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Zukunft des Journalismus: 6 Thesen, wie in Medienhäusern Innovation gelingt

Viel diskutiert. Oft wenig auf den Punkt. Und immer im Spagat zwischen Qualität und Reichweite. Zwischen Klicks, Headlines und guter Recherche mit Hintergrund und Tiefgang. So ist der Diskurs rund um die Zukunft des Journalismus. Grund genug, um wieder einmal zu überlegen: Wie steht es um ihn und was ist zu erwarten.

In einem Punkt sind der FAZ-Onlinechef Matthias Müller von Blumencron und ich uns einig: Die Zeiten für digitalen Journalismus waren selten besser und die Zukunft sieht für das ein oder andere Medium durchaus rosig aus. Allerdings waren die Thesen, die von Blumencron Anfang Januar auf Horizont.net veröffentlichte, vage und aus der traditionellen Brille eines großen Hauses heraus – Zeit also, meine 6 Thesen zur Zukunft des Journalismus aus dem letzten Jahr zu überdenken und zu erweitern.

1. Eine starke Medienmarke ist wichtiger als Reichweite

In 2015 schrieb ich: Die Reichweite ist tot. Tatsächlich muss man als Medienmacher einsehen, dass die Reichweite nicht tot ist, wohl aber anders gemessen wird – gerade, wenn es auch um Relevanz und Qualität geht. Denn das Wachstum in Unique Usern ist wunderbar, aber immer weniger wert. Denn „Headline-Journalismus“, der einem den Klick über Facebook sichert, dabei aber nur Leser mit einer Verweildauer von 30 Sekunden beschert, ist wenig wert. Wiedersehen ausgeschlossen. Es sei denn, die nächste Headline erzeugt das gleiche Phänomen. Treue Leser gewinnt man so nicht.

Was gelingen muss, ist, echte Medienmarken zu etablieren, damit der direkte Traffic zunimmt, Identifikation und Auseinandersetzung mit den Inhalten stattfinden und der Diskurs über Themen neue Fahrt aufnimmt. Dass dies nicht über Nacht gelingt, dürfte jedem klar sein. Umso verwunderlicher, wenn von Blumencron das eigene digitale Wachstum feiert, aber dabei außer acht lässt, dass der teilweise Transfer der einstigen aber nicht mehr abonnierenden Printleser ins Netz vollzogen wurde. Zudem genießt die FAZ den Vorsprung einer Marke, die es bereits seit 1949 gibt. Mit finanziell großem Polster aus den guten Jahren. Dabei wird zwar selbst fast in allen Bereichen der FAZ gekürzt, gespart und gekündigt, aber dennoch fast höhnisch angemerkt, dass es seit 20 Jahren keine relevanten journalistischen Projekte in Deutschland gegeben hätte. Ohnehin eine falsche Analyse: Ich denke an The European, an Substanz, an Journelles, ans Missy Magazin, an Krautreporter, an Gründerszene, an Blendle aus den Niederlanden, an EDITION F und viele weitere. Die meisten Analysen zum Journalismus lassen überdies außer acht, dass auf YouTube Medienmarken entstehen – oft an Personen gebunden – die in Sachen Reichweite und Identifikation die meisten anderen alt aussehen lassen.

Jedes dieser journalistischen Projekte hat bisher mehr gewagt, als die FAZ in den letzen Jahren. Ja, Mut zahlt sich nicht immer aus – zumindest mit Blick auf Profitabilität. Aber Sicherheit eben auch nicht – bauen die großen Medienkonzerne doch gerade drastisch um, stellen Medien ein und verkleinern Auflagen, um in neue digitale Formate oder ganz und gar andere Geschäftsmodelle zu investieren.

Wer Relevanz und eine starke Reichweite möchte, muss eine Medienmarke schaffen, die Nutzer lieben.

2. Innovation gelingt durch Mut und Zuhören

Ohne Mut keine Innovation. Wer Nutzer überzeugen und ein klares Markenbild schaffen möchte, muss sich etwas trauen. Denn letztlich greifen im Journalismus die gleichen Marktmechanismen wie anderswo – Tesla ist das Sandkorn im Getriebe der Automobilindustrie, Amazon das der Einzelhändler. Die Innovationstreiber, die nicht nur selbst machen, sondern auch Wettbewerber anspornen, kreativ zu werden, punkten bei den Nutzern.

Das heißt für den Journalismus: den Blick weiten. 2015 wurden insgesamt fünf journalistische Jugendprojekte der großen Medien gegründet – Bento (Spiegel Online), Zett (Zeit Online), BYou (Bild) und Orange (Handelsblatt). Jetzt.de (Süddeutsche Zeitung)  wurde gerelauncht. Und weitere Medien für Junge sind in den Startlöchern – auch deutsche Ableger von US-Medien. Man könnte meinen, ein Hauch von Innovation sei durch die Verlagshäuser der Nation geweht. Nur leider der gleiche. Und die Frage, kann eine junge Ablegermarken neue Zielgruppen für die alte Stammmarke generieren, ist erlaubt. Und auch: Kann diese Jugendmarke wirklich ein Sandkorn sein?

Eine wichtige Komponente, um nachhaltig Innovation zu fördern, ist das Zuhören. Nutzer sind heute mehr denn je bereit, Feedback zu geben, früh neue Projekte, Tools und Features zu testen und dabei sind sie oftmals früher präsent auf neuen Plattformen, als die Medien selbst – also warum diesen Pool an Innovation und Wissen nicht nutzen und verstehen lernen, wo Nutzer sind, was sie wollen und was sie an der eigenen Marke wirklich schätzen? Denn diese DNA ist Gold wert. Und vielleicht sogar Magnet für junge Zielgruppen.

3. US-Medien zu kopieren ist der falsche Weg

Eine weitere These hat von Blumencron nicht ausgelassen: den Blick über den großen Teich. Und natürlich auf die Traditionsmarken. Dass sich das nur bedingt lohnt, zeigen die Entwicklungen der letzen Jahre. Natürlich stehen NY Times oder die Washington Post gut da, aber schaut man sich die inzwischen ehemaligen Underdogs an – Refinery29, Upworthy, NowThis oder AJ Plus – dann passieren die spannenden Dinge hier. Home und Websites aufgelöst und nur noch in sozialen Netzwerken vertreten. Multichannel-Plattformen und Community-Elemente. Nah dran und live. Jedes dieser Formate hat sich getraut, den klassischen Wegen des Journalismus zu trotzen und Formate für die individuelle Zielgruppe zu finden, die authentisch sind und so auf die Marke einzahlen.

Im Grunde ist Authentizität das Stichwort – oder anders: Wissen wollen, was die Zielgruppe bewegt. Natürlich können wir nach Amerika schauen, aber wir müssen auch verstehen, dass Deutschland anders funktioniert, dass Leser andere Themen, Bedürfnisse haben und wir die Innovation eben hier auch finden können. Verächtlich schaut man immer wieder auf die Copy Cats der amerikanischen Marken – und doch zeigt die Mentalität des ewigen Schulterblicks, wenn’s funktioniert, dann wären wir alle gern ein kleines amerikanisches Copy Cat. Nur nötig ist es wirklich nicht.

4. Technologie schafft neue Vielfalt, bedeutet aber keine Zeitersparnis

„Was wir früher in einer Woche programmieren mussten, können wir bald in einer halben Stunde kompilieren. Entscheidend ist die Qualität“, so von Blumencron. Ich komme nicht umhin, „aha“ zu denken. Denn von Blumencron scheint davon auszugehen, dass neue digitale Formate alles nicht nur bunter, vielfältiger und flexibler machen, sondern dass sich hinter gut produzierten Videos oder Snapchat-Channels auch eine Zeitersparnis durch Technologiefortschritt verbirgt. Multimedia. Top Qualität. Und das alles in 30 Minuten. So ist es nicht.

Gute Recherche, hintergründige Reportagen, Analysen oder reflektierte Meinungsstücke – die Dinge, die für gute Qualität und Anspruch stehen, lassen sich kaum durch WordPress-Templates, Website-Baukästen oder durch Bewegtbild-Apps wie Wibbitz ersetzen. Individueller Journalismus, der nicht im Mainstream des überall Gelesenen oder Gesehenen mitschwimmt, braucht kluge Köpfe. Und er braucht Zeit. Wer an Effizienz denkt sollte womöglich eher über weniger Content oder die Aussteuerung für bestimmte Zielgruppen nachdenken – mit sinnvollen Inhalten, die zur Marke passen, aber die einen USP haben, der über Effizienz und großes Multimedia-Spektakel als Selbstzweck hinausreicht.

5. Content ist King – gerade wenn’s ums Geld verdienen geht

So einfach ist es natürlich nicht: Man schreibt einfach gute Artikel und der Rest kommt von selbst. Stichwort: Paid Content. Hierzulande ist das Modell noch wenig geübt und dennoch führt kein Weg an guten Inhalten vorbei. Egal ob Zalando, Audi oder Einhorn – Marken machen mit Inhalten auf sich aufmerksam. Sie scheinen also der Schlüssel zum Kunden zu sein. Ein Schlüssel, den Medien seit Jahren in Händen halten. Und dennoch scheint die Monetarisierung schwierig.

Wie von Blumencron schon schrieb: „Wir müssen lernen.“ Nämlich Geld anders zu verdienen. Werbung hat heute andere Gesichter – die lukrativ sind, kreativer und seltener störend von Nutzern empfunden werden. Aber hier ist noch lange nicht Schluss. Jede Zielgruppe hat Bedürfnisse, die sich nahtlos in eine Markenstrategie integrieren lassen – denn die Marken haben treue Nutzer und Vertrauen auf ihrer Seite. Das wohl größte Geschenk, wenn es darum geht, Geld zu verdienen. Jetzt gilt es nur noch: Bedürfnisse erkennen, Produkte entwickeln und verkaufen.

6. Die Nutzer machen das Medium besser

Wir lieben unsere Nutzer. Nicht nur, weil wir immer mehr haben, sondern vor allem, weil sie unsere größte Inspiration, unser stärkster Antrieb und unsere liebsten Kritiker sind. Sie fordern uns. Täglich.

Deshalb haben wir uns entschlossen, Nutzer teilhaben zu lassen an EDITION F. Das bedeutet, ihnen regelmäßig einen Platz am Redaktionstisch zu geben und ihre Stimme bei der Site-Kritik zu hören. Das bedeutet auch, sie selbst zu Wort kommen zu lassen und ihre Geschichten zu teilen – Geschichten, die wir als Journalisten so gar nicht schreiben könnten, weil etwas dazu kommt, dass von außen nicht möglich ist einzufangen. Persönliche und authentische Stimmen, die ehrlich über ihre Erfahrungen schreiben, die bewegen und anregen, zu diskutieren. Unser Stichwort: User-Generated-Content.

Aber wir treffen unsere Nutzer auch regelmäßig: bei Community-Events oder digital bei Webinaren, wo der Diskurs so vielfältig und aktiv ist, dass nach jedem Treffen neue Ideen entstehen und wachsen. Im letzten Jahr schrieb ich: Nutzer sind Programmdirektoren – und vielleicht geht das zu weit. Aber sie sind Macher. Sie schalten sich ein. Und sie geben Impulse, die uns als Medienmacher, als Gründer, Herausgeber, Produktentwickler oder Chefredakateure ins Denken bringen sollten. Mein Schlusswort also: Lernt eure Zielgruppe kennen, nutzt ihre Ideen, Talente und Meinungen. Und macht was draus.

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