Unsere Community-Autorin Sandra hat vor kurzem ihren Vater verloren. Jetzt versucht sie, trotz aller Trauer die schönen Momente mit ihm in Erinnerungen zu behalten.
Ein Abschiedsbrief
Du bist an einem Mittwoch Nachmittag im Oktober gestorben. Du warst allein. Du hast unter diesem Auto gearbeitet und der Wagenheber gab plötzlich nach. Du warst sofort tot. Warum hast Du nicht an ein Leben nach dem Tod geglaubt? Warum lässt Du mich alleine? 34 Jahre hatte ich Dich. Danke dafür. Du warst mein Guide, mein Licht, mein Ratgeber und der Baum in allen meinen Welten.
Du hast mir alles gegeben, um jetzt auch ohne Dich weitermachen zu können. Und damit meine ich kein Geld. Du hast mir beigebracht, nur auf mich zu hören. Individuell zu sein. Ich zu sein. Es niemandem recht zu machen, wenn es für mich nicht passt. Wenn ich kein Ja zu etwas habe. Du hast mich dazu erzogen, unabhängig zu sein. Du hast zu mir gesagt, dass meine Erfahrungen mich eines Tages reich machen werden. Dass ich jede Erfahrung schätzen soll. Du hast gesagt, keine Erfahrung lässt sich in Geld messen.
„Ich bin so dankbar für das, was Du mir gegeben und gezeigt hast.“
Ich vermisse Dich so sehr. Doch ich weiß, dass wir uns wiedersehen. Und dennoch hoffe ich, dass es noch lange bis dahin ist, denn mein Leben soll länger dauern, länger als 58 Jahre. Es ist so traurig und so schrecklich, dass Du nicht mehr bist. Doch ich bin dankbar für das, was Du mir gegeben und gezeigt hast. Auch für das, was Du blöd fandest. Für die Momente, in denen wir so ehrlich zueinander waren und für die, in denen wir aneinander gerieten. Nie hast mich belogen. Nur einiges für Dich behalten. Bereits als Kind warst Du ein Geheimnis für mich und die Aura des Unergründlichen umgab Dich stets. Manchmal habe ich auf meine Fragen keine Antwort bekommen, einfach weil Du keine Lust hattest, eine zu geben. So warst Du. Was Du nicht wolltest, das hast Du nicht gemacht. Egal, wer etwas von Dir wollte. Niemand konnte Dich emotional erpressen oder Dir Mist andrehen. Niemand konnte Dich in die Enge treiben oder Dich verführen. Du warst immer bei Dir. Und jetzt bist Du für immer bei mir.
„Es mag mir geschehen, was will – ich verliere nie die Gewissheit, dass hinter mir Arme geöffnet sind, um mich aufzunehmen“
Lou Andreas-Salomé
Ich könnte mich jetzt für ein Opfer des Schicksals halten. Ich könnte untätig herumsitzen oder Tabletten nehmen. Ich könnte aufhören zu arbeiten und den ganzen Tag aus dem Fenster starren. Doch das bin nicht ich. Ich bin eine Macherin, dem Himmel zugewandt, ich treffe Entscheidungen und gebe die Richtung an.
Ich trauere sehr, doch gleichzeitig bleibe ich in Bewegung. Ich bin das, was man widerstandsfähig nennt. Das hattest Du schon früh erkannt. Es klingt fast skurril, doch Du sagtest einmal, es ein Wunder, dass ich so normal geworden sei bei dem was ich bereits alles erlebt habe. Du sagtest, es gehe immer weiter. Und dass es immer Hoffnung gibt. Und das es selbst, wenn es keine Hoffnung mehr gibt, noch Hoffnung gibt. Das immer alles gut wird. Und ja, das wird es. Auch jetzt. Und später.
„Schatten in der Flamme.-
Die Flamme ist sich selbst nicht so hell als den Andern, denen sie leuchtet.t
So auch der Weise.“s
Friedrich Nietzsche
Danke, dass Du mein Dad warst. Mein Dad bist. Immer sein wirst. Danke, dass Du der Zeit voraus warst. Du hast Dinge kommen sehen, die jetzt erst sind. Und deshalb weiß ich, was noch kommen wird. Du hast mich auf die Zukunft gut vorbereitet. Wissen ist Macht. Du hast mir immer gesagt, was Du dachtest und es war Dir egal, ob mir es gefiel. Ein Nein ist ein Nein, ein Ja ist ein Ja. Unbeirrbar, unausweichlich und nach vorne. So warst Du. Optimistisch und gut gelaunt, lustig und locker. Launisch konntest du sein, oh ja. Dann warst Du muffelig und alles hat Dich genervt, nichts konnte man Dir recht machen. Doch als Du gestorben bist warst Du glücklich. Glücklich mit Dir, glücklich mit mir.
Vielleicht müssen wir gehen, wenn wir wirklich glücklich sind. Wenn wir nicht mehr auf der Suche sind. Wenn wir am meisten bei uns sind. Will ich jetzt schnell glücklich sein, um zu Dir zu kommen? Oder soll das ruhig noch etwas dauern, damit ich noch wertvolle Dinge tue? Ich denke letzteres ist in Ordnung. Es brauchen mich noch so viele Menschen. So viele Sätze will ich noch schreiben, so viele Dinge noch sagen. So viele Plätze besuchen, so viele Menschen lieben und umarmen. So lange, bis ich glücklich bin. So lange, bis Du mich abholst und wir uns wiedersehen.
Dieser Text ist zuerst auf Fashionsandrina erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.
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