In meiner Schulzeit gab es einen Moment, der den Alltag aus den Angeln hob. Es war Anfang Februar. Ich erinnere mich noch genau an diesen Morgen. An das Licht im Klassenzimmer. An die entrückten Gesichter meiner Mitschüler*innen. Ich ging in die zehnte Klasse. Wir waren drei Mädchen und 27 Jungs, der naturwissenschaftliche Zweig.
Mein Mitschüler Jo war für viele Lehrerinnen too much. Er war laut und lustig, er hatte viele Ideen, deren Ziel nicht unbedingt die Erfüllung des Lehrplans war. Er liebte die Musik, er tanzte, kümmerte sich um seine Freund*innen, war hochintelligent und ehrgeizig, hatte eine Lese- und Rechtschreibschwäche, die ihn belastete – und er stand unter Druck. Seine Noten waren nicht besonders gut. Obwohl er viel lernte und sich für alle möglichen Themen interessierte.
Einmal machten wir eine Klassenfahrt an die Nordsee. Bei einer Wattwanderung im Friesennerz sprachen wir darüber, was wir mal werden möchten. Jo erzählte von der Musik, vielleicht sei er irgendwann mal Technoproduzent oder Tänzer. Unsere Lehrerin machte nach der Wanderung ein Klassenfoto. Das hängt heute bei mir an der Wand. Auf dem Bild lachen wir alle. Auch Jo lacht.
Seine Art war nicht kompatibel mit dem, was die Schule von ihm verlangte. Dabei wollte er das unbedingt. Das merkte man auch dem Brief an, der an diesem entscheidenden Morgen Anfang Februar auf den Tischen lag – er hatte ihn 31-mal kopiert, für uns und für die Klassenlehrerin. Die Zettel zeigten mit der Schrift nach unten. Der Brief begann mit „Hey, Leute”. Es waren nur ein paar Zeilen. Er schrieb, wie froh er war, uns kennengelernt zu haben. Und: Passt auf euch auf. Lasst euch nichts einreden. Findet heraus, was euch Spaß macht. Über sich selbst schrieb er nichts. Außer dass er keine Kraft mehr habe, und sehr viel mehr zwischen den Zeilen. Sein Platz blieb leer. –
„Studien beweisen, dass Noten ungerecht, beliebig, nicht vergleichbar sind.“
Das passierte vor über zwanzig Jahren. Die Angst in und vor der Schule ist aber nach wie vor präsent. Schon Grundschüler*innen haben ein erhöhtes Stresslevel und spätestens mit dem Eintritt in die weiterführenden Schulen steigt der Leistungsdruck immens an. Für Schulpsycholog*innen ist das ein alltägliches Thema. Etwa 3,5 Prozent der rund 11 Millionen Schulkinder in Deutschland sind von Schulangst und Schulphobie betroffen – Jungen etwas häufiger als Mädchen (Quelle: DAK-Kinder- und Jugendreport 2018).
Ein großes Problem und Auslöser für den Leistungsdruck in der Schule sind die Noten. Ziffernnoten von 1 bis 6 gehören zur Schule wie frühes Aufstehen, Hausaufgaben und Mathetests. Trotzdem stehen sie seit Jahren in der Kritik. Studien beweisen, dass sie ungerecht, beliebig, nicht vergleichbar sind. Noten bekamen erst mit der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert eine größere Bedeutung. Um 1850 etablierte sich in Preußen eine dreistufige Bewertungsskala, die auf vier und später fünf Stufen erweitert wurde. Die „Sechs” wurde im „Dritten Reich” (1938) eingeführt – das hatte vermutlich statistische Gründe: Bei einer fünfstufigen Skala tendieren Lehrer*innen oft zur mittleren Note. Bei sechs Ziffern gibt es diese mittlere Note nicht.
„Ein neunjähriges Kind kommt mit einem ,gering ausgeprägten sozialen Verhalten‘ nach Hause, abgesegnet von der Direktorin persönlich.“
Vor einigen Wochen gab es Zwischenzeugnisse in Berlin – und dazu bei vielen die Angst vor schlechten Noten. Ein Freund meines Sohnes geht in die vierte Klasse. Er bekam zwei Zeugnisse. Ein reguläres Zeugnis mit Noten. Und ein Sozialzeugnis.
Bewertet werden auf diesem Sozialzeugnis sieben Punkte: Lern- und Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Teamfähigkeit, Mitarbeit im Unterricht und Soziales Verhalten. Die Bewertungssprache reicht von „Sehr ausgeprägt” bis „Gering ausgeprägt”. Bei diesem Kind stellte die bewertende Lehrerin viermal ein „Teilweise ausgeprägt” fest, neben „Soziales Verhalten” ist sogar „Gering ausgeprägt” angekreuzt. Und dieses Zeugnis, das sprachlich ebenfalls irgendwie an ganz alte Zeiten erinnert, wird nicht etwa den Eltern übergeben, sondern dem Kind. Ein neunjähriges Kind kommt also mit einem „gering ausgeprägten sozialen Verhalten” nach Hause, abgesegnet von der Direktorin persönlich. Wie geht ein Kind damit um, wenn es sensibel ist, wenn es (noch) keine Teflonschicht hat, wenn es sich eine Erklärung abseits dieses Bewertungspapiers wünscht?
Schule kann krank machen
Ich sage nicht, dass Schule grundsätzlich krank macht. Aber Schule kann Kinder und Jugendliche krank machen. „In der Schule gibt es oft enormen Druck.” – Gereon Schädler, Chefarzt für Neuropädiatrie am Klinikum Josefinum in Augsburg, spricht von ,krassen Leistungsanforderungen’ für Schülerinnen und Lehrer*innen zugleich. „Wenn einem Kind Bewältigungsstrategien für stressige Situationen und Misserfolge fehlen, kann das die Schulangst begünstigen.” (Quelle: Süddeutsche Zeitung). Extrem verstärkt wurden diese Leistungs- und Versagensängste noch durch die Corona-Jahre mit Lockdowns und Isolation.
„Die 300 Euro Schulgeld werden nicht etwa für ein neues Konzept gezahlt, sondern dafür, dass das Gebäude renoviert ist, dass Toiletten funktionieren und Tablets für jede*n Schüler*in zur Verfügung stehen. – Bildung für alle sieht anders aus.“
Hinzu kommt schließlich, dass allein die Zustände, in denen sich Schulhäuser in Deutschland befinden, oftmals unzumutbar sind. Eine Mutter in Berlin muss für ihren Sohn nun eine erweiterte Schule suchen, er habe die Empfehlung fürs Gymnasium um 0,3 Punkte verpasst. Und das sei an sich auch kein Problem, in Berlin aber gleichbedeutend mit einem Fallen durchs soziale Netz. Sie überlege nun, ob es eine private Schule wird: die 300 Euro (aufwärts) Schulgeld werden dort nicht etwa für ein neues Konzept gezahlt, sondern dafür, dass das Gebäude renoviert ist, dass Toiletten funktionieren, dass das Dach der Turnhalle dicht ist und Tablets für jede*n Schüler*in zur Verfügung stehen. – Bildung für alle sieht anders aus.
Bildung für alle
Der Bildungsgipfel am 14. März müsse ein Ausrufezeichen setzen und klarmachen, dass nur ein erfolgreicheres Zusammenwirken für bessere und chancengerechte Bildung die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sichere, sagte der Vorsitzende des Bildungsausschusses des Bundestages, Kai Gehring, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.
Bitte: Macht etwas draus! Und bezieht Akteur*innen – auch und gerade die Schüler*innen – in eure Arbeitsgruppen mit ein! Denn: Wir brauchen eine gute Schule für ALLE! Eine staatliche Schule, die Kinder und Jugendliche ernst nimmt, die für sie ein sicherer Ort ist – und kein Angstraum.
Ich muss noch oft an Jo denken. Er hatte viele Ideen, er wäre ein guter Musikproduzent geworden. Oder ein Tänzer. Stattdessen hat er aufgegeben, weil die Schule einen Plan für ihn hatte, der nicht sein eigener war. Der Druck war für ihn zu groß. Dabei könnte das alles auch anders gehen.
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