Gerade einmal vier Prozent der Gründer*innen im Bereich Fintech sind weiblich. Christine Kiefer ist eine von ihnen und beeindruckt vor allem mit Hartnäckigkeit und großen Ideen.
Vom Trading Floor an die Spitze eines Inkasso
Mit fünfzehn hat sie das erste Mal einen Computer auseinander geschraubt. Mit achtzehn wollte Christine Kiefer die beste Java-Programmiererin werden. Neun Jahre später erlebte sie als so genannter „Quant“ bei Goldman Sachs, wie nach der Lehman-Pleite auf dem Londoner Trading Floor die Welt fast stehen blieb. Heute will die gebürtige Saarländerin als Geschäftsführerin des Fintech-Unternehmens Pair Finance „die Welt ein bisschen besser“ machen. Wie bewegen sich Frauen in einer der hartnäckigsten Männerdomänen derart zielsicher nach oben? Und wenn sie es an die Spitze schaffen, was haben sie dann gelernt und was machen sie anders?
Ich treffe Christine Kiefer an einem sommerheißen Tag in einem jener Berliner Brutkästen, die derzeit die Finanzwelt aufmischen. Die hoch gewachsene blonde Frau kommt mir im ärmellosen plissierten Sommerkleid und in flachen goldenen Sandalen auf der ersten Etage des Grenanderhauses entgegen. Das nach Entwürfen des schwedischen Architekten Alfred Grenander im Jahr 1930 fertig gestellte rote Klinkergebäude mit den großzügigen Fensterfronten war früher Verwaltungssitz der Berliner Verkehrsbetriebe. Heute päppelt hier Jan Beckers Startup-Labor FinLeap seine „Babies“ auf: Ventures, die mit digitalen Lösungen auf der Schnittstelle zwischen Banken, Versicherungen, Geschäftskunden und Endverbrauchern für eine Mischung aus verhaltener Skepsis und Goldgräberstimmung sorgen.
Rund 400 Fintechs gibt es inzwischen in Deutschland. Bei aller Innovationskraft, eines haben die Revoluzzer mit den altvorderen Traditionshäusern gemein: Nach Frauen muss man suchen. An der Spitze kommen sie so gut wie gar nicht vor. Sind Gründerinnen laut Deutschem Startup-Monitor im gesamten Startup-Bereich ohnehin nur mit schüchternen 13 Prozent vertreten, beträgt ihr Anteil bei den Fintechs mit knapper Not vier Prozent. Das ist entweder nahe an „Vergiss es!“ oder aber: „Hey, ein Anfang!“ Christine Kiefer hat ihn gewagt.
Männer, die auf Screens starren
Die studierte Informatikerin und Betriebswirtin begrüßt mich freundlich und schlägt mir erst einmal einen Rundgang vor. Auf leisen Sohlen bewegen wir uns an mehreren Reihen zu rechteckigen Inseln zusammengerückter Schreibtische vorbei in die Tiefen des loftähnlichen Großraums. FinLeap ist aus Hitfox hervorgegangen, das zuvor mit erfolgreichen Gründungen in der Welt der digitalen Spiele von sich Reden gemacht hatte. Jetzt tüfteln hier unter hohen Decken rund 200 Programmierer, Softwareentwickler, Kommunikations- und Marketingexperten an Geschäftsmodellen, die das Bank- und Versicherungsgeschäft radikal verändern sollen. Männer, die auf Bildschirme starren! Nur eine Frau kann ich ausmachen, nicht minder fokussiert auf das Geschehen auf dem Rechner vor der Nase.
Christine Kiefer ist meinem Blick gefolgt. „Ich war immer die einzige Frau unter Männern“, sagt sie. „Als ich 2012 als Geschäftsführerin zu Billpay nach Berlin kam, gab es außer mir noch Miriam Wohlfarth, die Ratepay gegründet hat.“ Sie selbst sei gerade dabei, den ersten FinTech-Frauenstammtisch ins Leben zu rufen. „Zwei Handvoll Frauen bekomme ich inzwischen zusammen.“ Allmählich ändere sich etwas, auch durch die Netzwerkaktivitäten solcher Frauen wie Susanne Krehl, Marketingchefin von Barzahlen.de und Leiterin der Fintech-Gruppe beim Bundesverband Deutscher Startups, und Eva-Juliane Jerratsch. Die auf Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht spezialisierte Rechtsanwältin von P+P Pöllath + Partners hat vor zwei Jahren in Berlin das Venture Ladies Netzwerk ins Leben gerufen. Christine Kiefer lotst uns in einen der zum Gang hin verglasten Konferenzräume. Es hallt ein bisschen im „Raum Paris“. Etwa alle drei Minuten surrt dezent eine S-Bahn durch unser Gespräch.
Zuerst hat man sie immer für die Assistentin gehalten
Bevor sie nach Berlin zog, hat die heute 35-Jährige fünf Jahre als Quant bei Goldman Sachs am Finanzplatz London gearbeitet. „Quant“? Christine Kiefer lacht. „Sorry! Das steht im Investment Banking für Quantitative Analyst. Das sind die Leute, die Algorithmen für Derivate und Optionsscheine entwickeln. Preise, Risiken, Kursschwankungen – alle diese Informationen müssen in der Programmierung berücksichtigt werden, um in Sekundenbruchteilen über Kauf oder Verkauf entscheiden zu können.“ Pure Finanzmathematik, fügt sie hinzu. Aus ihrem Mund klingt das nach toller Sache.
Sicher, bei Goldman Sachs habe man sie immer zuerst für die Assistentin gehalten. Das sei aber auch von klarem Vorteil: „Du bleibst in jedem Fall stärker in Erinnerung, wenn sich dann überraschend herausstellt, dass Du programmieren kannst, etwas von Finanzmathematik verstehst und Teammitglied bist.“ Sie nimmt es sportlich. Gab es von Beginn an Rückenstärkung für die Karriere? Schon: „Meine Eltern, beide voll berufstätig als Mediziner, haben das immer unterstützt. Meine Mutter war von vornherein sehr IT-affin. Sie hat mich angesteckt. Wir waren zuhause online noch bevor es Internet Explorer gab.“
„Dann wollen wir doch mal sehen“
Mit 15 hat Christine Kiefer ihre ersten Webseiten programmiert, Informatik wollte sie unbedingt studieren, der Schwerpunkt künstliche Intelligenz hat sie früh gereizt. „Mädchen, willst Du Dir das wirklich antun?“ hatte sie damals ein älterer Ingenieur gefragt, bei Siemens in der Medizintechnik während ihres Praktikums nach dem Abitur. Männern würde von vornherein zugetraut, dass sie Technik beherrschten, so sein Argument, Frauen müssten immer wieder unter Beweis stellen, dass sie es können.
Im Hörsaal an der Universität des Saarlandes saß die Stipendiatin der Stiftung der Deutschen Wirtschaft oft als einzige Frau unter 400 angehenden Informatikern. „Das ist sicher nicht für jeden etwas. Aber solche Herausforderungen machen auch Spaß.“ Hat sie jemals ans Aufgeben gedacht? Sie überlegt kurz: „Nö!“ Hürden gab es trotz hochkarätiger Ausbildung viele. Als sie nach dem Studium ins Investmentbanking einsteigen wollte kassierte sie von den großen Banken in Deutschland einen Korb nach dem anderen. „Die machten mir freundlich klar, dass ich mit meinem Lebenslauf keine Chance gegen die Absolventen der privaten Wirtschaftsunis habe. Als Informatikerin solle ich mich lieber bei Google oder Microsoft bewerben. Und da dachte ich mir: Gut, ich studiere jetzt noch BWL und dann wollen wir doch mal sehen.“
„Die Anspannung war täglich zu spüren“
Das Doppelstudium hat ihr die Türen geöffnet, von Frankfurt bis nach London. Sie hat gern gearbeitet bei Goldman Sachs. Die Atmosphäre war sehr freundlich und kollegial, Diversity sehr viel selbstverständlicher als hierzulande, die Lernkurve steil. Es gibt freilich geruhsamere Orte als einen Trading Floor während der Lehman Pleite: „Das waren schlimme Zeiten“, räumt sie ein. „Die Anspannung war täglich zu spüren. Da hat man öfter gedacht, die Welt hört auf. Es war immer die Frage, ob man den Mietvertrag noch einmal um ein Jahr verlängert. Ich habe im Handel gearbeitet. Da sitzen 500 Leute, jeder vor sechs Monitoren. Wenn der Dax in wenigen Minuten um fünf Prozent fällt, dann wird es selbst in so einem Riesenraum mucksmäuschenstill. “
Die Welt hat nicht aufgehört. Den Mietvertrag hat sie noch drei Mal verlängert. Im Investmentbanking sind die Regeln heute ein bisschen schärfer, die Boni nicht mehr ganz so üppig. Trotzdem dürfte die Jahresvergütung so manches Investmentbankers noch das Grundgehalt des Chefs der Deutschen Bank übersteigen, wie der „Spiegel“ unlängst in einem Beitrag zu den Millionengehältern der Investmentbank vorrechnete. Christine Kiefer lockten andere Aussichten.
Inkasso mal anders
2012 zog es sie in die Berliner Startup-Szene. Als sie in die Geschäftsführung bei Bill Pay einstieg, gab es den Hype um das Thema Fintech noch nicht. Gemeinsam mit ihren Kollegen brachte sie den Online-Zahlungsanbieter in zwei Jahren auf Kurs und veräußerte das Startup erfolgreich an den britischen Kleinstkrediteanbieter Wonga. Anschließend reiste sie mit der Idee, selbst zu gründen, ein Jahr um die Welt. Als sie wieder Fuß gefasst hatte in Berlin, kam das FinLeap-Team um Jan Beckers mit dem Thema Inkasso auf sie zu. Für die Idee, das Forderungsmanagement digital zu verbessern, hat sie sich sofort begeistert. Dass hier noch immer nach tradierten Mustern verfahren wird, hatte sie als Geschäftsführerin auch aus Gläubigersicht gestört.
Nicht nur verschicken die klassischen Inkassos standardisierte Briefe mit Überweisungsträger – aus Sicht von Christine Kiefer gerade bei nicht beglichenen Onlinekäufen ein empfindlicher Bruch in der Kommunikation; einer aktuellen Studie der Verbraucherzentrale Bayern zufolge müssen sich Kunden immer wieder mit ungerechtfertigten Forderungen, intransparenten Gebühren und aggressiven Vorgehensweisen herumschlagen. Wer solche Drohgebärden erlebt, begleicht seine Rechnung nicht bloß widerwillig. Er verliert auch das Vertrauen in Produkt und Anbieter. Christine Kiefer will das ändern.
„Kaum jemand zahlt absichtlich nicht für eine Leistung, die er erhalten hat. Und meist hat er nicht nur ein Geldproblem, sondern befindet sich in einer allgemeinen Lebenskrise. Das ist eine Notsituation. Da kommt man nicht zum Ziel, indem man auch noch Druck aufbaut.“ Für die Lösung des Problems bringt Christine Kiefer ins Spiel, was sie schon immer fasziniert hat: die Verbindung aus mathematisch präzise durchgeführter Datenanalyse und künstlicher Intelligenz. Vernünftig und sicher angewendet ermöglicht die Kombination auf digitalem Wege per SMS oder E-Mail jeden Zahlungssäumigen individuell und wertschätzend anzusprechen und ihn mit passgenauen Lösungsvorschlägen bei der Begleichung seiner Außenstände zu unterstützen, online und zu transparenten vergleichsweise niedrigen Gebührensätzen.
Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung
Christine Kiefer ist überzeugt, dass sich das auch für die Gläubiger rechnet. „Die Kunden sind motiviert, ihren Rückstand so schnell wie möglich auszugleichen. Das senkt die Zahlungsausfälle. Und sie kommen gerne wieder. Das stärkt die Bindung zwischen Kunde und Anbieter.“ Dabei helfen Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung: Annahmen und Vorgehensweisen beruhen auf Forschungsergebnissen von Simply Rational, einer Ausgründung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.
Das Konzept hat weitere Investoren, darunter Business Angel und Family Offices, überzeugt. Seit März arbeiten erste Onlineshops mit Pair Finance zusammen. Selbst traditionelle Inkassounternehmen interessieren sich inzwischen für den wenig branchentypischen Ansatz. Christine Kiefer will für die Weiterentwicklung gezielt auch den Austausch mit Verbraucherzentralen und Schuldnerhilfen suchen. „Ich hoffe, dass wir da auf offene Ohren stoßen.“ Ein Inkasso mit Herz und programmiertem Verbraucherschutz, das trotz niedriger Gebührensätze Gewinn macht? Das klingt nach einer Vorstellung, die manchen aus der Branche nervös machen dürfte. Mit Gegenwind ist zu rechnen. Man könnte Christine Kiefer fragen, ob sie sich das wirklich antun will. Man kann es aber auch sein lassen. Die Antwort dürfte klar sein.
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