn das Gewaltmonopol, alle Macht, liegt beim Regime. Nach diesem Jahr liegen Resignation und Kraft eng beieinander. Viele Menschen sind müde und trotzdem wollen sie nicht aufhören zu kämpfen. Sie fragen sich, wofür so viele Jugendliche und Kinder, die bei den Protesten ganz vorne dabei waren, gestorben sind, wenn sie jetzt einfach aufgeben.

Überall auf der Welt solidarisierten sich Menschen mit den Protestierenden im Iran. Foto: Spencer Platt | Getty Images

Das Regime wird fallen 

Das iranische Regime hat jeglichen Rückhalt, alle Legitimation bei den Menschen verloren. Sie werden nicht vergessen, was sie in diesem Jahr gesehen haben. Die Angehörigen der Ermordeten, Schwestern, Brüder, Mütter, Väter, sind eine ständige Erinnerung an die Verbrechen der Machthaber. So wie die Familie von Jina Amini. Ihr Onkel wurde eine Woche vor dem Jahrestag ihres Todes festgenommen, ihr Vater vom Geheimdienst verhört. Das Regime will verhindern, dass sie eine Trauerfeier für Jina abhalten.

Seit Wochen wird zu erneuten Protesten aufgerufen. Das Regime ist vorbereitet. Die Gewalt auf den Straßen und in den Haftanstalten ist noch größer geworden. Die Sittenpolizei, die nach dem Tod von Jina Amini für einige Monate von den Straßen abgezogen war, begeht weiter täglich Menschenrechtsverletzungen. Das Regime will mit aller Macht verhindern, dass der Straßenprotest wiederkehrt. Also tötet es weiter. Hamed Bagheri wird nicht der letzte Name bleiben. Doch mit jeder*m Toten, mit jedem Schmerz und mit all dem Leid wird der Widerstand größer.

Dieses Regime wird nicht überleben. Es wird fallen. Es muss fallen. Irgendwann.

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Wenn ihr mehr über die Protestbewegung im Iran erfahren möchtet, empfehlen wir euch den Podcast „Das Iran Update“ von Gilda Sahebi, der Autorin dieses Artikels, und ihrer Co-Host Sahar Eslah.

Übrigens: Gilda Sahebi ist als Speakerin beim FEMALE FUTURE FORCE DAY am 21. Oktober in Berlin dabei. Dort spricht sie auf der Politikbühne u.a. mit Kristina Lunz über Feministische Außenpolitik. Hier findet ihr weitere Informationen zur Veranstaltung.

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