Collien Ulmen-Fernandes ist Moderatorin, Schauspielerin, Buchautorin und Kolumnistin für Erziehungsfragen – und geht nun in einer ZDF-Doku der Frage nach, warum schon kleine Jungen und Mädchen so sehr durch Geschlechterstereotype geprägt werden.
Schon Kinder denken wie kleine Konservative
Collien Ulmen-Fernandes wurde 1981 in Hamburg geboren und ist Schauspielerin (in „Jerks“ beispielsweise spielen sie und ihr Ehemann Christian Ulmen eine fiktive Version ihrer selbst), Moderatorin und Buchautorin. In der „Süddeutschen Zeitung“ beantwortet sie jede Woche Erziehungsfragen der Leser*innen. Für ZDFneo hat sie „No More Boys and Girls“ gedreht – in dem Sozialexperiment geht sie der Frage nach, wie sehr stereotype Geschlechterbilder bereits in den Köpfen von Siebenjährigen verankert sind. Am 22. November werden beide Folgen ab 20:15 Uhr auf ZDFneo ausgestrahlt.
Wir haben mit Collien darüber gesprochen, wie sich schon früh stereotype Rollenvorstellungen in Kinderköpfen festsetzen – und was sie und wir alle dagegen tun können.
Du hast ein Kinderbuch geschrieben, das sich mit klischeehaften Rollenbildern bei Mädchen und Jungen beschäftigt, für das ZDF hast du eine Doku zum Thema gemacht: Warum ist dir das Thema so wichtig?
„Mir ist sehr, sehr viel aufgefallen in diese Richtung. Es gab nicht den einen Schlüsselmoment, sondern sehr viele Momente, die dazu führten, dass es mir ein großes Anliegen war, mich nicht nur privat mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Also versuchte ich, meinen Verlag davon zu überzeugen, ein Kinderbuch zu dem Thema zu machen: eine Gendergeschichte mit Ottern. Es war nicht so, dass sie vor lauter Begeisterung von den Stühlen gekippt sind, aber immerhin ließen sie mich machen, nachdem ich sie von der Relevanz der Thematik überzeugen konnte (lacht). Mir war zum Beispiel aufgefallen, dass die Rollenbilder in den Büchern meiner Tochter – und genauso in Filmen und Serien für Kinder – extrem stereotyp sind, dagegen wollte ich anarbeiten.“
In einem früheren Interview hast du fast ein bisschen zynisch gesagt, das Thema deiner Doku sei den meisten Leuten wahrscheinlich „scheißegal“ – wie kommst du zu dieser Einschätzung? Warum ist das so vielen Eltern egal?
„Ja, das sagte ich. Das war aber auf das Buch bezogen. Grundsätzlich glaube ich, wenn man wirklich eine gesellschaftliche Veränderung möchte, ist es verdammt wichtig, die breite Masse anzusprechen. Ich finde, das ist uns mit der Doku im ZDF hervorragend gelungen. Wir setzen bei Null an. Die meisten Menschen haben das Thema überhaupt nicht bewusst auf dem Radar. Die wollen wir alle mit ins Boot holen. Wir kommen nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern wollen die Leute zum Nachdenken anregen: ,Guckt doch einfach mal, wie das bei euch ist‘. Wo mein Mann und ich uns zum Beispiel selbst ein bisschen erwischt fühlten: Wir haben unserer Tochter nie Sachen geschenkt, die sich mit einer Fernbedienung bedienen lassen. Dem Jungen schon. Viel. Das fiel uns auf, als wir eine TV-Doku sahen, in der es hieß, dass Mädchen weniger technische Sachen bekommen und deshalb weniger selbstverständlich damit aufwachsen.
Also fragten wir unsere Tochter, ob sie vielleicht auch mal einen Roboter haben möchte will, und sie so: Hurra, ein Roboter! Zum Geburtstag bekam sie einen, und da kam dann prompt die Bemerkung: ,Warum schenkt ihr ihr einen Roboter, sie liebt doch rosa?‘, als ob das etwas miteinander zu tun hätte. Unsere Tochter jedenfalls brachte den Roboter mit in den Kindergarten, und alle Mädchen aus der Gruppe wünschten sich danach auch einen. Man muss sich selbst hinterfragen, das haben wir versucht: Haben wir unsere Tochter anders behandelt als den Jungen? Man muss sich dieser Thematik überhaupt erst einmal bewusst werden, genau darum geht es mir: ein Bewusstsein dafür zu schaffen.“
Collien gratuliert einem Mädchen beim „Hau den Lukas“. Bild: ZDF/Martin Rottenkolber
In der Doku beschäftigt ihr euch auch mit der Frage, ob es denn nun angelegte Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen gibt oder Unterschiede ausschließlich durch gesellschaftliche Prägung entstehen?
„Es gibt natürlich sehr viele Studien zu diesem Thema. Es gibt diesen Versuch, in dem bei etwa eineinhalbjährigen Kindern die Kleidung getauscht wurde, also die Jungs ein Kleid anbekamen und die Mädchen blaue Hemden. Danach wurden Erwachsene gebeten, mit den Kindern zu spielen. Dem angeblichen Mädchen wurde ausschließlich ,Mädchenkram‘ wie Puppen und all das hingelegt, hinterher wurden die Erwachsenen gebeten, das Spielverhalten der Kinder zu analysieren, und da hieß es: ,Das Mädchen liebte rosa, und die Puppen auch‘, das war ja ein richtig typisches Mädchen’ und als der Moderator aufdeckte, dass das Mädchen eigentlich ein Junge ist, sind die Proband*innen aus allen Wolken gefallen, weil es in deren Wahrnehmung tatsächlich so war, dass das angebliche Mädchen sich von alleine die Puppen ausgesucht hatte.
Solche Experimente gibt es sehr viele. In einem anderen Versuch wurde einer Gruppe von Erwachsenen immer das gleiche Baby präsentiert. Mal wurde gesagt, es sei ein Mädchen, mal wurde gesagt, es sei ein Junge und das Verhalten wurde jedes Mal komplett anders analysiert; sagte man, das Baby sei ein Mädchen, wurde das Kind immer als sensibel beschrieben, während es, als das Baby als Junge vorgestellt wurde, hieß, man spüre schon leicht männlich aggressives Verhalten – das zeigt, wie stark die Annahme des Geschlechts beeinflusst, wie wir Kinder wahrnehmen.“
„Die Annahme des Geschlechts beeinflusst unheimlich stark, wie wir Kinder wahrnehmen“
Ich habe das Gefühl, das wird sogar immer schlimmer, vor allem wegen eines immer absurderen Gender-Marketings…wie siehst du das?
„Mir fällt auf, dass bei Kindern, die heute etwa zwischen fünf und sieben sind, die Rollenvorstellungen stereotyp sind, ich denke schon, dass es da einen Zusammenhang gibt. Der Trend des Gender-Marketings hat sich in den letzten zehn Jahren extrem intensiviert. Der Laden, in dem ich früher Spielzeug gekauft habe, war relativ bunt gemischt, Dinosaurier, Autos, Roboter, Puppen, ohne besondere Aufteilung. Mittlerweile ist es aber so, dass die meisten Spielzeuggeschäfte eine Jungen- und eine Mädchenabteilung eingeführt haben.
Ich war mit meiner Tochter mal in einem amerikanischen Spielwarenladen, da gab es eine Mädchen- und eine Jungenetage. In der Jungsetage gab es ein großes Regal zum Thema ,Electronic Learning‘, und eine Etage drunter in der Mädchenabteilung stand an gleicher Stelle das Regal ,Cook and Clean‘, mit kleinen Putz- und Kochgeräten, Kinder-Bügelbrettern, Babycare-Sets und dergleichen. Das sorgt natürlich dafür, dass wir eine Rolle rückwärts in die 1950er-Jahre machen – falls wir überhaupt je weiter waren, denn in der überwältigenden Mehrzahl der deutschen Familien sind bis heute vor allem die Frauen für den Haushalt zuständig. Wir sind nicht so weit, wie wir glauben.“
Was tust du selbst, um deinem Kind zu ermöglichen, relativ unvoreingenommen entscheiden zu können? Ich finde, bei Mädchen ist es zum einen besonders schlimm, der ganze Rosa-Kram, andererseits haben sie durch die feministische Bewegung eher die Möglichkeit, sich anders zu verhalten, Jungs unterliegen da meiner Ansicht nach noch größeren gesellschaftlichen Zwängen. Wie siehst du das?
„Das scheint tatsächlich so zu sein: Für die Jungen ist es noch wichtiger, ,ein richtiger Junge‘ zu sein, oder besser: das, was die Gesellschaft unter einem ,richtigen Jungen‘ versteht, als umgekehrt für Mädchen. Wir waren für die Sendung mit einem Kleiderständer in einer deutschen Fußgängerzone und haben T-Shirts verschenkt, jede*r durfte sich ein T-Shirt aussuchen; da kamen etwa zwei-bis vierjährige Jungs an und ich habe ihnen die T-Shirts gezeigt, da waren ganz klassische Sachen aus der Jungsabteilung dabei, auf denen also ein Skateboard oder ein Totenkopf zu sehen war, und auch T-Shirts, die wir selbst gemacht hatten, zum Beispiel ein blaues mit Blumen drauf. Und als die Jungen nach dem Blumen-Shirt griffen, rissen die Mütter es ihnen sofort aus der Hand: ,Nein, das ist nichts für dich, das ist ein Mädchen-Shirt.‘ Das durften wir leider nicht zeigen, weil die Mütter uns die Ausstrahlungsgenehmigung nicht gaben (lacht).“
„Für Jungen ist es so wichtig, ein ,richtiger Junge‘ zu sein – oder was die Gesellschaft darunter versteht“
Hast du die Erfahrung auch bei der Entstehung gemacht: dass in den Köpfen der Kinder stereotype Rollenbilder abgespeichert sind?
„Als wir mit unserer Schulklasse anfingen zu drehen, hab ich mich mit allen Kindern einmal kurz zusammengesetzt, um sie kennenzulernen, zu verstehen, wie sie ticken, wie sie die Welt sehen. Ich unterhielt mich mit einem Jungen, gegenüber saß ein Mädchen, das gerade Blumen malte, und der sagte ganz laut: ,Iiih, eine Blume. Ich bin ein richtiger Junge. Ich mag keine Blumen‘, das war für ihn Mädchenkram. Einige Tage später habe ich meiner Gruppe einen Floristen vorgestellt, und dieser Junge ist dem Floristen auf Schritt und Tritt gefolgt, wollte bei seiner Arbeit dabei sein, ihm die Blumen anreichen, war so fasziniert von diesem Thema, geradezu euphorisch. Man sah ganz deutlich: Er versuchte, ein ,richtiger‘ Junge zu sein – und in seiner Welt gehörten Blumen eben zu den Mädchensachen. Aber als der coole, vollbärtige Florist vor ihnen stand und mit großer Leidenschaft über Kränzeflechten gesprochen hat, war es auf einmal total okay, Blumen gut zu finden. Die Jungs waren Feuer und Flamme, weil sie gemerkt haben: ,Das ist OK so, Blumen können und dürfen auch eine Jungssache sein‘.“
Leider habe ich das Gefühl, dass eine gewissen Sensibilität für das Thema eher so ein Filter-Bubble-Ding ist, also womöglich Leute aus gewissen großtädtischen Milieus eher bewusst auf das Angebot von Vielfalt achten und keine Shirts mit blöden Sprüchen für Mädchen, etwa „I‘m too pretty to do Math“, kaufen, das sieht man ja auch an der Szene in der Einkaufsstraße. Ich frage mich, wie man das Bewusstsein für Vielfalt bei Eltern in der Breite fördern kann?
„Mit den Instrumenten, die wir jeweils zur Verfügung haben, ich nutze meine Instrumente: das ist dann zum Beispiel ein Kinderbuch zu dem Thema, und eine Doku, darüber spreche ich, damit die Leute darauf aufmerksam werden und sich das hoffentlich anschauen. Was jede*r für sich im Privaten tun kann, ist, im Bekanntenkreis über dieses Thema reden, in der Schule darüber reden, twittern, facebooken, instagramen. Je mehr Menschen sich bewusst damit auseinandersetzen, desto eher ändert sich auch gesellschaftlich etwas. Ich glaube, dass es gerade auch Aufgabe von uns Medienleuten ist, den Finger in die Wunde zu legen, und auf gewisse Themen aufmerksam zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass darüber irgendwann auch ein Umdenken stattfinden kann. Man muss auf jeden Fall dranbleiben.“
Wie habt ihr die Klasse ausgesucht, die du begleitest? Und gab es Ausnahmen, also Kinder, die nicht so stark stereotyp geprägt waren?
„Man kann schon sagen, dass die Ansichten aller Kinder im Großen und Ganzen in diese stereotype Richtung gingen. Das war manchmal schon fast lustig: Ein Junge berichtete, er wolle gern Astronaut oder Fußballer werden, auf meine Frage, ob Mädchen das auch können, sagte er, soweit er wisse, dürften Frauen inzwischen auch in den Weltraum, aber Fußballspielen könnten sie immer noch nicht.“
Stichwort Stereotype: In einem Interview hast du über dich selbst gesagt, du seist ja „so ein richtiges Mädchen-Mädchen“ – du meintest das rein optisch?
„Ja. Das war auf meinen Typ bezogen: Ich bin klein. Sehr klein, ich bin zierlich, habe lange Haare, ich sehe mädchenhaft aus, und diese ganze Branche, in der ich arbeite, funktioniert insgesamt sehr stereotyp. In Filmen wird sehr nach Typ besetzt. Ich kenne Schauspieler, die vernarbte Gesichter haben und folglich nur Gangsterrollen spielen. Also stereotyp nicht nur auf Frauen bezogen. Bei Moderator*innen ist es ähnlich: Einem grauhaarigen Mann wird eher eine Wissenschaftssendung angeboten als mir, mir werden gern Modeformate angeboten oder ähnliches. Ein Rollenmuster, das ich oft bei Moderator*innen beobachte: Mann steht vorne, moderiert eine Show, dann wird kurz vor der Werbepause kurz nach hinten in den Backstagebereich geschaltet, wo eine Frau in einem Glitzerkleid, eine Telefonnummer vorliest, freundlich lächelt und auf ein zu gewinnendes Auto verweist. Und gerade weil diese Branche so stereotyp funktioniert, freue ich mich natürlich, dass das ZDF mir eine Sendung angeboten hat, die sich mit dem Thema Rollenbilder befasst.“
Wie wurdest du selbst geprägt, was die Geschlechtsprägung durch Stereotype betrifft? Also ab wann hat es angefangen, dich zu nerven, dass es diese Schubladen gibt – erst als du selbst eine Tochter bekommen hast?
„Was mir zum Beispiel im Nachhinein aufgefallen ist: Mein Vater, der handwerklich sehr begabt ist, hat meiner Schwester und mir nie etwas beigebracht in diese Richtung. Und als ich dann zum ersten Mal mit einem Freund nach Hause kam, schenkte mein Vater ihm einen Werkzeugkoffer und erklärte ein paar Basics, für meinen Vater war klar, dass mein Freund für Reparaturarbeiten zuständig ist. Jahre später, als auch Christian seinen Werkzeugkoffer geschenkt bekommen hatte und sich null dafür interessierte, fragte ich mich, warum das eigentlich so läuft, ich fing dann irgendwann an, den Werkzeugkoffer in Betrieb zu nehmen, die Möbel auseinander- und zusammenzubauen, und merkte dass ich Spaß daran habe, und dachte dann: interessant, dass mir das nie so gezeigt wurde.“
Mehr bei EDITION F
#RedrawTheBalance: Warum Kinder glauben, manche Jobs könnten nur Männer machen. Weiterlesen
So werden Mädchen stark und selbstbewusst – 5 Tipps für die Erziehung. Weiterlesen
„Mädchen“ darf kein Schimpfwort sein. Weiterlesen